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Das Kind Der Krieg Der Tod

In Leipzig am 07. Februar 1940 geboren, verbrachte ich dort die ersten beiden Lebensjahre mit meiner Mutter und dem Kindermädchen Else in einer Mietwohnung am Wangerooger Weg 3. Mein Vater war im Krieg – wie fast alle Männer. 1942 wurden die Bombenangriffe auf die Stadt immer heftiger, sodass meine Mutter sich entschloss, diese Wohnung zu verlassen und zurück in ihren früheren Wohnort Rehau zu gehen, zu ihren Eltern. Man nannte dies damals Evakuierung.

Ob dieses Portrait von mir noch in Leipzig oder schon in Rehau angefertigt wurde, ist unbekannt. Die Künstlerin, Irene Born, war mit der Schwester Elisabeth (“Lis”) meiner Mutter befreundet. Tante Lis machte damals eine Schreinerlehre in Rehau und lebte deshalb ebenfalls in der Wohnung ihrer Eltern.

Jürgen vom Scheidt – etwa zweijährig (Künstlerin: Irene Born 1942)

Was die Datierung dieses Bildes angeht, so gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Zum einem mein zweiter Geburtstag am 07. Februar 1942 – oder vielleicht als Geschenk der Schwester Lis Hertel an meine Mutter Marie vom Scheidt, geb. Hertel, zu deren 28. Geburtstag am 19. Februar 1942.

Aufgewachsen im Matriarchat
Warum ich dieses idyllische Bild hier präsentiere? Weil es so etwas wie die friedliche Oberfläche von etwas völlig anderem darstellen. 1942 war der Zweite Weltkrieg in vollem Gange, angezettelt von Diktator Adolf Hitler und seinen nationalsozialistischen Mörderbanden. Ich bin in Rehau aufgewachsen in einem Haus, in dem sieben Frauen lebten und das Leben am Laufen hielten: Im Ersten Stockwerk meine Mutter Marie, deren Schwester Elisabeth, beider gemeinsame Mutter Betty Hertel (geb. Kropf). Im zweiten Stock die Frau Annemie von Onkel Karl (dem Bruder meiner Mutter und von Tante Lis) und Annemies Mutter, die “Omi Unglaub”. Unten im Hauseingang hatte das Dienstmädchen Else ihr Zimmer und ab und zu kam ein Kindermädchen (?), das mich spazierenfuhr.  Und dann lebte im Erdgeschoss. neben dem Architekturbüro des Großvaters, noch die Frau Funke, ähnlich alt wie Großmutter.  Ich liebte sie sehr und wollte immer bei ihr sein, rief “Unke, Unke”, wenn ich zu ihr wollte – einmal zu schnell, denn ich stolperte und stürzte kopfüber die Treppe aus hellgrauem Granit hinunter – hat meinem biegsamen Kinderkörper und meinem Kopf aber wohl nichts geschadet. Ich habe also schon sehr früh das “Fallen” gelernt und konnte da als Student dann im Judotraining bei den Fallübungen von Judoka Aigner gut anknüpfen – was mir noch später bei diversen Stürzen mit dem Fahrrad sehr geholfen hat – zuletzt vor zwei Monaten, da war ich schon achtzig – aber das Fallen kann ich offenbar immer noch recht geschickt…

<p>Und wo waren all die Männer? Natürlich waren sie “im Krieg” zu jener Zeit – oder sollte ich besser schreiben: “unnatürlich”? Mein Vater, Onkel Karl und sogar mein Großvater (der schon im Ersten Weltkrieg in der größten Scheiße gekämpft hatte: in Douaumont bei Verdun) waren irgendwo dort draußen  “an der Front”. Mein Vater kämpfte damals vermutlich in Holland, Onkel Karl und Großvater in der Ukraine.
WAS HATTEN DIE DEUTSCHEN SOLDATEN DORT ZU SUCHEN?!

Mein Großvater Karl Hertel, Jahrgang 1880, meldete sich als aktiver Offizier im Majorsrang 1941/42 freiwillig erneut zum “Dienst an der Waffe”. Er mochte diesen “Anstreicher” nicht, diesen Gefreiten Adolf Hitler (im Gegensatz zu meinem Vater, der als junger Mann ein “glühender Nazi” gewesen ist). Aber er war loyaler Bürger. Und er war
° zum einen lieber Soldat als Architekt und er war als Offizier der Reserve und als Mitglied des deutschnationalen Stahlhelm ein echter Untertan, der tat, was man ihm befahl;
° und zum anderen ertrug er nicht das schreckliche Sterben seiner todkranken Frau Betty, die an Magen, Brust- und Kehlkopfkrebs litt .
Dann schon lieber das Sterben an der russisch-ukrainischen Front (wie mir Tante Lis Jahrzehnte später einmal als den wahren, tieferen Grund seiner Teilnahme an diesem zweiten Weltkrieg plausibel machte).

<Großvater in der Ukraine>

Seltsam: Der Großvater läuft vor dem Sterben seiner Frau davon – der Enkel (ich) muss das miterleben. Ich habe an Sterben und Tod meiner Großmutter keinerlei Erinnerungen. Sie starb Ende 1942 qualvoll, weil es kaum schmerzlindernde Medikamente gab (es war ja Krieg mit Mangelwirtschaft), gepflegt von ihren Töchtern. In ihrem Schlafzimmer in der selben Wohnung, wo ich im Zimmer nebenan spielte.<br>An Sylvester 1942 starb noch jemand in diesem Haus: mein Cousin Heinz Hertel, mein bester Freund “Heinzele”. Er starb, weil die Frauen irgendwoher echten Bohnenkaffee aufgetrieben hatten und den zum Jahreswechsel unbedingt trinken wollten. Heinzele wollte auch “Kaffee” und bekam ihn. Eine rätselhafte Reaktion seines Blutes reagierte tödlich auf das Coffein – er starb in den nächsten Tagen*.

* Makabre Auswirkung: Wie Onkel Karl, Heinzeles Vater, mir viele Jahre später einmal erzählte, hat ihm der Tod des Ersdtgeborenen damals vermutlich das Leben gerettet. Er bekam nämlich zur Beerdigung Heimaturlaub – als er in die Ukraine zu seinem Batallion zurückkehrte, war dieses vom russischen Gegner fast völlig vernichtet worden.

Ja, der Tod war sehr präsent im Haus Bahnhofstraße 15 in Rehau in meinem zweiten Lebensjahr. Indirekt war er zudem sicher ständig gegenwärtig in der Sorge und den Ängsten der Frauen um ihre Männer draußen irgendwo in Europa im Krieg.

Habe ich die Bombenangriffe in Leipzig miterlebt? Wenn später, in den 50er Jahren, am Mittwoch um 12:00 Probealarm war, fuhr mir das immer durch und durch. Ich habe den Fliegeralarm während des Krieges sicher auch in Rehau immer wieder mit erlebt. Dort wurde nie bombardiert – aber die Bomberschwärme der Alliierten flogen hoch oben am Himmel über den Ort – Richtung Berlin, Dresden. Leipzig – oder nach München.

Rehau war den ganzen Krieg über eine Idylle. Wäre nicht im Mai 1945 noch im letzten Augenblick von einem amerikanischen Panzer die Roth´sche Holzwollfabrik am Hofer Berg in Brand geschossen worden – Rehau hätte keinen einzigen Kratzer in diesem Krieg abbekommen.
Aber in meinen Träumen jener Kriegstage in Rehau muss ich mitten drin gewesen sein in fdiesem Inferno. Meine Mutter ging gerne ins Kino, in “Lichtspieltheater” vom Otto Strobel. Doch einmal  musste man sie mitten aus der Vorstellung nachhause holen, weil ich vom Kindermädchen nicht zu beruhigen war und nicht aufzuwecken aus einem Albtraum, in dem ich von brennenden Häusern und von den “Fiechern” phantasierte – meinem Kinderwort für die Flieger, die ihre schreckliche Fracht oben am Nachthimmel transportierten.

(work in progress)

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Anführer sein

Als Seminarleiter bin ich naturgemäß das, was man als “Anführer” einer Gruppe bezeichnet. Was einen guten Anführer auszeichnet, habe ich im Sommersemester 1962 als Student bei Frau Dr. Neuwirth in der Vorlesung “Methoden der empirischen Sozialforschung” gelernt. (Ja, ich habe mein Archiv gut in Schuss.) Es stand in dem Buch The Human Group von George C. Homans.
Der Beitrag, der mich darin, vor allem beeindruckte, handelte von einer Jugendgang und wie deren Anführer seinen Status bekam und erhielt: Wenn die Gruppe zum Kegelspielen ging, war er nicht etwa der beste Kegler, und schon gar nicht immer, sondern er spielte im Mittelfeld – nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht. Es war diese Kontinuität, bei der er den besten Keglern der Gruppe den Vorrang ließ – aber doch seine Kompetenz zeigte und das über einen längeren Zeitraum. Solche Leute sind in Kleingruppen beliebt, weil sie zwar selbstbewusst sind und sich etwas trauen (“gute Kegler”) – aber sich nicht ständig egomanisch vordrängeln (wie ein gewisser amerikanischer Präsident, der endlich abgewählt wurde und dessen Namen ich nicht mehr nennen will).

Als ich diese empirische Studie in diesem Buch las, wurde mir etwas bewusst, was ich selbst als Kind falsch gemacht habe. Wenn es raus in den Wald zum Spielen ging, wollte ich immer der Anführer sein. Die Wünsche der anderen in der Gruppe waren mir egal – war ich doch “der Enkel vom Architekt Hertel” mit entsprechendem Selbst- und Elitenbewusstsein. Das kam bei den anderen Kindern nicht immer gut an. Darüber gab es sogar echten Streit und teils heftige körperliche Auseinandersetzungen. Im Verlauf einer dieser Rangeleien haute ich etwa 1950 (also zehnjährig) wutentbrannt meinem aktuellen Rivalen (Dieter Wiltscheck, ein Flüchtlingskind) meine martialische Anführer-Keule über den Schädel – und rannte davon. Dieter musste einige Tage das Bett hüten, mit einer mords Beule am Kopf und entsprechenden Schmerzen. Und ich musste bei der Flüchtlingshalbfamilie antreten (Mutter und zwei Halbwaisen, der Vater im Krieg gefallen) und mit einem großen geräucherten Schinken und verlegen gemurmelten Entschuldigungen Abbitte leisten. Die Entschuldigung wurde mir gewährt – was sonst sollte eine Flüchtlingsfamilie in einem Ein-Zimmer-Notquartier über dem Rehauer Lichtspieltheater sonst tun.

