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Kreativität

Greta Thunberg ist erwachsen geworden?

Ich dachte, das wäre sie schon längst. Seit sie sich als Vierzehnjährige mit ihrem weltberühmt gewordenen Plakat auf die Stufen des schwedischen Parlaments setzte, hat sie eine Rolle zu spielen begonnen, in der sie auf mich bereits weit erwachsener wirkt als die meisten “Erwachsenen” auf diesem Planeten, die höchst selten ihre Verantwortung für das “Große Ganze” realisieren und ernst nehmen. Nun ist sie, am 03. Januar 2021, also 18 geworden und somit “volljährig”.

Was für eine Kreativität – mit so einfachen Mitteln eine weltweite Bewegung wie Fridays for Future in Gang zu setzten, Gast zu sein und Gesprächspartnerin auf Augenhöhe in den höchsten Gremien des Planeten (UNO, Weltwirtschaftsgipfel in Davos, deutsches Bundeskanzleramt). Und mal nebenbei Abitur machen.

In diesem Sinne aus der digitalen Ferne: “Happy Birthday, Greta!”

Dieses Poster des Time Magazine und die Auszeichnung als “Person of the Year” hast du wirklich verdient:

Greta Thunberg auf dem Titelblatt des Time Magazine vom 30. Dez 2019

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3 (drei) Autobiographisches Science-Fiction Technik

Von “Jim Parker” zum Weltraumschrott

Weihnachten 1948 machte ich mich zum ersten Mal mit einer Weltraumrakete auf die Reise und landete Auf unbekanntem Stern (wie meine erste Zukunftslektüre betitelt war). Richtig zur Sache resp. in den Orbit ging es 1953 mit der Heftchen-Serie Jim Parkers Abenteuer im Weltraum. Das Motto war damals, etwas salopp ausgedrückt: “Eine Raumfahrt, die ist lustig” (frei nach einem Schunkelschlager zur christlichen Seefahrt aus dem Jahr 1935). Erste Stationen ins All waren in allen Raumfahrtträumen zwei Monde:
° Luna, der echte Trabant der Erde,
° und ein künstliche Begleiter, der unseren Planeten im stationären Orbit umkreist, eine Raumstation.

Titelbild von Heft 4 der Heftserie “Jim Parker” (mit anderem Logo des Nachdrucks von 2012 _ Mohlberg-Verlag)

“Lunetta” hat Wernher von Braun letztere schon als 17jähriger Pennäler im Internat “Schloss Bieberstein” in einer Kurzgeschichte genannt und zwar 1930 – fünf Jahre vor dem Schlager “Eine Seefahrt, die ist lustig”. Später, nachdem er in den 40er Jahren mit der V2 London bombardiert hatte und nach Kriegsende als Top-Wissenschaftler in die USA geholt worden war, veröffentlichte er in den 50er Jahren drei großformatige Bildbände, die für seine Weltraumträume als Erwachsener standen:
° Eine sehr viel detaillierter ausgeführte Raumstation samt genauen Konstruktionsplänen (man hat sie allerdings nicht ihm folgend “Lunetta” genannt, also “Möndchen”, sondern technisch-nüchtern “International Space Station (ISS)”);
° der erste bemannte Flug zum Mond
° und als drittes logischerweise den Flug zum Mars, von Brauns eigentliches “großes Ziel”, zu dessen Verwirklichung Raumstation und Mondlandung nur wichtige Zwischenschritte waren.
Die Mondlandung am 21. Juli 1969 hat von Braun (1912-1977) noch erlebt, denn die wurde vorgezogen, weil Kennedy es den Russen zeigen wollte: Wer die wahrhaftigen Weltraumpioniere waren – nämlich nicht die Hündin Laika oder der Erdumkreiser und allererste “Kosmonaut” Gagarin – sondern zwei amerikanische Piloten, die man ab da Astronauten nannte. Die ISS wurde erst ab 1998 gebaut.

Auf der Raumstation lebt man nicht ungefährdet

Auf der Raumstation war ich schon lange vorher mit Jim Parker gewesen – in Heft 4 der Serie mit dem Titel “Auf dem künstlichen Mond”. 1953 war das, und es galt dort allerlei Abenteuer zu bestehen, welche heutige Astronauten in der ISS nur den Kopf schütteln oder (etwa bei Schießereien an Bord zwischen hauchdünnen Stahlwänden) die Haare zu Berge stehen lassen würden.
Für letzteres gibt es ganz andere Gründe: Wenn etwa das Klo verstopft ist. Oder ein winziger Meteorit ein Leck schlägt. Immer wieder sind schwierige Korrekturmanöver nötig, weil ein vergleichsweise dicker Brocken künstlicher Herkunft die Bahn kreuzt: Überreste kleinerer Satelliten und von Raketen ziviler oder militärischer Herkunft, prosaisch, aber sehr treffend als Weltraumschrott bezeichnet.

Das folgende Zitat stammt nicht etwa aus Jim Parkers Abenteuer “Auf dem Künstlichen Mond” – sondern aus der aktuellen Tageszeitung:
Von Männerdomänen lässt Kristina Nikolaus sich nicht abschrecken. “Oft bin ich die einzige Frau am Tisch”, sagt die 26-Jährige, denn die Raumfahrtindustrie sei eben noch immer eine Branche, in der mehr Männer als Frauen arbeiten. Als Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Okapi Orbits trägt Nikolaus bereits Verantwortung für ein elfköpfiges Team, das eine Software entwickelt hat, um Kollisionen im Orbit zu verhindern. Die kommerzielle Raumfahrt wachse rasant und damit auch das Problem mit dem Weltraumschrott.
Immer wieder geraten beispielsweise ausgediente Forschungssatelliten auf Kollisionskurs. Manchmal rasen sie mit nur wenigen Metern Entfernung aneinander vorbei. Kommt es aber zum Crash, hinterlässt der Zusammenprall tonnenweise Weltraumschrott, der unkontrolliert mit zigtausend Stundenkilometern um die Erde kreist.

Nur nebenbei: Es ist typisch, dass zwar Männer diesen Schrott dort oben im Orbit erzeugen und hinterlassen – und dass sich nun eine Frau ans Aufräumen macht. Das ist wie nach jedem Krieg: Die Männer schlagen sich mit “Hurra” (oder auch ängstlich leise) die Köpfe ein – die Krankenschwestern in den Feldlazaretten und Militärhospitälern und dann zuhause die Mütter und Ehefrauen versorgen die Wunden. Wenn überlebt wurde.