Als Trommler voranmarschieren und den Ton angeben – das ist es (Privat 1943 – J v Sch dreijährig)

Ein andermal ging es ähnlich brutal zur Sache, etwa zwei Jahre später. Ein Nachbarjunge (Wolfgang Sack, ein Jahr älter als ich) machte mir wieder den “Anführer” bei irgendeinem der vielen Spiele unter Nachbarkindern streitig. Wutentbrannt (den Jähzorn habe ich astrein von meinem Vater geerbt oder abgeguckt) packte ich ihn und rieb seinen Kopf an einer einem rauhverputzten Mäuerchen neben der Städtischen Sparkasse rauf und runter, bis seine Schwarte blutete. Dann rannte ich davon. Die anderen brüllend hinter mir her. Ich mit einem großen Schwung aufs Schuppendach vom Bauhof meines Großvaters Hertel (ja, eben der) und von oben auf meine Verfolger heruntergeifernd und spottend. Als mir Klaus Schenk bedrohlich nachkommen wollte, warf ich ihm in meiner Not von oben (aus gut zwei Metern Höhe) einen Ziegelstein auf den Schädel, der da zur Beschwerung der Dachpappe lag. Was für ein Massel hatten wir beide, dass ich ihn dabei nicht totschlug – da hätte nur die Kante des Ziegels seine Fontanelle treffen müssen!
So kam er mit heulender Blessur davon – und ich zog ab. Da hat nie ein Erwachsener eingegriffen; sein Vater war immerhin Rechtsanwalt. Heute stünde so etwas (und noch so mancher andere Bubenstreich, von dem ich vielleicht ein andermal berichte) auf der Titelseite der Bildzeitung. (Wie der Vorfall, als wir den Lehrer des Schuldirektors Lange an den Marterpfahl banden und mit unseren feststehenden Messer nach ihm warfen – hat er auch überlebt, mit einer blutenden Fleischwunde an der Wade – der Vorfall wurde nie zur Sprache gebracht. Doch darüber vielleicht ein andermal mehr – weil das auch so ein Lehrstück in Sachen “Coming of Age” war.)

Mit Klaus Schenk hat sich nach diesem Vorfall übrigens eine lang anhaltende Freundschaft entwickelt. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung von Rehau, philosophierten über Gott und die Welt und trösteten uns gegenseitig über unsere Migräneattacken. Klaus, ein Jahr älter, hat mir 1954 die Tür zum Jazz aufgemacht – mit der Füllschriftplatte “Woody´ín with Woody” von Woody Herman and his Herd. Was für eine großartige musikalische Welt hat sich mir da geöffnet und ist mir bis heute, 66 Jahre später, erhalten geblieben.

Solche Erlebnis haben mir nachhaltige Lektionen erteilt. Die wurde allerdings erst sehr viele Jahre später wirksam, als ich während der TZI-Ausbildung begriff und mühsam lernte, wie man sich in Gruppen “anständig” und vor allem erfolgreich verhalten muss, wenn man ein echter Anführer sein will: Nämlich sich vor allem um die Belange der anderen zu kümmern und die eigenen Belange (ein wenig) zurückzustellen. Als Leiter der Gruppe immer auch Teilnehmer zu sein – und den Teilnehmern immer wieder Leiterfunktionen zu überlassen. Meine Frau Ruth war diesbezüglich ein Naturtalent – ich musste mir erst den “Enkel vom Architekt Hertel” abschminken. Aber in mehr als tausend Seminaren habe ich das Üben können.

Bibliographie
Hermann, Woody (Woodrow Charles Herman ): Woody´in with Woody (das muss eine Auskoppelung auf Füllschriftplatte aus der Longplay “Men from Mars” von 1954 oder “Swinging with the Woodchoppers” von 1950 gewesen sein).
Homans, George C.: The Human Group. (1950).

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Einsamkeit Labyrinthiade

_WEGE AUS DER EINSAMKEIT

Dieses Buch haben Ruth und ich 1982 gemeinsam geschrieben. Das war ein sehr mühsames Unterfangen, weil wir beide zwar sehr genau wussten, was Einsamkeit ist und sein kann – aber gerade durch unsere gemeinsame Beziehung mit unserem gerade geborenen gemeinsamen Kind Jonas, also in einem sehr quirligen Dreieck, immer wieder Mühe hatten, uns “einsam zu fühlen” und diesem doch sehr speziellen Zustand nachzuspüren.

Titelbild meines Taschenbuchs Wege aus der Einsamkeit (München 1984, Heyne-Verlag / Grafikdesign Frank Wöllzenmüller)

Das Buch ist schon lange vergriffen. Seit Ruth gestorben ist, bekommt das Thema für mich jedoch als “Alters-Single” und Witwer nach vielen Jahren wieder völlig neue Bedeutung. Inzwischen gäbe es auch noch einiges dazu zu sagen und ich sollte es vielleicht überarbeiten und neu veröffentlichen. Hier sei immerhin eines der Kapitel daraus vorgestellt. Nicht aus dem zweiten Teil, welcher mit der Metapher des Labyrinths spielt, sondern eine Art Standort und Begriffsbestimmung gleich zu beginn (die genannten Zahlen müssen natürlich aktualisiert werden, stimmen aber ungefähr auch für 2021:

Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Als wir mit den Vorarbeiten zu diesem Buch begannen, waren wir – wie wahrscheinlich die meisten Menschen – dieser Meinung: Einsamkeit ist eben Einsamkeit. Es gibt gewissermaßen nur eine einzige Qualität dieses so quälend erlebten Zustandes. Eine schreckliche Gemütsverfassung, die man möglichst meiden sollte. Und aus der man, sollte man unversehens einmal hineingeraten sein, möglichst bald wieder herauskommen muss. Einsamkeit also gleichsam eine gefährliche Krankheit …
Zu unserem eigenen Erstaunen entdeckten wir dann aber zwei verblüffende Sachverhalte:

  • Es gibt viele Formen von Einsamkeit, viele Qualitäten, deren jede ihre eigenen Inhalte hat und ihre eigenen Probleme mit sich bringt.
  • Es ist gar nicht die Einsamkeit, die so leidvoll ist – vielmehr leiden die Menschen, die sich quälend einsam fühlen, unter etwas, das wir Abgespaltensein nennen: abgespalten von den Menschen und Dingen in der Umgebung, abgespalten von den eigenen Gefühlen oder – schrecklichster Zustand von allen – abgespalten von der Außenwelt und von der Innenwelt zugleich.

Diese beiden Entdeckungen versuchen wir in den folgenden Kapiteln mit einem Vergleich auszudrücken: Einsamkeit ist wie eine Reihe von Labyrinthen. Im Bild des Labyrinths ist zum einen die qualvolle Verwirrung enthalten, die dieser Zustand ”Einsamkeit” impliziert.
Die Tatsache, dass es verschiedene Färbungen von Einsamkeit gibt, wollen wir dadurch ausdrücken, dass wir eine Vielzahl von Labyrinthen beschreiben – exakt dreizehn an der Zahl, jedes gekennzeichnet durch eine andere Farbe.

Da man unter einem Labyrinth üblicherweise eine Art Gebäude oder sonst eine kunstfertige Anlage versteht, in der man eingesperrt seinem Schicksal ausgeliefert ist, wird in diesem Bild auch das ausgedrückt, was wir ”Abgespaltensein in der Einsamkeit” nennen.

Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema ”Wege aus der Einsamkeit” gestoßen?

Der unmittelbare Anlass waren die vielfältigen Erfahrungen in der ”Beratungsstelle für Alleinlebende”, die wir 1979 Jahren in München aufgebaut haben (die es aber 2021 längst nicht mehr gibt). In Hunderten von Beratungsgesprächen und – kürzeren oder längeren – Telefonkontakten sowie in weit über tausend Briefen stießen wir immer wieder auf die Einsamkeit als zentrales Problem der Alleinlebenden.

Was uns dazu veranlasste, dieses Buch zu schreiben, war die hoffnungsvolle Erfahrung, dass man aus dem Labyrinth der Einsamkeit wieder herauskommt, wenn man sich darin genau umschaut und seine Eigenarten (auch seine Fallen!) gut genug kennt – und wenn man vor allem genügend Geduld mit sich selbst hat. Denn solche Labyrinthe sind in lebenslangem Eigenbau entstanden – man kann sie nicht in einigen Stunden Beratung, Therapie oder Selbsterfahrungsgruppe wieder einreißen. Ganz abgesehen davon, dass – wie wir noch zeigen werden – diese Einsamkeits-Labyrinthe und Einsamkeits-Irrgärten keineswegs nutzlos sind, sondern – ganz im Gegenteil – einen sehr tiefen Sinn haben.

Nicht unbedingt das gleiche: ‚allein‘ und ‚einsam‘

Einen großen Irrtum wollen wir gleich an dieser Stelle ansprechen und ausräumen. Viele Menschen glauben immer noch, dass ”allein sein” und ”einsam sein” dasselbe ist. Es gibt genügend Belege für Erfahrungen, wo Menschen extrem allein waren, aber sich keineswegs einsam fühlten, sondern ganz im Gegenteil geborgen und aufgehoben in einem größeren transzendenten Zusammenhang (s. hierzu das Kapitel über das ”Violette Labyrinth”).
Aber es ist auch eine nicht zu leugnende Tatsache, dass sehr viele Menschen sich ungeheuer einsam fühlen, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommen und allein in ihren vier Wänden sitzen; vor allem am Wochenende überfällt dann so manchen der Koller.
Gegen solche Schwierigkeiten sind auch Verheiratete keineswegs gefeit: Am schlimmsten ist wohl die ”Einsamkeit zu zweit” (Erich Kästner).

Dennoch dürften Schwierigkeiten mit der Einsamkeit am häufigsten bei Alleinlebenden anzutreffen sein, weil diese viel brutaler mit ihrer Lebenssituation ”allein” konfrontiert werden. Da ist, Hund oder Katze einmal ausgenommen, niemand da, wenn sie abends nach Hause kommen, der in der Küche mit den Töpfen klappert, und da lacht oder schreit auch kein Kind.

Der Trend zum Alleinsein nimmt weiterhin drastisch zu. Allein 1982 wurden in der Bundesrepublik 108.000 Ehen geschieden; das heißt, dass in diesem Jahr mindestens 216.000 Menschen mehr oder minder plötzlich gezwungen waren, allein zu leben (falls sie es nicht vorzogen, gleich in die nächste Beziehung zu ”flüchten” – eine höchst fragwürdige Lösung der Einsamkeitsproblematik, wie man inzwischen weiß).

Das Thema dieses Buches ist der Zustand der Einsamkeit mit seinen vielfältigen Nuancen, und deshalb sprechen wir im Grunde alle Menschen an, gleich ob allein oder zu mehreren lebend. Denn: einsam sind wir alle immer wieder einmal. Ja mehr noch: die Einsamkeit gehört offensichtlich zur Grundverfassung des Menschen überhaupt, und damit sinnvoll umgehend zu lernen, dürfte eine der wichtigsten und wesentlichsten Aufgaben sein, die wir im Leben zufriedenstellend lösen müssen – wollen wir gleichermaßen zurecht kommen mit unserer Existenz.

Bibliographie
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne Verlag), Kap 1.1.

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Beruf Haiku Lyrik

Karl Valentin und die prekären Berufe als Haiku

Prekäre Berufe – das sind all jene gemeinhin als “kreative Tätigkeiten” bezeichneten “freien Berufe” – die bei enormem Einsatz miserabel bezahlt werden – mit Garantie auf Altersarmut. Die Fotografen zählen dazu und die Jazzmusiker und die Kunstmaler und die Grafikdesigner –
Ja, und auch die Schriftsteller und Schreib-Seminarleiter sowie viele Journalisten – also Angehörige jener drei Berufe, die ich selbst ausübe (wobei der Journalist nur noch also Blogger auftritt – also gar nichts verdient).

“Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.”

Karl  Valentins viel zitiertes Bonmot hat ihm mit großer Sicherheit keinen einzigen Penny eingebracht – obwohl es inzwischen bestimmt unzählige Male zitiert worden ist, sich also andere Leute mit seinem kreativen Einfall schmücken (wie ich jetzt). Immerhin hat es mich zu eigener Kreativität angeregt, denn ich möchte es nun ergänzen und zugleich in ein Haiku verwandeln – was Valentis Ausspruch nahelegt, wenn man ihn in zwei Zeilen zerlegt:

“Kunst ist schön,
macht aber viel Arbeit.”

Das sind bereits fünf Silben – fünf Silben. Ergänzen wir diesen Zweizeiler durch eine dritte Zeile und fügen wir der zweiten Zeile das steigernde “meist sehr viel” hinzu – und schon ist das ein Haiku:

Kunst ist manchmal schön,
 macht aber meist sehr viel Arbeit
– und wird schlecht bezahlt.”

(Zählen sie es ruhig nach: fünf Silben – sieben Silben – fünf Silben.)

Das ist der Fluch der kreativ-prekären Berufe: Sie werden in der Regel “schlecht bezahlt”. Dieser Blog ist ein passendes Beispiel: Er ist hoffentlich “schön” (zumindest die Abbildungen sollten es sein), macht höllisch viel Arbeit – und bezahlt wird dafür gar nichts. Jedenfalls nicht direkt. Vielleicht lockt die Qualität und das Thema “Schreiben” den einen Leser oder die andere Leserin in eines meiner Schreib-Seminare. Dann wäre der Blog immerhin PR, die sich finanziell bemerkbar macht.

Und jetzt noch das passende Bild von Spitzweg (aus der Wikipedia, die es aus vom heutigen Standort in der Neuen Pinakothek übernommen hat):

  • – – –

Tja, das geht leider nicht, weil WordPress das Bitmap-Format nicht akzeptiert. Macht aber nichts. Dieser “Arme Poet” hart sich so tief ins kollektive Gedächtnis des Abendlandes eingeprägt, dass jeder einigermaßen Gebildete es inzwischen kennen dürfte. Und notfalls können Sie es sich ja in der Wikipedia anschauen: Einfach “Der arme Poet” eingeben – und schon haben sie es. Carl Spitzweg hatte schlauerweise als Apotheker einen nicht-prekären Brotberuf und wäre später im Leben sicher auch als Kunstmaler gut zurechtgekommen. Im Gegensatz zu seinem weniger glücklichen Malerkollegen Vincent van Gogh, dessen Bilder zu Lebzeiten niemand haben wollte und die heute mit zig Millionen gehandelt werden. Pech gehabt. Das richtige Jahrhundert muss man eben auch erwischen oder einen reichen Gönner (oder eine reiche Frau). –

Jetzt hab ich es doch noch geschafft, das bmp-Format ins jpg-Format umzuwandeln, und hier ist er, der “arme Poet” (den Spitzweg selbst nie als solchen bezeichnet hat – das machten erst seine biedermeierlichen Zeitgenossen und Nachfahren):

Carl Spitzweg: Der arme Poet (1839 – Neue Pinakothek)

Hoffentlich krieg ist jetzt keine Abmahnung von einem schlauen Rechtsanwalt. Aber bei mir ist nichts zu holen (s. oben “prekäre Berufe”).

Arbeitszeit für diesen Blog-Beitrag: 1Std 20 Min. Verdienst: niente.

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Schreibseminare

Am Lagerfeuer Geschichten erzählen

Das muss der “Urahne” jedes Blogs gewesen sein: Wenn sich am Abend die Angehörigen der Sippe im Kreis um ein Feuer versammelten und erzählten, was sie tagsüber so erlebt hatten:
Wie einer der Jäger im letzten Moment einem Säbelzahntiger in den Wipfel eines Baumes entkam.
Wie die Tochter des Ältesten beim Kräutersammeln eine neue Quelle entdeckte und so der Wasservorrat auch für heiße Sommer gesichert war.
Und wie der Schamane beim Essen dieses roten Pilzes plötzlich eines Geist sah, der viel Regen prophezeite.

Um ein Lagerfeuer sitzen und sich Geschichten erzählen (Photo: Tomu00e1u0161 Malu00edk on Pexels.com)

Bei einem Schreib-Seminar machen wir etwas sehr Ähnliches:

Wir sitzen auch im Kreis, besinnen und erinnern uns, schreiben das auf – und lesen es dann vor. Wir erzählen uns Erlebnisse (Autobiographisches), fabulieren erfundene Geschichten (Fiktionales) – oder fassen den Inhalt eines Films in eine Rezension (Sachtext).

In Zeiten der Videokonferenzen müssen wir das ein wenig anders gestalten. Dass wir im Kreis sitzen, müssen wir uns vorstellen. Wir können dieser Imagination nachhelfen, indem wir uns im Chat kurz eintragen mit Namen und Wohnort und Thema (an dem wir arbeiten wollen). Dann zünden wir alle bei uns zuhause eine Kerze an – unser Beitrag zum “Lagerfeuer”. Und dann legen wir los und erzählen unsere Geschichten – erst schriftlich für uns selbst (offline) und dann über Mikro und Lautsprecher, oder mittels Bildschirmteilung zusätzlich auf dem Monitor. Wir können Bilder aus unserem Archiv einblenden und kleine Filmschnipsel.

Nur berühren können wir uns nicht. Aber auch das kann man imaginieren: Indem man die Augen schließt und sich an die letzte Umarmung erinnert. Lertztlich gilt: “It´s all in the mind.”

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Weihnachten – zuende gedacht

Wir Erwachsenen in der Familie schenken uns schon lange nichts mehr. Geschenke sind für Kindern – und auch die sollte man nicht mir einer Überfülle traktieren. Ich selbst kann mich noch gut an die Nachkriegszeit erinnern, als es kaum das Notwendigste zum Überleben gab und man sich über ein Buch und ein paar Plätzchen und den alljährlichen Stollen freute und über einen leckeren Gänsebraten…

Obwohl 1:  Fleisch essen ist ja nicht mehr so angesagt. Und wenn ich auf einer Speisekarte das Wort “Lammbraten” lese, kann ich mir nicht helfen: Ich sehe die Lämmer auf einer Wiese im Wallis hüpfen und mir dreht es den Magen um, das zu Ende zu denken. Bei einer Gans ist das Mitgefühl nicht gans so groß…

Obwohl 2: Ich bin mir bewusst, dass es müßig ist, den jüngeren Generationen was “vom Krieg” zu erzählen. Ein Besuch bei syrischen Flüchtlingen in einer Notunterkunft könnte dem allerdings leicht auf die Sprünge helfen – oder eine Doku im Fernsehen über das zerbombte Aleppo oder Mogadischu oder Kabul unserer Tage.  Dort sieht nämlich heute genauso aus wie 1945 in München und Würzburg und Berlin und Dresden und Hamburg…

Es ist auch totaler Blödsinn, die aktuelle Corona-Pandemie mit einem Krieg zu vergleichen oder gar mit dem Zweiten Weltkrieg mit seinen 55 (65?) Millionen Todesopfern. Nicht nur deshalb, weil die Zahl der Opfer damit verglichen sehr gering ist und wir ja eine unglaublich fixe und tüchtige Pharmazie haben, die Impfstoffe schon nach kaum einem Jahr zur Verfügung stellt (bei Ebola dauerte es noch 16 Jahre!) – sondern auch, weil nicht komplette Städte durch Bombenterror in Schutt und Asche gelegt werden und die Infrastrukturen der Versorgung gleich mit.