Nebenprodukt einer Drogenberatung

Die eingangs erwähnte Story “Lunetta” von Wernher von Braun bekam ich 1970 während einer mehrtägigen Drogenberatung in Schloss Bieberstein stolz von den Lehrern aus dem Archiv des Internats präsentiert. Dank der Vermittlung meines Freundes Jesco von Puttkamer aus der gemeinsamen Zeit im “Science Fiction Club Deutschland” (ab den 60er Jahren Mitarbeiter von Wernher von Braun in Huntsville) bekam ich vom Konstrukteur der Saturn-Mondrakete die Erlaubnis, “Lunetta” in meiner Anthologie Das Monster im Park nachzudrucken. Es geht nichts über gute Beziehungen.

Quellen
Braun, Wernher von: “Lunetta” – s. Scheidt 1971
Kolnberger, Anton F.: Auf unbekanntem Stern. Nürnberg 1948 (Die Egge).
Scheidt, Jürgen vom: (Hrsg.): Das Monster im Park. Erzählungen von Wernher von Braun bis Arthur C.
Clarke. München 1970 (Nymphenburger Verlagshandlung.).
Tjörnsen, Alf: Jim Parkers Abenteuer im Weltraum: Auf dem künstlichen Mond (+ 3 weitere Hefte).
(Rastatt 1953_Pabel-Verlag). Köln 2012 (Mohlberg Verlag).
Seeburg, Carina: “Wilder Westen im Orbit”. In: SZ #02 vom 04. Jan 2021, S. 17 (Wirtschaft: Nahaufnahme).

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Entschleunigung Science-Fiction

Wurmlöcher im Alltag angekommen

Hätte in den 1950er Jahren jemand in der Tageszeitung einen Artikel mit der Überschrift “Im Wurmloch” versehen, hätte auch ich nur “Bahnhof”* verstanden, obwohl ich mich schon als Schüler ganz gut mit Begriffen der Astronomie und Kosmologie auskannte und mit denen der Science-Fiction sowieso. Auch noch vor zehn Jahren hätte ein Redakteur so einen Neologismus kaum in einem Artikel verwendet (und schon gar nicht in der Überschrift), ohne ihn zu erklären.

* Das wäre allerdings gar nicht so falsch gewesen, den Wurmlöcher dienen bekanntlich dem überlichtschnellen Transport zwischen weit voneinander entfernten Gegenden des Weltraums – in der Science-Fiction ist das jedenfalls so.

Aber inzwischen ist wohl eine Generation nachgewachsen, die mit utopischen Abenteuer-Serien wie Star Trek (Raumschiff Enterprise), Krieg der Sterne, Babylon-5 und vielen Kino-Blockbustern wie Avatar und Guardians of the Galaxy aufgewachsen ist und diese Technologie zur ultraschnellen Überbrückung von Raum und Zeit bestens kennt. Eine Generation, die sogar aus Computer-Spielen weiß, das ein Wurmloch eine Art Tunnel zwischen den Dimensionen ist, der Abkürzungen im Hyperraum ermöglicht – so etwas wie ein Schwarzes Loch auf der einen Seite und ein Weißes Loch auf der anderen – nur nicht so gefährlich, irgendwie sanfter. Science-Fiction halt.
Alles klar?
Ob diese neue Generation allerdings den Wirtschaftsteil der SZ liest? Ob sie überhaupt noch liest – außer dem, was in der Schule verlangt wird?

Helmut Martin-Jung verwendet “Wurmloch” so selbstverständlich, als wüsste jedermann (und jede Frau) Bescheid. Und das finde ich so spannend, weil es ein Hinweis darauf ist, dass SF inzwischen mitten im Alltag angekommen ist. In derselben Glosse im Wirtschaftsteil kommt gleich noch ein zweiter Ausdruck vor, den man vor nicht allzu langer Zeit nur in einem utopischen ‘Roman (oder einem sehr speziellen Sachbuch mit futurologischen Themen) verwendet hätte: “Fortbestand der Menschheit“. Es ging in dieser Glosse übrigens, was nicht unwichtig ist, um den Stress vor dem Weihnachtsfest und diese Formulierung sollte das satirisch überhöhen:
“Aufgaben, die schon vor Ewigkeiten hätten erledigt werden können, müssen unbedingt vor diesem Termin getan werden, auch wenn das für besagten Fortbestand der Menschheit wirklich keine Rolle spielt.”

Einen Begriff habe ich allerdings in diesem Text vermisst, denn in der Unterzeile nach dem Titel “Im Wurmloch” geht es so weiter:
“Warum zum Weihnachtsfest Gelassenheit die beste Devise ist.”
Da hätte doch auch das Wort Entschleunigung bestens gepasst, und ich hätte auf meiner privaten Hitliste dieses Begriffs wieder mal ein Strichlein machen können. Aber “Gelassenheit” ist auch okay, als Synonym von Entschleunigung (oder umgekehrt?).

Quelle
Martin-Jung, Helmut: “Im Wurmloch”. In: Südd. Zeitung vom 24. Dez 2020, S. 24 (Wirtschaftsteil).

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Autobiographisches CoronaPandemie Haiku

Fürsorge – oder Angst?

Kennen Sie das auch? Sie laufen in der Stadt. Jemand kommt Ihnen entgegen. Sie haben keine Schutzmaske aufgesetzt. Die entgegenkommende Person hat keine Schutzmaske aufgesetzt. Sofort ist das das fatale Wörtchen “Aerosolwölkchen” in ihrem Bewusstsein.

Soll man da vorsichtshalber die Maske herausfingern und aufsetzen?

Soll man das Gesicht abwenden – den Atem anhalten?

Noch seltsamer wäre die Situation, wenn man diese Person kennt – vielleicht sogar gut kennt, als Nachbar im Haus. Da kann man doch nicht das Gesicht abwenden. Da kann ja auch nichts passieren, die kennt man doch. Von wegen!

Aber was weiß man denn über andere Leute? Nicht einmal die Mitglieder der eigenen Familie sind doch “sicher negativ”. Denn die Enkelkinder können sich in der Schule angesteckt haben. Vor Tagen schon. Die Eltern (also die eigenen Kinder) können sich bei ihren Kindern angesteckt haben.