Sei dem wie dem sei: Corona hat uns mit dem neuerlichen Lockdown eine erstaunliche Besinnlichkeit und Entschleunigung (!) aufgezwungen. Und dafür sollte man der Pandemie wirklich danken.
Worin ich gar nicht einstimmen kann, das ist die Heraufbeschwörung eines weltweiten christlichen Weihnachtsgesummses. Zum einen, weil das den übrigen sechs Milliarden Nicht-Christen ziemlich egal sein dürfte oder ihnen nur übel aufstößt. Zum anderen, weil das Christentum zwei Jahrtausende lang unglaubliches Elend über die Welt gebracht hat – nämlich über viele dieser Nichtchristen – und über die jeweiligen “Ketzer” und “Reformwilligen”, die man in Folterkellern geschunden hat und bei lebendigem Leib verbrannte.
Das “liebe Jesuskind in der Krippe”, das da heuchlerisch an Weihnachten verehrt wird – geschenkt! Man hat es (wenn die Überlieferung zutrifft) am Kreuz elend zu Tode gequält und die Verheißung, der Gekreuzigte sei von den Toten auferstanden und “gen Himmel gefahren, sitzend zur Rechten Gottes” – das ist nur eine der vielen Lügen, die sich wunderbar in die Reihe der Missbrauchs-Skandale der Gegenwart einreiht – als “geistiger Missbrauch”. Denn was man da Kindern und Jugendlichen (von denen ich auch mal einer war) von kleinauf an Phantastereien und ja – Lügengeschichten – aufgetischt hat,. das geht wirklich auf keine Kuhhaut und ist kein gutes Vorbild für irgendjemanden in der heutigen Zeit.

Wissenschaft rettet uns vor Corona und dergleichen Misshelligkeiten – nicht Gebete und Aberglauben jeder Couleur.

Die christliche Kirche hat Jesus von Anfang an verraten (und damit sinnbildlich “ans Kreuz geschlagen”), indem sie Abweichler als Ketzer verleumdete und verfolgte und tötete – von den unzähligen “Ungläubigen” in anderen Ländern und Kulturen ganz zu schweigen, die der christliche Kolonialismus (“Machet euch die Erde untertan”) auf dem Konto hat, und gar zu schweigen von den Juden (die nicht missionieren!). Von wegen “Liebe deinen Nächsten…”, wie es das christliche Ur-Gebot fordert.

Drei Jahrzehnte dauerte der “Dreißigjährige Krieg” – ein Religionskrieg unter anderem. Es war natürlich (genau wie vor nicht allzu langer Zeit der Konflikt in Irland zwischen Katholiken und Protestanten) vor allem eine machtpolitische Auseinandersetzung – aber befeuert wurde sie von den Priestern auf beiden Seiten, die noch im Ersten Weltkrieg “die Waffnen segneten”. Oder die vom “Willen Gottes” faselten und schon zur Zeit der Kreuzzüge die abendländischen Mörderbanden auf die Juden und die Moslems hetzten (obwohl diese “Opfer” ihrerseits nicht zimperlich waren – Altes Testament und Koran legen davon beredtes Zeugnis ab).

Und dann ist da noch das ungeheure Elend, das nicht nur christliche Männer den Frauen überall auf der Welt bereitet haben – auch das “im Namen Gottes”. Eines “persönlichen Gottes” – der nichts weiter ist als eine Erfindung menschlicher Kreativität und Phantasie.

Ja, dieses Weihnachten erfüllt mich großem Zorn ob der Heuchelei allüberall. Aber ich freue mich natürlich auch, dass das Christentum (und die anderen Religionen) viel Gutes über die Menschen gebracht und sie gezähmt haben mit Geboten und Verboten. Was wäre mein Schreiben ohne die selbstausbeuterische Tätigkeit der fleißigen Mönche in den Klöstern, die nicht nur Kräuterpharmazie und medizinisches Wissen weitergaben – sondern auch die alten Manuskripte von Hand sorgfältig im Schein von Ölfunzeln abschrieben und abschrieben und abschrieben – bis ein gewisser Gutenberg und seinesgleichen ihnen die Arbeit abnahmen…

Und ja, Weihnachten erfreut mich auch, weil überall viel Hoffnung aufschimmert – trotz Christentum und seinem Aberglauben und dem der anderen Religionen. Denn die Naturwissenschaften und die von ihnen befeuerten Techniken erleichtern unser Leben, das dem “Paradies” schon sehr ähnlich ist, welches früheren Generationen nur für den Nimmerleinstag verheißenen wurde wie dem Esel die vors Maul gehaltene Karotte.

Und ebenfalls ja: Es gibt noch immer diese Idioten, die den Klimawandel leugnen – und wir sind für ihn verantwortlich – wir alle. Wir müssen etwas dagegen tun. Greta Thunberg hat nicht die Bibel in die Hand genommen, wie dieser dämonische Zundlfrieder im Weißen Haus, sondern sich selbst hin gestellt und gesagt: “Ich fürchte mich – das Haus brennt und ihr löscht nicht, sondern gießt Benzin ins Feuer” – oder so ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Das ist “wahre christliche Nächstenliebe” (nennt sich nur zum Glück nicht so) – nicht wie das von weihnachtlichen Kirchenkanzeln herab (!) beschworene abergläubische Gerede, das sinnlos weiterverbreitet wird und mich schon als Kind angeödet und gelangweilt und rebellisch gemacht hat.

Naturwissenschaften und Technik retten uns in der Corona-Pandemie. Auch eine Folge wissenschaftlichen Denkens und Aufklärung: In Mitteleuropa herrscht seit 75 Jahren Frieden – unvorstellbar für frühere Generationen, von denen JEDE ihren Krieg hatte. Dass es andernorts kleinere Kriege und Gemetzel gibt, das werden künftige Generationen auch noch lösen. Da bin ich sehr hoffnungsvoll. Weil es das Vorbild “75 Jahren Frieden in Europa” gibt. So wie es seit Ende 1989 das Vorbild “Wiedervereinigung ohne Blutvergießen” gibt.

Dass überall die nationalistischen Scharfmachern wieder mit ihren Säbel rasseln –  das gehört zum Rollback nach jeder positiven Entwicklung. Da lecken dann die Ewiggestrigen ihre Wunden, die Nazis kriechen wieder aus den Kellern, in denen sie sich versteckt hielten – Es ist ein ständiges hin und her. Aber 1941 stellte, mitten im Zweiten Weltkrieg, der englische Historiker Gordon Childe am Ende seiner Stufen der Kultur erleichtert fest:

“Der Fortschritt ist wirklich, wenn auch nicht immer stetig. Die aufwärts gerichtete Kurve löst sich in eine Reihe von Gipfeln und Tälern auf. Aber in den Gebieten, welche die Archäologie wie auch die geschriebene Geschichte überblicken können, sinkt kein Tal jemals bis auf das niedrigste Niveau des vorhergehenden ab, überragt jeder Gipfel den vorhergehenden.

Es gibt kein “Entweder – oder” (“Deine Rede sei Ja Ja…”). Das ist unmenschlich. Menschlich ist nur das “Sowohl … als auch”. Die Entscheidungen eine Weile in der Schwebe halten. Das ist gelebte Demokratie. Das wäre für mich gelebtes Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Shintoismus, Animismus – ohne die Feindbilder von “Ungläubigen”.
Insofern hat das “Kind in der Krippe” doch auch etwas Tröstliches. Den aus ihm kann alles Mögliche werden. Es muss ja nicht unbedingt zum Gekreuzigten werden, der “sein Leben für uns gegeben hat”. Hat er nicht. Er wurde brutal getötet, Und das war´s. Und wir sind für unser Leben selbst verantwortlich – und in Grenzen auch für das unserer Mitmenschen. Diese Einstellung wird gerne als “Selbsterlösung” diffamiert. Aber es ist die einzig mögliche Variante.

Ende meiner Weihnachts-Predigt.

Bibliographie
Childe, Gordon: Stufen der Kultur. (1941) Stuttgart 1952 (Kohlhammer), S. 348.

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Monopteros nah – Galaxien fern

Mit dem Fahrrad bin ich jetzt in einer Viertelstunde im Englischen Garten. Als wir noch in der Seestraße wohnten, waren es zu Fuß drei Minuten und da war der Nördliche Teil des Parks unser Auslauf. Heute, nachdem Umzug 2011, wurde, weil leichter erreichbar, der Südliche Teil hinter dem Haus der Kunst allmählich das Ziel. Hat einen großen Nachteil: Man ist fast mitten in der Stadt (was man am Straßenlärm merkt) und man ist eigentlich immer unter Horden anderer Menschen. Im Nordteil ist man fast allein und der Park hat mehr Naturcharakter.
Im Südteil spürt man überall die Künstlichkeit der Anlage – aber trotzdem ist es schön hier. Da ist zum einen das kleine Stauwehr hinter dem HdK – und da ist der Monopteros. Man hat sogar den Hügel künstlich angelegt, durch den er zum großartigen Aussichtsturm mit Rundblick in das Zentrum Münchens mit Hofgarten, Residenz, Theatinerkirche und Frauenkirche und Universität wird.

Der Monopteros im Englischen Garten – am späten Nachmittag des 26. Dez 2020 (Foto: J vom Sch)

Aber eigentlich möchte ich von etwas ganz anderem berichten – einem großartigen Film, den ich mir immer wieder anschaue und der genau hier am Monopteros, auf der großen Wiese davor, beginnt: Zehn hoch – von und mit Prof. Harald Lesch.
Der Physiker und Naturphilosoph steht mitten im Grünen, vor dieseser passenden griechisch-antiken Kulisse, und erzählt von den heutigen Kenntnissen über die Natur. Sein Kunstgriff ist dabei, den Menschen (von ihm selbst verkörpert) als Ausgangspunkt und Maß zu nehmen – etwa ein bis zwei Meter, also “zehn hoch 0” misst der Kubus, von dem aus wir die Welt erfahren und gestalten – das “menschliche Urmaß” gewissermaßen.
Dann geht es in zunächst kleinen, dann immer gewaltigeren Sprüngen hinauf in den Himmel, dann den Weltenraum. “Zehn hoch eins”, das sind gerade mal zehn Meter. Aber dann sind es hundert, tausend … dann Kilometer … dann Lichtjahre … und schließlich, in zig Milliarden Lichtjahren Entfernung (“zehn hoch 26”) sind wir am Rand des beobachtbaren Universum – im Nichts, im absoluten Vakuum, wo Raum und Zeit aufhören. Theoretisch jedenfalls – denn dort war noch nie ein Mensch und dort wird auch nie einer sein.
Die Reise geht zurück, führt wieder zu Harald Lesch vor dem Monopteros – zoomt auf seine Hand. Und nun beginnt eine ebenso verblüffende Reise nach innen, wieder in Zehnerschritten: “zehn hoch minus 1” – bis “zehn hoch minus 35”, wo wir wieder im Nichts landen, wo nur ab und zu eine Quantenfluktuation im totalen Vakuum aufschimmert und wieder vergeht – niemand weiß woher sie kommt und wohin sie geht.

Diese Doku ist inzwischen zehn Jahre alt. Heute würde man das weit opulenter mit CGI in der Art ausgestalten und anreichern, die Science-Fiction-Filme wie Valerian und Guardians of the Galaxy und Passenger zu so atemberaubenden Hinguckern macht und wo man eine gewisse Ahnung davon bekommt, was das Universum nicht nur an grauenvoller Leere präsdentiert – sondern auch an unglaublicher Schönheit, wie jeder Blick in einen klaren nächtlichen Sternhimmel offenbart.
Aber diese Doku führt einem das Wesentlcihe vor Augen und das macht sie gut. –
Kleiner Wermutstropfen in dieses Lob: Was leider verschwiegen wird, ist das Vorbild dieses Films: Powers of Ten von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1977 (von IBM gesponsert) dauerte nur 9 ½ Minuten – aber es war bereits alles drin an Ideen und optischer Umsetzung, was in dem Film mit Lesch 85 Minuten dauert: Die Sprünge mit Zehner-Potenzen nach draußen ins Äußere Universum des Maktokosmos und zurück auf die Hand und von dort hinein in den Mikrokosmos. Nur platziert Eames die Geschichte in einen Park in Chicago – und Lesch nimmt den Englischen Garten in München als Kulisse. Doch der Film von Eames wird ebenso wenig erwähnt wie das großartige Sachbuch, das Philip und Physlis Morris aus Eames Filmchen gemacht haben: Zehn hoch: Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien.

Bibliographie
Eames, Charles und Ray: Powers of Ten. USA 1977.
Morrison, Philip und Phylis: Zehn hoch: Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien. (USA 1982).
Heidelberg 1984 (Spektrum der Wissenschaft).
Windorfer, Gerhard und Lenz, Herbert (und Harald Lesch als Sprecher und Moderator): 10 hoch 26 bis
minus 5: Universum und Quanten. München 2010 (Komplett Media).

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Aus meiner Schreib-Werkstatt

In meiner Textdatenbank sind derzeit 5412 eigene Texte registriert – der älteste aus dem Jahr 1953, der jüngste vom 23. November 2020. Das hört sich nach mächtig viel an. Aber wenn man wie ich gerne und ständig schreibt und das über 67 Jahre verteilt, relativiert sich diese Zahl. Wobei ich richtig intensiv erst in den späten 50er Jahren zu schreiben begonnen habe und dann vor allem ab den 80er Jahren, als ich mit meiner Frau Ruth die Münchner Schreib-Werkstatt gründete und immer mehr Seminare dieser Art durchzuführen begann, wobei wir immer auch eigene Texte verfassten.

Nimmt man 1960 als Startjahr, dann ergibt das (60 x 365 =) 21.900 Tage. Teilt man die durch 5.412, dann ist das rund alle vier Tage ein Text. Gar nicht mal so viel, nicht wahr? Allerdings habe ich Tausende von Träumen, die ich notiert und genauer angeschaut habe und unzählige Tagebucheintragungen nicht extra gezählt. Das ist so meine tägliche “geistige Morgengymnastik”, die ich vor dem Yoga mache und dem anschließenden Frühstück. Ist mir so wichtig und selbstverständlich wie das Atmen.

Julia Cameron nennt in ihrem Buch Der Weg des Künstlers ihre morgendlichen Schreib-Fingerübungen “Morgenseiten”. Ein passender Begriff. Ich bezeichne meine Produkte jedoch lieber als MorgenNotizen. Diese sind nicht so frei flottierend und unbestimmt, weil ich eigentlich immer ein größeres Schreibprojekt in der Mache habe und es sich dementsprechend meistens um Teile meines “Projektbegleitenden Logbuchs” handelt. Ziel ist fast immer eine Veröffentlichung – und sei es hier im Blog.
Heute war das eine Geschichte aus dem Jahr 1985, die mir beim Aufräumen am Jahresende zufällig in die Finger geriet: “Herzstillstand mit Semele”. Ich las sie, las mich fest, begann zu korrigieren und zu redigieren – und jetzt ist sie fertig und kann hinaus in die Welt – hier im Blog als eine von vielen Erzählungen, die noch kommen werden. Diese ist im Mini-Format, also wirklich eine Kurz-Geschichte, und sie finden Sie hier gleich nebenan: Herzstillstand mit Semele.

Grundsätzlich kann man drei Schreib-Varianten unterscheiden, je nach Zielrichtung von hobbymäßiger Selbsterforschung bis hin zur hochprofessionellen regelmäßigen Produktion:
° Autobiographisches (Tagebücher, Briefe, Blogs),
° Sachliches (vom kleinen Lexikoneintrag und Essay bis zum dicken Fachwälzer)
° und Erzählendes (wozu ich auch Lyrik zähle).

Blogs, wie dieser hier, schweben irgendwie über alledem, weil sie ja vom Tagebuch herkommen (wie der Name schon sagt: WebLog – also Tagebuch im Internet). Sie sind aber meistens sachthemenzentriert (mein Blog befasst sich vor allem mit dem Schreiben und Veröffentlichen), geben jedoch speziell die Erfahrungen und Meinungen des Bloggers wider. Und nachdem hier alle Freiheiten herrschen, ist vielen Bloggern auch Belletristisches nicht fremd.

Ich schätze sie alle drei und nehme sie so, wie sie aus dem Untergrund meiner Innenwelt hochblubbern – ähnlich wie die Quantenfluktuationen aus dem Urgrund des Universums.

Was für ein Wort: “Quantenfluktuationen” – sechs Silben – fast schon wie die Mittelzeile eines Haiku. Die Wissenschaft hat so ihre ganz eigene Poesie – das hat mir auch bei der Science-Fiction immer schon gefallen. Machen wir doch gleich ein Haiku draus:

Ich sitze und schau
Wie Quan ten fluk tua tio nen
In mir hochblubbern

Zugegeben – kein tolles Haiku. Aber es heißt ja in Haiku-Fachkreisen, und damit tröste ich mich gerne: “Von hundert Haiku gelingt eines.”
Manches gelingt gleich das erste – manchmal eines irgendwo in der Mitte von einer ganzen Reihe – und manchmal erst das hundertste. Oder gar keines. Take your choice – James Joyce.

Cameron, Julia: Der Weg des Künstlers. (USA 1992). München 2000 (Knaur TB)

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Herzstillstand mit Semele

In diesem Blog präsentiere ich immer wieder auch Geschichten, die ich irgendwann geschrieben und nie veröffentlicht habe. Meistens sind sie in einer meiner Schreib-Werkstätten entstanden, wo ich alle Aufgaben und Übungen immer mitmache, schon um im “kreativen Fluss” dabei zu sein. Dies ist so eine Geschichte. Sie ist für einen Blog ein wenig lang geraten – aber in meinem Blog darf das ruhig gelegentlich vorkommen.
Manches darin ist autobiographisch – aber dann hat sich meine Phantasie selbständig gemacht. Und so soll es ja sein, auch hier beim HERZSTILLSTAND. –

Thomas Lauffner hielt inne. Die Finger, die eben noch über die Tastatur seines Computers gehuscht waren, verharrten wie eingefroren. Dieser Schmerz in der linken Seite – Seitenstechen? Das Herz? Leise pfeifend entwich die Luft aus seinem Mund, die seine Lungen reflexartig zurückgehalten hatten. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Langsam zog er die Finger von der Tastatur zurück, ließ die Hände an den Seiten herabsinken. Ausatmen – einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen – wie er es im Yogaunterricht gelernt hatte. Das half.

Ein Erinnerungsbild taucht vor den Augen auf, die sich erleichtert geschlossen hatten. Am Vortag hatte er sich mit Freunden im Biergarten am Chinesischen Turm getroffen. Doch kaum hatten sie ihre frisch gefüllten Bierkrüge und die großen Laugenbrezen vor sich auf dem mitgebrachten Tischtuch abgestellt, als es aus den grauen Wolkengebirgen hoch über ihnen doch zu tröpfeln begann. Langsam erst, dann immer heftiger. Die Freunde waren gleich losgestürmt, hatten Bier und Brezen und Tischtuch lachend zurückgelassen, “Tschüs” rufend, um erst Schutz unter dem altersgrauen hölzernen Turm zu suchen, dann auch ohne Schirm rüber zur Bushaltestelle, ohne weiteren Abschied –

Er war sitzen geblieben, irgendwie ermattet vom Tag. Schaute dem Personal zu, das die leeren Krüge einsammelte. Sah die Musiker von der oberen Etage des Turms herabsteigen, die Instrumente fest an sich gepresst. Irgendwann saß er nur noch allein da, schaute und hörte dem Regen zu, fühlte die damit gekommene Kühle in sich hineinkriechen –
Irgendwann war er aufgesprungen und, den Regen missachtend, rüber zur Bushaltestellte gerannt. Dort saß er eine Weile schnatternd vor Kälte, bis er Bus kam.
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt ein? Lauffner drehte die Sanduhr um und zog widerstrebend das Buchungsjournal zu sich. Prüfend ging er die Eintragungen durch.
Semele – seltsames Wort. Plötzlich war es in seinem Kopf.
Thomas Lauffner hielt inne. Seine Rechte blieb mit der Spitze des Kugelschreibers in der Zeile stehen, in der es hieß:
“31. Oktober. Ausgang: 91.14. MWST 7 %. Buch.”