Ein paranoider Teufelskreis der Gedanken beginnt im Kopf zu rotieren.

Aber ist das nur die Angst vor Ansteckung – oder spielt da nicht auch eine gewisse Fürsorge mit – das man die anderen schützen möchte, fall man selbst (noch unerkannt) das Virus mit sich herumträgt und weitergibt?

Erleichterung: Die entgegenkommende Frau ist einige Meter vor der Begegnung in ein Haus getreten. Gerettet. Trotzdem den Atem noch ein wenig anhalten. Bis etwaige Aerosolwölkchen verweht sind, sich am Boden abgesetzt haben. Wenn da nur nicht dieser feine Parfümduft nachwehen würde, ganz zart, nicht unangenehm. Aber eben auch – ein Aerosolwölkchen!

Was soll´s. Wir müssen alle mal sterben. Aber bitte nicht mit Corona-Erstickungsanfällen auf der Intensivstation.

Zuhause bleiben. Sich einbunkern. In freiwilliger Quarantäne –

Nein, kommt nicht infrage. Maske aufsetzten. Immer die Maske aufsetzen. Die meiste Zeit jedenfalls. Man kann ja die Nase frei lassen. Und wenn einem jemand zu nahe kommt – hochziehen das Visier. Wie Ritter Kunibert, bevor er in die Schlacht zieht.

Wie wär´s mit einem Haiku als Abwehrzauber, ironisch distanzierend:

Der Feind kommt näher.
Auf die Maske – hoch das Visier.
Wieder gerettet.

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Autobiographisches Fiction Kindheit Krieg Psychologie Schreiben Science-Fiction Zukunft

Kriegskinder und Kriegsenkel

Wenn man im Februar 1940 geboren wird, ist man ein Kriegskind. Was das bedeutet, habe ich erst lange nach meinem Studium der Psychologie erfahren und viele Jahre nach zwei Psychoanalysen.

Das Thema Kriegskindheit blubberte erstmals 2003 in mein Bewusstsein nach der Lektüre eines Vortrags von Michael Ermann, der um die Jahrtausendwende (in nicht autorisierter Abschrift) durch die Psycho-Szene geisterte und über eine Freundin einer Freundin meiner Frau Ruth schließlich bei mir landete. Ich habe mir, wie elektrisiert von dem Thema, gleich das Büchlein von Peter Heinl besorgt, das die Grundlage des Vortrags war – und habe es zweimal in einem Zug durchgelesen.

Warum habe ich wohl 1959 (das muss nach dem Abitur in einer schöpferischen Zwischenzeit gewesen sein) diese Tusche-Graphik mit dem Titel “Krieg im Weltenraum” gezeichnet? Nicht etwa, weil ich kriegsbegeistert bin (wie einst mein Großvater Karl Hertel) – ganz im Gegenteil. (Die Antwort folgt weiter unten.)

Krieg im Weltraum. (JvS – Tuschezeichnung Aug 1959)

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Publikationen über Kriegskinder – und längst auch über die Kinder dieser Kriegskinder – die Kriegsenkel. Es fiel mir wie die sprichwörtlichen “Schuppen von den Augen”, als ich Gefühle und Situationen entdeckte, die ich selbst als Kind erlebt hatte – allen voran die Nicht-Existenz eines Vaters. Letzteres war meine Situation zum Glück nur in den ersten fünf Lebensjahren: Mein Vater kehrte im Juli 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft und somit aus dem Krieg zurück, und zwar zumindest körperlich unversehrt (dass es so etwas wie seelische Traumatisierungen gibt, lernte ich auch erst sehr spät). Aber der frühe Mangel ist nun mal prägender als alles, was später kommt.

Erst lange danach fiel mir ein, dass ich mich mit den “abwesenden Vätern” schon vorher in meiner Dissertation Der falsche Weg zum Selbst befasst hatte.

Kriegs-Geschichten – weit weit weg

Aber erst als ich – nochmals fast zwei Jahrzehnte später – 2020 mit der Arbeit an diesem Blog begann, begriff ich, warum das Thema Krieg, wie selbstverständlich, in meinen Erzählungen auftaucht – und zwar von Anfang an. Zwei meiner allerersten Kurzgeschichten (“Nur ein kleiner Fehler”, “Eine unter vielen”) handeln von zukünftigen Kriegen auf fernen Planeten – ja, möglichst weit weg sollte das sein. Auch in meinem ersten Roman Männer gegen Raum und Zeit geht es gegen Ende richtig kriegerisch zur Sache: Mit der Zerstörung des sagenhaften Kontinents Atlantis hier auf der Erde – was nur das Echo eines noch viel gewaltigeren Krieges weit weg im Weltraum ist. (Der Roman spielt in fernster Zukunft – aber der Untergang von Atlantis schlägt eine Brücke viele Jahrtausenden zurück in die Vergangenheit – in der Science-Fiction geht das problemlos.)

In meinem zweiten Roman Sternvogel geht es viel zivilisierter zu: Die “richtigen” Kriege sind dort von Handelskriegen weit friedlicherer Art abgelöst.

Aber in meinem dritten Roman, Der geworfene Stein, geht es wieder richtig zur Sache”: Ein Atomkrieg hat die Erde verwüstet, die Menschen leben in wenigen Rückszugsgebieten unter schützenden Energiekuppeln (München ist eines dieser Reservate). Mongolische Horden durchstreifen den Kontinent, eine ist schon bis nach Starnberg vorgedrungen. Und aus Afrika attackieren feindliche Jets die einstige bayerische Hauptstadt. Aber es gibt eine Art Happy-end: Die Geschichte geht gut aus. Für´s erste. (Möge uns das erspart bleiben – Corona ist lange nicht so schlimm wie Krieg.)

Und was ist mit den Kriegsurenkeln?

Hat man den Mechanismus der (mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur psychischen) Weitergabe von Kriegstraumata an die Nachkommen erst einmal akzeptiert und ist einigermaßen sensibilisiert für die Bedeutung solcher Weitergaben, gibt es eigentlich nur eine richtige Antwort auf die damit verbundenen Fragen und Probleme:
Man muss beginnen, diese Altlasten im eigenen Leben aufzuarbeiten- damit man sie nicht weiter “vererbt”. Als ich 1965 aus ganz anderen Gründen (die an der Oberfläche mit meinem Studium zu tun hatten) eine Psychoanalyse begann, dacht ich nicht daran, dass ich damit auch anfing, diese Altlasten anzuschauen und ihre Narben zu erkennen. Und dass dies eine Möglichkeit war, sie nicht an eigene Kinder weiterzugeben. Damals wollte ich gar keine Kinder haben (eine Art Selbstschutz vor solcher Verantwortung?). Die Psychoanalyse war erfolgreich. Ich traute mir irgendwann sogar drei Kinder zu. Und hoffe, dass ich keine Kriegstraumata an sie weitergegeben habe – was letztlich sogar die noch spätere Generation belasten könnte (das wären dann “Kriegsurenkel”) .

In der Bibel steht viel Unsinn aus vorwissenschaftlichen Zeiten. Aber sie transportiert doch auch einige Urweisheiten, die zeitlos gültig sind. Eine davon hat mich immer schon beeindruckt, was noch verstärkt wurde durch die Beschäftigung mit der “Kriegskinder”-Problematik:
Die Sünden der Väter werden gerächt bis uns dritte und vierte Glied” (und manchmal sogar bis ins “siebte Glied”.
Es gibt dazu inzwischen einen eigenen Forschungsbereich in der Psychologie: Die Transgenerationale Traumaweitergabe. In der Wikipedia findet man dazu noch keinen Artikel (Stand: 11. Jan 2021) – aber wenn man den Begriff googelt, entdeckt man so allerhand.

Quellen
Heinl, Peter: Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg (1994) München 2003 / 3. Aufl. (Kösel).
Scheidt, Jürgen vom: “Nur ein kleiner Fehler“. In: Utopia-Magazin Nr. 6. Rastatt 1956 (Pabel Verlag).
ders.: “Eine unter vielen”. Füller in: Williamson, Jack: Die Zeitlegion.
ders.: Männer gegen Raum und Zeit (Leihbuchausgabe). Wuppertal-Barmen 1958 (Wieba).
ders.: Sternvogel. Minden 1962 (Bewin)..
ders.: Der geworfene Stein. Percha bei München 1975 (R. S. Schulz).
ders.: Der falsche Weg zum Selbst. Studien zur Drogenkarriere. München 1976 (Kindler-Verlag, Geist und
Psyche). Überarbeitete Neuausgabe Frankfurt am Main 1984 (Fischer Taschenbuch).
Williamson, Jack: Die Zeit-Legion – Utopia-Großband Nr. 65. Rastatt 1958 (Pabel-Verlag).

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Fiction Krieg Science-Fiction Zukunft

Nur ein kleiner Fehler (Story)

(So kündigte Walter Ernsting 1956 diese Kurzgeschichte von mir 1956 an:
Die Reihe soll phantasiereichen und schriftstellerisch begabten Lesern der UTOPIA-Reihen die Gelegenheit geben, ihre selbstgeschriebenen Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Wir hoffen, dass die strenge Auswahl der eingehenden Manuskripte auch die Zustimmung der Freunde des UTOPIA-Magazins findet und sie die gleiche Freude an den Geschichten haben werden wie wir.)

Es war meine erste richtige Veröffentlichung. 10.00 Mark gab es dafür – vom Postboten an der Wohnungstür ausgehändigt Und dies war das Titelbild des Magazins:

Erforschung des Planeten Mars – Utopia-Magazin Heft 6 (Morris Scott Dollens – Pabel-Verlag 1956)

Nur ein kleiner Fehler

Pausenlos fluteten die lebensvernichtenden Strahlenschauer über das zernarbte Antlitz des Planeten. An bestimmten Punkten außerhalb der vergifteten und ionisierten Atmosphäre waren die Transformatorraumkugeln stationiert. Sie zapften die Sonne, einen gelben und verzwergten Typ, mit hochfrequenten Wellenlängen an, wandelten die aus dem positronischen Sonnenpotential gewonnenen Energien und bestrichen damit die gesamte Oberfläche der sterbenden Welt.
In einer der Kugeln, die sich schon durch ihre Größe von den übrigen hundert unterschied, unterhielten sich die beiden Aktionsleiter.
„Unsere Bombenkommandos haben gute Vorarbeit geleistet. Alle größeren Ansiedlungen liegen in Schutt und Asche, zertrümmert von den Platinreaktionsbomben. Alles übrige Leben haben die Strahlen und die verseuchte Atmosphäre vernichtet.“
„Du meinst, wir sollten die Vorbereitungsarbeiten einstellen?“
„Ja. Ich werde einen entsprechenden Befehl gleich durchgeben. Die Landetruppen sollen sich bereitmachen; vorher werden wir beide jedoch einen Erkundungsflug vornehmen.“
Baki drehte sich um und entfaltete den Sprechfächer. Die Verbindung war hergestellt.
„An alle Stationen: Zapfstrahlen sofort unterbrechen. Die Reinigungsschiffe sollen mit dem Abwerfen von Stickstoffbakterien beginnen und die Atmosphäre regenerieren. Landekommandos sind innerhalb der nächsten sieben Stunden aufzustellen und sollen sich auf Abruf bereit halten. Ich wiederhole…”