Im Gegensatz zu vielen anderen Buchungen musste er bei dieser nicht lange herumrätseln, was sie bedeutete. Der Gesamtpreis betrug 98.- Mark und der Titel des Buches konnte nur Labyrinthe heißen. Ein teurer Bildband, den Lauffner am Infostand des Seminars erstanden hatte, das der Autor in der Evangelischen Akademie in Tutzing zum gleichen Thema anbot hatte. Im Schlosspark hatten die 120 Teilnehmer mit Steinen die kreisähnliche Anlage eines kretischen Labyrinths angelegt und sich in kleinen Gruppen redend und schreibend und malend und tanzend mit dem faszinierenden Thema beschäftig. Am interessantesten war es gewesen, gemeinsam ein Labyrinth auf der großen Weise der Akademie auszulegen, direkt am Starnberger See. Er erinnerte sich noch an die Kälte des Wassers, als er am Ufer seine Steine auswählte. Ende Oktober war der Starnberger See schon sehr abgekühlt. Sieben Mal war er gelaufen, jedesmal bepackt mit dicken Seekieseln. Sein Gesicht hatte geglüht vor Begeisterung, während sie unter der Anleitung des Autors die Struktur auslegten.
Nicht lange danach der Schock, in der Zeitung beim Frühstück den Nachruf zu lesen: Überraschend für alle sei Hermann Kern, erst 42 Jahre alt, verstorben…

Semele – wieder dieses Wort! Was bedeutete es? Aber er hatte jetzt keine Zeit, Geheimnissen nachzuspüren. Er musste die Buchführung nochmals genauestens überprüfen. Dann die Unterlagen zum Computer-Service, der eine bildsaubere Aufstellung seiner Einnahmen und Ausgaben liefern würde. Er notierte für die Frau, die ihm die Buchführung machte, dass sie in Zukunft die Titel der Bücher notieren solle.
Er hatte keine Lust, sich wieder stundenlang mit einem Steuerprüfer auseinanderzusetzen, der bezweifelte, dass er wirklich jedes Jahr für zwei- bis dreitausend Mark Bücher kaufen müsse.
“Kann man die denn nicht in der Bibliothek ausleihen?”
“Warten Sie mal in der Stadtbibliothek auf ein Buch!” hätte er am liebsten losgebrüllt. Aber er war freundlich geblieben, hatte nur ironisch gesagt, dass er diese Bücher ja in vielen Fällen mehr als einmal benütze und als Journalist und Buchautor gerne seine Berufskollegen unterstütze – von denen erwarte er ähnliche Freundschaftsbezeugungen.

Ausgaben 124,80 DM. 14 % MWST. Tutzing.” Das war die Abrechnung der Tagesspesen für diese Tagung. Wie oft hatte er Frau Lemmer schon gesagt, dass der Vermerk “F” für Fortbildung wichtig war, sobald es um Spesen ging!
Ein Marienkäfer landete sanft auf seinem Handrücken und der Stift verharrte erneut. Ausgaben 9.00 DM. 14 % MWST. Fahrtkosten Tutzing.” Das war die Hin- und Rückfahrt mit der S-Bahn gewesen.

“Thomas -” Das war die Stimme seiner Frau. Er schaute stirnrunzelnd vom Journal auf. “Kannst du mal eben nach Joschi schauen?” sagte sie, “ich muss beim Kaufmann um die Ecke noch den Spargel und den Schinken holen – Hast du heute Morgen übrigens die Mayonnaise mitgebracht?”
“Liegt bereits im Eisschrank.” (Seltsam, dass er noch immer “Eisschrank” statt Kühlschrank sagte, ein Relikt aus der Kindheit.)
Joschi drängte sich neben Stefanie ins Arbeitszimmer. “Leg mir die Schlümpfe auf, Papa”, rief er.
Lauffner spürte, wie Ärger in ihm hochkroch. “Du weißt genau, dass ich bis heute Abend diesen Mist für die Steuer durchgesehen haben muss, weil der morgen früh im Computer-Zentrum sein muss -” Das wollte er sagen. Aber behielt es für sich. “Fünf Minuten, Thomas, sei kein Frosch, leg ihm die Platte auf und du hast deine Ruhe.”
“Ruhe? D die Platte läuft gerade mal drei Minuten, dann muss ich sie umdrehen und drei Minuten später wieder -“
“Dann leg ihm die Zauberflöte drauf. Die mag er auch gern. Und die dauert mehr als eine halbe Stunde.”
Sie wandte sich direkt an den Dreijährigen: “Du magst doch die Zauberflöte auch?”
Schlümpfe“, kam es bestimmt zurück.
“Also, leg ihm die Schlümpfe auf. Und dann die Zauberflöte. Dann hast du wirklich deine Ruhe. Und dann bin ich sowieso wieder zurück.”
Lauffner schüttelte den Marienkäfer von der Hand. Er ging zum Plattenspieler und legte die Kinderplatte auf.
“Tanz mit mir”, sagte Joschi.
“Mag nicht, muss meine Hausaufgaben noch machen.”
“Hausaufgaben? Warum?”
“Das verstehst du nicht: Steuern, Buchführung. Finanzamt.”
“Warum?”
“Warum Finanzamt? Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Aber ein Wirtschaftsjournalist sollte sowas besser nicht laut fragen.”
“Warum, Papa?”
“Nerv mich nicht, Joschi!”
“Ist Finanzamt lustig?”
“Oh ja, sehr lustig. Komm, tanzen wir.” Er fasste den Kleinen, und als sie sich zu der launigen Musik durchs Zimmer drehten, um den Großvatersessel, um das Holztischchen, um die anderen Sessel, da war ihm auf einmal ganz wohl. Tanzen. Das war´s. Wir sollten wieder einmal tanzen gehen – “das Tanzbein schwingen”, so lockte sie ihn immer wieder. Aber irgendwie war ihm die Lust dazu vergangen. Das lag vielleicht daran, dass sein rechtes Knie nach dem letzten Schwof tagelang rumort hatte.

Die Platte war zu Ende. Er setzte den Dreijährigen ab und drehte die Schlümpfe um.
“Werf mich hoch, Papa, ganz hoch.” Das war ein Spiel, das sie beide gerne spielten. Und viel zu wenig, wie Thomas wieder einmal bewusst wurde. Sie hatten das vor einem Jahr entdeckt, im Urlaub auf der Insel Giglio, auf dem Sand der kleinen Badebucht. Den Kinderkörper fassen, sich in die Augen schauen, Luft anhalten – und ihn hochwerfen, so hoch es ging. Gute drei Meter. Bei den ersten Malen war er natürlich zurückhaltender gewesen, hatte Joschi kaum über seinen eigenen Kopf geworfen. Aber dann war mit dem Spaß am Spiel der Mut gewachsen und das gegenseitige Vertrauen.
“Höher, Papa” hatte Joschi gerufen, “noch höher. Und noch mal.”
Er warf ihn hoch. Es gab ein kleines, ganz sanftes Geräusch. Das war alles. Merkwürdig war nur, dass Joschi oben an der Decke blieb, die er mit Kopf und Körper eben berührt hatte, als er so hoch wie nie zuvor in der Altbauwohnung geflogen war. Kurz vor der Berührung hatte Joschi noch seinen wilden Freudenschrei ausgestoßen, wie er es in der letzten Zeit gerne machte, und dabei mit seinen Armen und Beinen gewackelt, als wollte er wegfliegen. Dann Stille.
Thomas Lauffner bemerkte, dass sein Kinn kraftlos herunterhing und sein Mund weit klaffte vor Staunen. Das war, als das Staunen noch alle anderen Empfindungen überlagerte. Dann kroch allmählich etwas anderes in ihm hoch. “Joschi”, sagte er heiser. “Joschi, komm bitte wieder runter.”
Aber der Kleine blieb oben. “Papa, du bist so weit weg”, sagte Joschi schüchtern.
“Komm bitte runter, Joschi.” Thomas stand mit wartend ausgebreiteten Armen und Händen, um den Körper aufzufangen, sobald er zurückfallen würde. Aber er fiel nicht. Und dann war da wieder dieses eigenartige Wort in seinem Kopf, das ihn schon beim Arbeiten gestört hatte. Semele. Den ganzen Morgen. Er sollte im Lexikon nachschauen, wer oder was das war, damit wieder Ruhe eintrat. Was konnte Semele schon sein?
Aber es war unmöglich, jetzt zum Bücherschrank zu gehen. Was auch immer veranlasste, dass Joschi, entgegen der Schwerkraft, oben an der Decke hängen blieb – diese Kraft konnte jeden Moment wieder nachlassen. Und dann müsste er auf seinem Posten sein, um Joschi aufzufangen. Er hatte ihn schließlich dorthin befördert.
Warum kam Stefanie nicht zurück? Sie war doch schon viel länger weg als fünf Minuten. Es war anstrengend, abwartend so zu stehen und mit gesammelter Aufmerksamkeit immer nur nach oben zu schauen.

Er hatte schon vor einer halben Stunde mal aufs Klo gehen wollen. Warum hatte er es bloß nicht getan? Jetzt wurde der Druck in seiner Blase immer drängender, je mehr die Zeit verging.
Wie spät war es denn eigentlich? Sein suchender Blick fand keine Uhr an seinem Handgelenk. Durch die Tür zum Arbeitszimmer, die halb offenstand, konnte er die Sanduhr auf seinem Schreibtisch sehen.
Sie lief, wenn sie umgedreht wurde, exakt 55 Minuten. Er benützte sie gerne bei Arbeiten, die er verabscheute. War der Sand durchgelaufen, gönnte er sich guten Gewissens eine kleine Pause. Begann ihn die Arbeit wider Erwarten doch noch zu fesseln, übersah er die Sanduhr, und das war recht so.
Jetzt pendelte sein Blick dauernd zwischen Joschi oben an der Zimmerdecke mit den Stuckverzierungen und dem gläsernen Doppelkörper auf dem Schreibtisch, dessen Sand anzeigte, dass ungefähr eine halbe Stunde vergangen war. Seit wann? Er hatte die Uhr umgedreht, als Stefanie und Joschi gerade ins Zimmer kamen. Dann das Tanzen, vielleicht fünf Minuten Hochwerfen.
“Papa”. Die Stimme war noch immer ganz vergnügt. Es sah aus der Distanz von etwa fünf Metern so aus, als sei die Standuhr stehengeblieben. Aber so genau konnte er das nicht erkennen. Die Anstrengung des genau Hinsehens machte ihm wieder die starken Spannungen in seinen Augen bewusst. Er suchte, natürlich nur mit Blicken, nach der Brille, die er abgelegt hatte, ehe er Joschi zum Tanzen hochhob. Lag sie dort auf dem Spanischen Schränkchen?
Die großen Buben hatten das Schränkchen bei einer Rauferei umgeworfen und sämtliche Gläser zerschlagen, die darin aufbewahrt wurden. Der materielle Schaden, etwa 600.- Mark, wäre noch zu verschmerzen gewesen (ein paar Urlaubstage weniger, mehr kaum). Aber die Erbstücke aus der Vitrine des Urgroßvaters, die über die Mutter auf ihn gekommen waren –

“Papa, ich will wieder runter!”
Verwirrt wurde Lauffner sich bewusst, dass seine Gedanken abgedriftet waren und er – für wie lange? – völlig vergessen hatte, dass Joschi oben an der Zimmerdecke schwebte. Wie war sein Gesichtsausdruck? Ohne Brille konnte er es nicht genau erkennen. An der Stimme war nichts Ungewöhnliches festzustellen.
“Komm doch einfach wieder, lass dich fallen -“
Thomas versuchte seiner Stimme einen scherzenden Unterton zu geben, versuchte unbekümmert zu erscheinen. Aber es gelang ihm nicht recht.
“Eigentlich dürftest du gar nicht dort oben sein, von Rechts wegen – ich meine wegen dem Gesetz der Schwerkraft. Du wiegst doch bestimmt mehr als zwanzig Kilo – wie schwer bist du eigentlich, Joschi?”
“Was?”
“Die Mama hat dich doch neulich gewogen. Was hat sie gesagt, wie schwer du bist?”
“Weiß ich doch nicht. Ich will runter, Papa.”
Was würden andere Kinder darum geben, mal oben an der Zimmerdecke zu schweben! Aber vielleicht dauerte der ungewöhnliche Zustand schon zu lange? Wie lange eigentlich? Wenn er bloß die Uhr sehen könnte. Irgendeine Uhr. Wo nur Stefanie blieb. Fünf Minuten hatte sie gesagt! Mindestens eine halbe Stunde musste sie jetzt schon aus dem Haus sein, mindestens –
“Papa, hol mich wieder runter!” Das klang schon reichlich kläglich.
“Ich weiß nicht, wie ich das machen soll, Joschi. Vielleicht kann ich die Sessel aufeinander stapeln, das sollte doch reichen.”
Er versuchte, den nächsten der beigen Polstersessel zu fassen. Obwohl er nur mit Schaumstoff gefüllt war, ließ er sich nicht vom Platz rücken; er haftete wie festgeschraubt am Teppichboden.
War das Kohäsion? Er hatte doch in der Schule mal was gelernt, weshalb manche Körper fest aneinander klebten, wenn ihre Oberflächen entsprechend beschaffen waren – “Papa! Die Mama soll kommen und mich runterholen.”
“Gleich kommt sie zurück. Sie ist nur rasch zum Einkaufen gegangen.” Das hatte sie jedenfalls gesagt. Aber warum kommt sie nicht?
“Ich gehe nur ein paar Schritte weg, um die Sessel näher zu holen, Joschi. Dann stelle ich sie aufeinander und hole dich runter.” Er schaute sich suchend im Zimmer um, welches der Möbel am nächsten und geeignetsten war.
“Nicht weggehen, Papa!”
“Keine Angst, ich gehe nicht weg, nur zwei Schritte -“
“Nicht weggehen!” Das Kind zeigte jetzt erste Zeichen von Panik.

Ich muss mit ihm reden, ihm eine Geschichte erzählen, dachte Thomas. Aber was für eine Geschichte! Mir fällt doch jetzt keine Geschichte ein, die ich locker erzählen kann, ich müsste die Klappleiter holen, draußen in der Besenkammer, gleich beim Staubsauger. Wieviele Schritte sind es bis dorthin? Zur Tür des Wohnzimmers vielleicht fünf Meter. Als wir die riesige Altbauwohnung bekamen, haben wir uns über ihre Dimensionen nur gefreut. Aber was macht man in einer solchen Situation, wenn schon der Weg über den Flur gute zehn Meter lang ist.
Wieviele Sekunden dauert das, dort zur Tür zu rennen, sie aufreißen, über den Flur rennen, die Kammertür aufreißen, die Leiter packen, zurück über den Flur, was mit der Leiter natürlich nicht so schnell geht – das dauert ja nicht Sekunden, sondern Minuten – in einem Neubau gäbe es das Problem nicht – aber da hätten wir auch keine Leiter nötig und die Zimmerdecke wäre nicht drei Meter vierzig hoch, sondern allenfalls zwei Meter zwanzig, oder so.

“Papa – hol’ mich runter -“
“Jetzt wein’ nicht.” Warum eigentlich nicht? Vielleicht hilft’s ihm, wenn er weint. Ist doch kein Indianerjunge, der tapfer sein und Tränen zurückhalten muss. Wie wäre das denn, wenn ich drei Jahre und fünf Monate alt wäre und dort oben an der Decke schwebte? Verdammt, der Nacken begann zu schmerzen. Aber sobald er den Kopf senkte und die Augen abwandte, begann Joschi angstvoll zu rufen. “Jetzt weiß ich eine Geschichte”, sagte Lauffner.
“Eine Geschichte?” Joschi klang für den Augenblick etwas hoffnungsvoller.
“Ja. Ich erzähle dir die Geschichte von Semele.” Wer, um Himmels Willen, war Semele? Aber für eine erdachte Geschichte war das doch gleich. Er würde diese Gestalt und was sie tat einfach erfinden, so wie er am Abend zuvor die Geschichte vom Feuerdrachen und den beiden Wasserdrachen erfunden hatte, die Joschi so gut gefiel.
“Erinnerst du dich noch an die Wasserdrachen von gestern, Joschi?”
“Ja, Papa. Die Lausbuben-Drachen.”

 SemeleSelene – die beiden Mädchen, die sich auf dem Spielplatz küssten, wobei unklar blieb, ob das eine nicht doch ein Junge war –
Sein Nacken schmerzte unerträglich; lange würde er das nicht mehr aushalten. Die Tür ging auf, Stefanie kam herein, unter beiden Armen braune Einkaufstüten.
“So, da bin ich wieder, ihr beiden – habt ihr schön gespielt?”
In diesem Augenblick zog jemand einen großen schwarzen Vorhang zu. Eine feurige Zunge leckte von seinem Nacken und von dort weiter in sein Herz. Er hörte noch seinen Namen rufen –

                            *

Als er die Augen wieder aufschlug, war alles um ihn her weiß. Nur das Gesicht des Menschen, der sich gerade zu ihm beugte, war zart rosa, nein hellbraun, darunter ein kräftiger orangefarbener Fleck, eine Bluse, wie er erkannte, die oberen Knöpfe offen, so dass er die Ansätze der Brüste deutlich erkennen konnte, auch sie leicht gebräunt. Eine andere Farbe schob sich in sein Gesichtsfeld, ein helles Lila, verbunden mit einem Geruch, der ihm vertraut war.
“Flieder”, sagte er. Dann erkannte er das Gesicht hinter den Blütendolden und den ovalen, spitz zulaufenden Blättern. Das Gesicht schwebte jetzt, wie losgelöst, über dem Fliederbuschen.
“Stefanie”, sagte er. Ihm wurde bewusst, wie müde er war. “Was ist das für ein Zimmer? Wo bin ich hier?”
“In der Klinik.”
“Was ist passiert?”
“Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mit Joschi gespielt. Als ich vom Einkaufen zurückkam, fingst du ihn gerade wieder auf. Du hattest ihn hochgeworfen, erinnerst du dich nicht mehr?”
“Ja, das stimmt. Ich habe ihn hochgeworfen. Aber es dauerte so lange. Und dann dieser schwarze Vorhang. Die Lichter. Da waren auch Lichter. Und ein Name -“
Semele? War es das? Du bist mit Joschi umgestürzt, lagst wie ohnmächtig da. Semele, hast du gesagt, ganz laut und deutlich, obwohl das gar nicht möglich ist. Die Ärzte sagen, es wäre ein Herzinfarkt – und nicht der erste. Da gibt es bereits Narben an deinem Herzen – Aber ich sollte nicht so viel reden.”
“Doch, erzähl weiter. Wie lange warst du weg?”
“Meinst du jetzt eben?”
“Nein, bevor du mich gefunden hast -“
“Vielleicht zehn Minuten, war nur rasch um die Ecke beim Einkaufen -“
“Nicht länger?” Er sah Joschi oben an der Decke schweben, während Minute um Minute verging, quälend langsam –
“Habe ich das alles geträumt?”
“Was?”
Er zögerte. “Da war etwas Eigenartiges, vielleicht kann ich es dir später erzählen. Und Joschi – wie geht es ihm?”
“Was soll mit ihm sein? Er fragt ständig nach dir. Du sollst ihn hochwerfen, danach verlangt er immer wieder.”
“Und er hat keine Angst?”
“Wovor sollte er Angst haben, Thomas?”
“Vor dem Hochwerfen!”
“Ich denke nicht. Vielleicht fragst du ihn morgen selber, ich bringe ihn mit. “Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Blatt Papier heraus.
“Hier, falls es dich interessiert. Ich hab mal nachgeschaut, was das heißt – Semele – das Wort.”
“Ach ja, Semele. Das Wort ist mir an dem Tag immer wieder durch den Kopf gegangen -“
“Erst dachte ich, du meinst Semmeln -“
“Semmeln?”
“Wäre möglich gewesen. Du hattest nämlich vergessen, die Semmeln für’s Frühstück am Sonntag mitzubringen, die wir aufbacken wollten, erinnerst du dich? Du bist zur Post gegangen, zum Schließfach, und wolltest auf dem Rückweg beim Bäcker vorbeigehen -“
Er schaute sie verständnislos an. “Ich muss es wohl vergessen haben. Aber auf dem Zettel, was steht da?”
“Ich habe im Lexikon nachgeschaut, was Semele heißt -“
“Ist das nicht eine Mondgöttin in der griechischen Mythologie gewesen?” unterbrach er sie, “als Jugendlicher haben mich diese Geschichten sehr fasziniert.”
“Nein, nicht die Mondgöttin, die heißt Selene. Semele ist eine der Frauen, die Zeus in einer seiner vielen Verwandlungen geschwängert hat -“
“Geschwängert?”
“Semele hat er als goldenen Funkenregen betört -“
“Eine etwas eigenartige Form, eine Frau zu beglücken, findest du nicht auch?”
“Ach, ganz wie man’s nimmt – eigentlich beschreibt es den Vorgang doch ganz gut, findest du nicht?”
Sie schauten sich eine Weile nur stumm an. Aber in ihren Blicken ging viel Gefühl hin und her, während jeder für sich seinen Gedanken und Erinnerungen nachhing. “Wir haben lange nicht mehr miteinander geschlafen”, sagte er endlich, und er spürte ein eigenartiges Würgen im Hals, kein schlechtes Gefühl, wie er merkte. Stefanie wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht.
“Das war knapp, Thomas. Haarscharf am Tod vorbei – Herzstillstand.”
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Brust. “Es schlägt wieder, spürst du’s? Ganz ruhig und regelmäßig.” Sie ließ die Hand eine Weile dort ruhen, wo er sie hingelegt hatte. Dann fasste sie mit beiden Händen sein Gesicht und streichelte es, ganz langsam. “Werde bald gesund, “Semele wartet.”
Ein Lächeln war plötzlich auf seinem Gesicht. Er merkte, dass es sich von tief innen herstahl. “Die Glut ist noch da, aus der Funken sprühen”, sagte er. Dann zog er ihr Gesicht zu sich und sie küssten sich.