                                                                                      *

Eine halbe Stunde später löste sich die Admiralskugel aus dem Verband und strebte mit wachsender Beschleunigung der Planetenoberfläche zu. In den tieferen Schichten der Lufthülle setzten mit flimmerndem Toben die Bremsstrahler ein und fingen die Wucht des Sturzes ab, führten sie in ein sanftes Schweben über.
Dann glitten sie in konstanter Höhe über den abrollenden Globus dahin und hielten auf dem Fernseher nach interessanten Objekten Ausschau. Baki und Odindo standen hinter dem Pilotensessel und unterhielten sich über verschiedene Sachen. Dabei kam die Sprache auch auf den Zweck ihres Forschungsfluges.
 „Wie lange sind wir jetzt schon unterwegs?“
“Nach den Kalenderuhren sind es sieben Jahre. Nachdem wir allerdings mit annähernder Lichtgeschwindigkeit geflogen sind, müssen wir die Zeitkontraktion mit einrechnen. Ich schätze, dass wir, nach nimischer Zeit, vor dreiundsiebzig Jahren gestartet sind. Es besteht also bereits eine Differenz von Sechsundsechzig Jahren…“
„… was im Grunde genommen gar nichts ausmacht“, ergänzte Baki Odindos Ausführungen. „Wir besiedeln diesen Planeten und bereiten ihn auf die große Flotte vor, die unsere überbevölkerte Heimat entlasten wird. Sie müssten eigentlich bald eintreffen, nicht wahr?“
„Es dürfte noch zwei Sonnenumläufe dauern. Bei unserer Abfahrt waren schließlich erst drei Siedlungsschiffe im Bau.“
Sie wandten sich wieder dem Fernsehschirm zu. Auf diesem wurde gerade eine gewaltige Stadt sichtbar, die noch von Staubwolken verhüllt war. Ab und zu legte ein Windstoß die Wolken zur Seite und gab den Blick auf abgrundtiefe Atomtrichter frei, deren Ränder noch bösartig glühten. Türme ragten wie mahnende Finger in die Höhe; Türme, von denen nur noch der schlanke und verbogene Stahlkern existierte. Überall Chaos und leblose Schuttwüste. Nur an einer einzigen Stelle waren einige Gebäude verschont geblieben. Einsam und verlassen standen sie im Stadtzentrum; sogar der versengte Teppich eines Pflanzenwuchses hatte den glutigen Sturm der atomaren Explosionen überlebt.
Odindo tippte dem Piloten auf die Schulter und erklärte auf dessen fragenden Blick:
„Lande dort unten, bei den kuppelähnlichen Gebäuden. Wir möchten aussteigen und uns alles anschauen.“
Der Schiffsführer nickte und manipulierte mit der Steuerung. Sanft senkte sich die Raumkugel herunter und setzte auf. Die höllische Hitze des Bremsstrahlers setzte die letzten Reste der kümmerlichen Vegetation in Brand. Für Augenblicke umzüngelten die kleinen Flämmchen den Kugelriesen; es war, als raffe sich der Planet zu einer letzten Lebensäußerung auf. Ein Windstoß wirbelte die warme Asche auf, und der Funkenregen stob davon, setzte sich als schwarzer Belag auf die letzten weißen Stellen der Flachkuppeln.
Die Schleuse öffnete sich, und eine bequeme Treppe wurde ausgefahren. Stolz und sich des historischen Ereignisses vollauf bewusst, schritten Baki und Odindo die breite Rampe hinunter und betraten zum ersten mal das eroberte Land.
Tief bewegt umfassten sich die beiden Flottenkommandanten.
„Wir haben es geschafft!“ jubelten sie. Baki sagte feierlich:
„Das ewige Gesetz des Kosmos war uns günstig gesinnt: Töten oder getötet werden.“
„Ja! Wir leben, haben neuen Raum für unsere Rasse erobert.“
Dann gingen sie, durch kaum sichtbare Hüllen geschützt, auf die weißen Gebäude zu, die jetzt grau waren. Mit dem Fuß stieß Baki die halboffene Eingangstür vollends auf. Aber er sprang mit einem entsetzten Aufschrei zurück.
„Odindo!“ keuchte er und verfärbte sich. „Odindo! Was soll das bedeuten?“
Laut brüllend zeigte er auf den Körper, der ihm entgegengefallen war. Der Gerufene war auf einen anderen Bau zugegangen und drehte sich erstaunt um.
„Was gibt es denn? Eine Leiche? Das ist doch kein Grund zur Aufregung; es werden noch Milliarden davon herumliegen“, rief er zurück.
„Odindo! Du musst sofort hierherkommen. Erinnerst du dich noch, über was wir uns vorhin unterhalten haben? Vor dreiundsiebzig Jahren sind wir von zu Hause gestartet -“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Odindo und kam gemächlich näher. „Ich weiß. Und in zwei Jahren wird die Siedlungsflotte eintreffen. Stimmt’s?“
Baki schüttelte den Kopf und sagte dann mit leiser, aber furchtbarer Stimme: „Nein. Nicht in zwei Jahren. Wir haben den technischen Fortschritt übersehen. Die Siedlungsflotte war schon vor uns da!”

ENDE

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: “Nur ein kleiner Fehler”. In: Utopia-Magazin Nr. 6. Rastatt 1956 (Pabel Verlag).

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Krieg München Zufall

“I bombed Munich”

Das Paar, das ich im “Hotel Victoria” am Bahnhofsplatz in Brig etwa 1992 beobachtete, hatte sichtlich ein Problem: Die Frau war irgendwie nicht gut zu Fuß. Mir fiel ein, dass man gleich gegenüber in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Rollstühle ausleihen konnte. Das hatte ich zufällig einmal mitbekommen, denn in diesem Bahnhof bin ich viele Jahre mehrmals im Jahr bei meinen Wallis-Reisen gewesen.

Ich bot meine Hilfe an und so kamen wir ins Gespräch, das bald eine ungeahnte Wendung nehmen sollte. Das Paar stammte aus Amerika und wollte Urlaub hierin der Gegend machen. Die Frau war gestützt und so wollten die beiden mit dem Zug nach Genf zu einer Klinik – aber wie die Reise dorthin bewältigen? Das technische Problem war rasch geklrt und ein Rollstuhl beschafft. Die Zeit zur Abfahrt ihres Zuges nach Genf nützten wir für ein langes Gespräch auf Englisch – sie dankbar für meine Hilfe und ich dankbar, “to polish up my English”.

Man fragte natürlich auch nach dem “woher”. Den amerikanischen Heimatort der beiden weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, was geschah, als ich im Gegenzug “Munich” als meinen Ort nannte. Plötzlich wurde der Mann (er muss damals so um die 70 gewesen sein) sehr still und sagte schließlich sichtlich beklommen:

“During the war, I was pilot with the Air Force. And I bombed Munich.”

Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm erklärte, dass ich zwar heute in München leben würde – aber dorthin erst 1956, also lange nach dem Krieg umgezogen sei.