ENDE

© Jürgen vom Scheidt – geschrieben 15. Mai 1985

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Homo futurus

Auch so einer der “roten Fäden” meines Lebens. Der “Mensch der Zukunft” hat mich erst als Gestalt der Science-Fiction interessiert. Dann war da das Schlüsselerlebnis einer Ausstellung mit Plastiken am Münchner Marienplatz, in den Räumen des Stuttgarter Bücherbundes, bei dem ich Ende der 50er Jahre Mitglied war. Eine der Plastiken von Ludwig Weber-Foma sprang mir sofort ins Auge: ein hoch aufgeschossener Mann, dem ich sofort des Etikett “Homo futurus” gab (der Künstler selbst nannte sie schlicht “Junger Mann”). Erst einige Jahre später, während des Psychologiestudiums, begriff ich, dass ich mich da gewissermaßen “selbst” anschaute – war ich doch mit meinen 1,84 Metern so ein schlaksiger “junger Mann”.

Ludwig Weber-Foma: “Junger Mann” (1960).

Woher ich das alles noch so genau weiß? Ich arbeitete damals an einem Club-Magazin namens C.C.Rider mit, das wir (vor allem mein Freund Wolfie Baum und ich) für einen Party-Club schrieben, den wir Cool Circle nannten. Da war fast jedes Wochenende in Gauting und Umgebung eine Party, oder in Starnberg oder München – und wenn man diese hektographierte Monatsschrift las und Mitglied im Cool Circle war, wusste man Bescheid, wo die Cats und die Chicks sich das nächste Mal trafen, um bei wilden Boogie-Rhythmen das Tanzbein zu schwingen oder bei schmachtenden schwarzen Balladen eng umschlungen zu knutschen.
Es gab aber nicht nur Party-Tratsch im C.C.Rider, sondern auch Film-Kritiken (wir regten uns damals schon über Rassismus in den USA auf, wobei der Film Flucht in Ketten aktueller Anlass war). Es gab Besprechungen neuer Schallplatten (Jazz und Rhythm´n´Blues). Wir diskutierten über die Wiederbewaffnung und über Kriegsdienstverweigerung, trafen uns mit Kids von der amerikanischen High School am Perlacher Forst beim Fußball im 60er Stadion und im amerikanischen Soldatenkino, besuchten den Soldaten-Sender des AFN in der Kaulbachstraße (wo man als Schüler problemlos reinspazieren und mit dem Plattenleger alias Disk Jockey Mal Sondock während seiner höchst angesagten Sendung “Bouncing in Bavaria” quatschen konnte*. Und besuchten eben auch solche Ausstellungen wie die von Weber-Foma.
* So bin ich wohl später zu meier Arbeit für den Bayrischen Rundfunk animiert worden – was mir eben erst beim Tippen dieser Zeilen bewusst wird.

Über diese Vernissage habe ich im C.C.Rider damals geschrieben:
“Lang und schlank ist dieser junge Mann . Die Verkörperung einer Zeit, die sich anschickt, über ihren eigenen Schatten zu springen; die sich zu den Sternen emporstreckt und die in einer immer tiefgreifenderen technischen Verirrung den Boden unter den Füßen zu verlieren droht.
Aber der junge Mann trägt den Kopf gerade und erhoben, Stolz, beinahe schon Arroganz drückt diese Haltung aus. Und das Wissen (oder vielleicht besser das Hoffen?) um den Fortbestand, um ein weiteres, unaufhörliches Vorwärtsstürmen der menschlichen Rasse.”

Den Begriff “Rasse” würde ich heute nicht mehr verwenden, der hat ausgedient. Aber ansonsten – Hätte es die Bewegung Fridays for Future (die von ähnlichen Hoffnungen und Befürchtungen bewegt wird) damals schon gegeben – wir wären dabei gewesen. Aber getanzt wie “der Lump am Stecken” haben wir eben auch. Und uns gleichzeitig davor gefürchtet, dass die selben Raketen, mit denen unsere Science-Fiction-Phantasien zum Mond und zum Mars flogen – eben auch Atombomben überall hintragen und uns den “nuklearen Winter” bescheren könnten.
Das war eine Weile weg, nachdem Gorbatschow und Reagan den West-Ost-Konflikt und das Wettrüsten entschärft hatte. Aber in Zeiten von Putin und Trump ist das alles inzwischen leider wieder Thema und bedrohlicher denn je. Wenn man die Corona-Pandemie mal außer Acht lässt.
Noch etwas habe ich übrigens im C.C.Rider jener Tage begonnen und abgedruckt: Meinen zweiten Roman Sternvogel. Was für eine tolle Zeit, um schreiben zu lernen (und nicht nur für die Schüler-Zeitung Giselaner oder das SF-Fanzine Munich Round Up, wo ich ebenfalls schrieb – irgendwo muss man das ja lernen. Und die Schule – naja. Da ging man eben auch hin, saß seine Zeit ab und sehnte sich nach so etwas Modernem wie Videokonferenzen und zeitgemäßem Unterricht –

War da nicht was?
Stimmt genau: Im Roman Männer gegen Raum und Zeit deutete ich 1957 gegen Schluss eine kleine Liebesszene an, ganz brav “digital” (wie man heute sagen würde):

Rani rief Sardos an, dass sie erst am nächsten Tag kommen würden.
„Das glaub’ ich“, lachte der Tolimane auf dem kleinen Bildschirm. „Wegen meines Gleiters macht euch keine Sorgen. Ich nehme in der Zwischenzeit den von Sika. Übriges – Sika lässt Kido herzliche Grüße ausrichten!“
Ehe Kido noch einen Dank stottern konnte, war der Schirm des Visiphons erloschen.


Gut, den Begriff Visiphon habe ich damals noch nicht verwendet – aber gemeint habe ich ihn und damit nichts anderes als eine Bildschirmkonferenz. Klingelt da was?
Homo futurus lässt grüßen – aus der Vergangenheit vor sechs Jahrzehnten. Seit Ostern dieses Jahres 2020 waren Schreib-Seminare dank Corona fast nur noch als Bildschirm-Konferenzen möglich. Was für ein Glück, dass wir technisch mit Internet, Computern und Smartphones schon einigermaßen dafür ausgerüstet waren!

Alfred Hertrich 1999 : Homo furturus (Logo für die Website homo-futurus.com)

“Homo futurus” nannte ich im Oktober /November 1980 meine sechsteilige Feature-Reihe im Bayrischen Rundfunk, mit der These: Der Mensch der Zukunft lebt heute schon. Aber er muss noch manche Krise meistern, für welche die heute schon absehbaren Risiken der Großtechnik (Atomenergie, Computer, Genmanipulation) paradigmatisch sind.
(Daraus wurde Ende 1987 das Taschenbuch Im Zeichen einer neuen Zeit.)
“Auf dem Weg zum Homo futurus” nannte ich fünf Jahre später (Oktober 1990) meinen Beitrag in einer Serie der Zeitschrift Psychologie heute über das ominöse Datum “Freitag, der 13. Oktober 2025 und das Jahr 2050.
Nochmals zwei Jahre später war ich dann richtig in der Zukunft angelangt – mit meiner ersten eigenen Website, die ich nannte: homo-futurus.com. Am 27. März 1998 ging die Site online.

PS: Herzlichen Dank an Wolfie Baum, der mir die komplette Ausgabe des C.C.Rider zum 75. Geburtstag kopiert und geschenkt hat.

Bibliographie
Baum, Wolfgang & Jürgen vom Scheidt und andere: C.C.Rider. Club-Zeitschrift des Cool Circle. Gauting 1958 (Selbstverlag).
Scheidt, Jürgen vom: Im Zeichen einer neuen Zeit. Freiburg i.Br. 1987 (Herder-Bücherei).