Seltsam, dass mir das gerade jetzt wieder einfällt, wo in den USA dank Donald Trump alles drunter und drüber geht und Gewalttaten ganz anderer Art die Medien dominieren. Wo die Barbaren in das Capital eindringen und es verwüsten. Für mich war es damals, im “Hotel Victoria”, Anlass gewesen, zu erzählen, wie dankbar ich als Kind war, dass die Amerikaner im Mai 1945 in Rehau auftauchten und der Krieg endlich zu Ende war. Dass wir mit den jungen GI´s, die unseren Ort an den Ausfallstraßen “bewachten”, spielen durften. Dass ein junger GI, der mit meinem Vater im Militär-LKW ins benachbarte tschechische Pilsen fuhr, um dort Bier zu organisieren, und dessen Namen ich nicht kannte, mein großer Freund wurde, den ich “Herr Mister” nannte, nicht wissend, dass das doppelt gemoppelt war (heute würde ich sagen: ein Oxymoron).
Dass ich der von den Amerikanern bald eingerichteten zweisprachigen Bibliothek viele spannende Bücher verdankte…

Dass ich den amerikanischen Piloten, die in diesen unheimlichen Bomberschwärmen während des über unseren Köpfen Richtung München oder Berlin oder Leipzig oder Dresden mit ihrer zerstörerischen Last flogen, auch so manchen Albtraum und den Schrecken der Sirenen verdanke (die mir noch heute reflexartiges Erstarren auslösen) – das erzählte ich nicht. Vielleicht ist es mir da auch gar nicht eingefallen. Rehau wurde ja nie bombardiert. Und Brig 1992- das war eine völlig andere Zeit und ein völlig anderer Ort – und auch die Menschen waren völlig anders. Eine dieser seltsamen Zufallsbegegnungen, die scheinbar Unvereinbares plötzlich in einen Zusammenhang bringen.

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Allgemeines

Der Älteste seiner Art

In jedem Beruf gibt es jemanden, irgendwo auf der Welt, der oder die selbst im hohen Alter noch aktiv ist. Zum Beispiel den Pianisten Jegal Sam – mit 96 Jahren noch immer in Südkorea aktiv. Er möchte “der älteste Klavierspieler der Welt werden”, erzählte er in einem Interview (s. unten).
Ich habe auch so einen Ehrgeiz: Ich möchte der “älteste publizierende Schriftsteller der Welt” werden. Da habe ich noch einige Konkurrenz vor mir, denn ich bin erst 80 Jahre alt. Jack Williamson zum Beispiel, ein bekannter amerikanischer SF-Autor, hat mit 98 noch eine Anthologie mit eigenen Geschichten veröffentlicht; kurz darauf starb er. Kein allzu gutes Omen.
Ernst Jünger (1895-1998), bekannter deutscher Autor, wurde 102 Jahre alt. Veröffentlicht hat er vor seinem Tod kaum mehr – “Weiße Nächte” erschien immerhin 1997, da war er schon 101 .

Mein Traum: 110 Jahre alt werden und noch veröffentlichen (vielleicht hier im Blog), wie ich dieses Jahr erlebe, über das ich 1992 in Psychologie heute einen Beitrag über den Homo futurus geschrieben habe. Ich wüsste zu gerne, wie dieses Jahr wirklich beschaffen sein wird. –

Hier ein Auszug des Artikels über den koreanischen Pianisten:
Da sitzt er am Flügel, ein kleiner Mann, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Beiges Jackett, schwarze Fliege. Er haut nicht in die Tasten, er streichelt sie. Das ist Jegal Sam, 96 Jahre, Pianist aus Südkaorea. Er möchte der älteste Klavierspieler der Welt werden, erzählt er der BBC, die einen Beitrag über ihn mit diesem Konzertmitschnitt einleitet. „Das Klavier und ich sind eins – wie kann ich ohne es leben?“ Seit 86 Jahren übe er täglich, 50 Jahre unterrichtete er, das, glaubt er, hat ihm das Leben gerettet: Er sollte zum Koreakrieg eingezogen werden, aber für Lehrer galt eine Ausnahme – auch für jene, die Klavierstunden gaben.

Quelle:
Linnartz, Mareen: “Klänge der Erinnerung”. In: Südd. Zeitung Nr. 03 vom 05. Jan 2021, S. 10 (Panorama)

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Entschleunigung Labyrinthiade

Labyrinth – Irrgarten – Yrrinthos?

Ein sehr treffendes Bild für den Ausgangszustand eines Romans ist der Irrgarten. Der Autor hat zunächst ja nur eine Fülle von Ideen, die wirklich sehr verwirrend sein können – sieht man einmal vom (auto-) biographischen Fall ab, bei dem die Chronologie eines Lebenslaufs die Reihenfolge der Elemente einigermaßen klar vorgibt (obgleich man hier durch Rückblenden und Vorblenden literarisch anspruchsvolle Kunstgriffe zur Verfügung hat). Geht der Autor in diesen Irrgarten immer wieder hinein, indem er (oder sie) den Text immer wieder überarbeitet, wird der Weg durch dieses geistige Gebilde immer klarer. Und später wird ihm der Leser gerne folgen.

Aus der Labyrinth-Sage ist uns vertraut, wie der Held Theseus seinen Weg in dieses Gewirr von Gängen und Sackgassen hinein und wieder heraus findet: Weil ihm Prinzessin Ariadne ein Hilfsmittel mitgibt, das man als eine Art antikes Navi bezeichnen könnte: Den nach ihr benannten Ariadnefaden*.

* Der müsste eigentlich Daidalos-Faden heißen, denn Daidalos, der das Labyrinth ersonnen und erbaut hat, erfand auch jene hilfreiche Garnspule – die jedoch nichts anderes sein kann, als der Bauplan dieses schrecklichen Verließes.


Echte Labyrinthe und Irrgärten

Es gibt zwei Arten von Labyrinthen: die echten und die, welche eigentlich Irrgärten sind. Der Unterschied zwischen beiden:

° In einem “echten” Labyrinth (auch als “kretisches Labyrinth” bezeichnet) kann man sich gar nicht verirren, weil es aus einem einzigen, wenngleich verwirrend hin- und hermäandernden Gang besteht, in den ein einziger Eingang hineinführt – der logischerweise zugleich der einzige Ausgang ist.

° In einem Irrgarten, mit seinen vielen Wegmöglichkeiten, Verzweigungen, Sackgassen und mehreren Ein-/Ausgängen kann man sich sehr wohl verirren.

Letzteres – eben ein Irrgarten – ist eigentlich fast immer gemeint, wenn von einem “Labyrinth” die Rede oder Schreibe ist.

Da es sich dabei meistens um gar keinen “-garten” handelt, sondern beispielsweise metaphorisch um “das Labyrinth des Lebens” oder das “Labyrinth der Großstadt” oder das “Labyrinth des Schweigens” (in denen man sich sehr wohl leicht verirren kann) habe ich das Kunstwort Yrrinthos erfunden, das alle diese “Irrgarten-Labyrinthe” meint, die eben kein “-garten” sind und schon gar nicht ein eingängiges “kretisches Labyrinth”.


Steigerung der Verwirrung

Dies ist ein “kretisches Labyrinth” mit nur einem Ein-/Ausgang und einem einzigen Gang, in dem man sich nicht verlaufen kann (Graphik J v Sch 2008)

So ein “eingängiges” Labyrinth kann man durch Einfügen von Abzweigungen und Sperren nach und nach in einen Irrgarten oder ein Yrrinthos verwandeln:

Abzweigungen öffnen – Sperren einbauen – dann wird es ein Irrgarten (Graphik: J v Sch 2008)

Fügt man noch weitere Verwirrung hinzu, indem man Sackgassen und zusätzliche Ein-/Ausgänge anbringt – dann wird es ein richtig verwirrender Irrgarten – oder eben, wenn es kein Garten ist, ein Yrrinthos:

Dies ist ein Irrgarten – mit mehreren Ein- und Ausgängen, Verzweigungen, Sackgassen (Graphik: J v Scheidt 15. Feb 2008)



Die ganze Sache wird noch verwirrender

… weil nämlich
° die älteste Darstellung eines “eingängigen Labyrinths” in der Tat auf Kreta entdeckt wurde,
° die Geschichte von Theseus und seinem Kampf mit dem Minotauros und dem rettenden Roten Faden der Prinzessin Ariadne aber fraglos in einem irrgartenähnlichen unterirdischen Verließ spielt (weshalb ich dieses lieber nicht als “Labyrinth”, sondern eben mit dem Kunstwort Yrrinthos bezeichnen möchte).

Beide Varianten, das “echte” wie das “vorgebliche” Labyrinth, werden jedoch durch etwas verbunden, was immer vorhanden ist, wenn von welcher Art Labyrinth auch immer gehandelt wird: der sprichwörtlich gefundene “Rote Faden” (von mir bisher mit dem Ariadnefaden gleichgesetzt). Er ist das, was in welchem Labyrinth auch immer den Weg finden lässt, was Ordnung in der Verwirrung stiftet
– und was für das Schreiben so unglaublich wichtig ist, weil ohne Roten Faden kein Text verständlich ist.

(S. auch den Beitrag: War Ariadnes Faden wirklich rot?

Zum Abschluss noch etwas richtig Labyrinthisches

In meiner Datenbank zu William Gaddis eingangs erwähnten Roman J R fand ich übrigens folgenden Eintrag:
“William Gaddis “J R” ist die Geschichte eines Finanzgenies an der Wallstreet:
“Der elfjährige JR spekuliert sich vom Schultelefon aus und mit Hilfe postalischer Geldanweisungen ein riesiges Finanzimperium zusammen…”

Ein irres Buch! Sehr anstrengend zu lesen, weil nahezu alles in Dialog- beziehungsweise Monologform stattfindet und ein traditioneller Handlungsverlauf kaum auszumachen ist bzw. vom Leser selbst entwickelt werden muss. Aber als Autor kann man daraus viel lernen.

Labyrinth-Nennungen in diesem Roman: S. 247, 248, 253, 273 (831: Daedalus). Und dies:
… mit einem diskret fischgrätergemusterten Labyrinth der Knitterfalten” (S. 247)

Man entkommt dem Labyrinth nicht – es ist immer und überall. Und noch etwas: Der Gang durch ein Labyrinth, gleich welcher Art, verlangsamt einen wie von selbst. Durchrennen ist nicht ratsam. Entschleunigung ist angesagt.

Lesefutter
Bittner, Michael: “Überfordert uns!”. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 283 vom 08. Dezember 2015 (Feuilleton).
Ceram, C.W.: Götter, Gräber und Gelehrte – Roman der Archäologie. (1949). Hamburg 1951 (Rowohlt).
Fischer, Meike: Der rote Faden. Eigene Fotoprojekte konzipieren und verwirklichen. Heidelberg 2015 (Dpunkt-Verlag).
Gaddis, Wiliam: J.R. (New York 1975). Frankfurt am Main 1996 (Zweitausendeins).
Gehring: Hansruedi: E-Mail vom 10. Dezember 2014.
Grant, Michael und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. (1973) München 1976 (List).
Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen – 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982 (Prestel).
Perec, George: La Disparition. (Deutsche Übersetzung von Eugen Helme von 1989: Anton Voyls Fortgang. Verlag Zweitausendeins).
Riordan, Rick: Percy Jackson und die Schlacht um das Labyrinth. (USA 2008) Hamburg 2010 (Carlsen).
Schmidbauer, Wolfgang: E-Mail vom 10. Dezember 2014.

(Ursprünglich: Post #296 meines Labyrinth-Blogs bei den SciLogs / JvS #1016 / SciLogs #1371/ Aktualisiert: 07. Jan 2021 / 26. Dez 2015/12:48 (23. Nov 2015/22:57)  / v

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GeistQuantenfluktuationen

Achtung – jetzt wird es winzig, richtig multimikroskopisch ultra nanomäßig klein. Und ein wenig science-fiction-artig. Aber es wird zugleich auch immens schreibpraktisch.

Quantenfluktuationen sind die kleinste vorstellbare Einheit der Welt – Manifestationen des Planck´schen Wirkungsquantums. Max Planck hat es sich als Grundlage der von ihm um 1900 begründeten Quantenphysik ausgedacht. Ausgedacht – das ist das Schlüsselwort. Niemand wird jemals ein solches Teilchen beobachten. Es ist ein geistiges Konstrukt, das man in die mathematischen Formeln der Quantenphysik einbauen kann. Das funktioniert bestens.
Harald Lesch stellt dafür in dem Film “10 hoch” eine gute Visualisierung vor: Aus dem Nichts (Vakuum) gemächlich aufblubbernde Bläschen. Sie “blubbern” natürlich nicht – sie geben keinen Ton von sich – “dort unten” im kosmischen Vakuum gibt es keine Töne. Aber das ist eine anschauliche Vorstellung.
Ich liebe dieses Wort “Quantenfluktuation” – das ist pure Poesie. Es ist sehr anschaulich (wenn man weiß, worum es sich handelt und den Film mit Lesch gesehen hat). Es passt bestens in jede Science-Fiction, die ja ihre ganz eigene technische und naturwissenschaftliche Sprache hat und – wenn sie gut ist – auch Poesie. Muss man aber mögen.

Als Jugendlicher zwischen Abitur und erstem Studiensemester habe ich mal während einer “malenden Phase” die folgende Skizze gezeichnet. Sie kommt heute in meiner Vorstellung dem am nächsten, was bei einer Quantenfluktuation geschehen könnte und sich eigentlich nicht beschreiben lässt. Aber man kann sich dem annähern. Als ich im Sommer 1959 das Bild anfertigte, hatte ich keine Ahnung von QF. Oder wie das sein könnte, wenn aus dem Unbewussten etwas in dieser Art aufsteigt und so etwas wie psychische Energie wird – die dann zum Beispiel zu so einem Bild gerinnt, wenn man dem Fluss der Energie folgt.

In vielfacher Vergrößerung: Aus der Schwärze des Vakuums emaniert ein Quant – könnte aber auch was anderes sein (JvS 1959-08-06)

GeistQuantenfluktuationen – was soll das denn sein?

Unter Geist versteht die Philosophie (und heute ihre moderne Tochter, die Psychologie) ein drittes* Element neben Körper und Psyche. Die heutigen Psychologen mögen den Begriff nicht sonderlich – da kann man nichts messen, wiegen, zählen. Aber niemand wird bestreiten, dass es so einen eigenständigen Bereich gibt. Denn Gedanken, als Grundelement des Geistes, sind nun mal nicht körperlicher Natur oder seelischer Art (wie die Gefühle). Beispiel: Das Wort “GeistQuantenfluktuationen”.

* Körper, Seele und Geist – das ist ein sehr schönes Beispiel für die Bedeutung der Zahl “3” – nicht nur in der Philosophie. Deshalb habe ich dafür eine eigene Kategorie eingerichtet: “3 (drei)”.

Ich habe mir diesen Begriff heute früh ausgedacht – nein: das Wort ist mir eingefallen. Es “fiel” buchstäblich in mein Bewusstsein ein, als ich nach etwas suchte, das den Vorgang beschreibt, der jeden Morgen bei mir abläuft, wenn ich nach dem Aufwachen erst einmal im Dunkeln sitze. Das ist meistens so gegen 05:00 Uhr, also im Übergang von der Nacht in den Tag, wo manchmal ein Traum nachschimmert (oder heftig nachhallt, wenn es ein Albtraum war), aber auf jeden Fall irgendwelche Gedanken, Ideen, Einfälle hochblubbern. Woher kommt das? Aus der Nacht- und Traumwelt. Aus dem seelischen Urgrund. Aus dem Unbewussten (wie Freud das nannte), oder aus dem Vorbewussten (wie ebenfalls Freud jenen anderen, bewusstseinsnäheren Bereich nannte, der schon einmal bewusst war, aber wieder vergessen wurde und so etwas wie die Quelle der Kreativität ist)
Inspiration nannte man das früher – vom griechischen Wort für “einhauchen”. Etwas wird eingehaucht. Etwas blubbert hoch – so wie die Quantenfluktuationen aus dem kosmischen Urgrund des Vakuums hochblubbern, sich zu Quarks und immer höheren, komplexeren Elementarteilchen zusammenfinden, Atome bilden daraus Moleküle, diese schließen sich zu Zellen zusammen – Leben beginnt – und auf der höchsten beobachtbaren Ebene: Menschen wie Sie und ich. Das kann man sich doch gut vorstellen, oder*?

* Was man sich nicht mehr vorstellen kann: Woher sollen denn diese Quantenfluktuationen kommen – wenn es “da unten” weder Raum noch Zeit noch sonst irgendetwas gibt? Eine Frage, auf die es niemals eine Antwort geben wird – genau wie auf diese Frage: “Was war vor dem Urknall?” – wo kommt diese ultrawinzige Materieballung her, in welcher das gesamte Universum enthalten ist und aus der es sich entfaltet, Raum und Zeit bildet –
Lassen wir das. Sonst landen wir noch im Irrenhaus, pardon: in der Landesnervenheilanstalt – so heißt das heute euphemistisch. Meint aber dasselbe: An der Welt irre werden – sich verlieren im Yrrinthos der Welt. (Zum “Yrrinthos” an dieser Stelle mehr.)

Continuos creation des Geistes: auch Kreativität genannt

Der Begriff “Quantenfluktuationen” ist wiederum ein sehr gutes Beispiel für das, was ich “GeistQuantenfluktuationen” nenne – ein Gedanke, der um 1899 in Max Planck hochgeblubbert ist, sich erst in Texten und Formeln des Gelehrten manifestierte und irgendwann Bestandteil des modernen naturwissenschaftlichen Denkens wurde. Er ist – obwohl niemand ihn je gesehen und beobachtet hat und dies niemals der Fall sein wird – ein Element der Wirklichkeit geworden.
Und vielleicht wird sogar, wenn andere diesen meinen Begriff aufnehmen und verwenden, die “GeistQuantenfluktuationen” ebenfalls zu einem Element der Wirklichkeit – obwohl dies nichts anderes als eine “GeistQuantenfluktuationen” ist, die heute früh in mir hochgeblubbert ist. Und selbst wenn sonst niemand den Begriff übernimmt – in meiner Wirklichkeit ist er nun da und macht mir anschaulich, was Kreativität ist (und auch Phantasie): Einfälle (die von irgendwo aus einem geheimnisvollen “oben” einfallen) – oder eben von “unten”, ebenso geheimnisvoll hochblubbern, aus den Archiven meines Gedächtnisses oder woher sonst sie entstehen mögen.
Continuos creation – das war in der Kosmologie lange die Beschreibung dessen, was im Kosmos ständig passiert. Einstein glaubte noch an dieses ständige Weiterfließen von Raum, Zeit, Materie und Energie “von irgendwoher”. Bis Hubble mit der Idee des Big Bang, des Urknalls daherkam. Die Kontinuierliche Schöpfung (die ja eigentlich keine war, oder? Wer soll den das “geschaffen haben?) lebt aber paradoxerweise immer noch weiter – eben als Konzept der – genau: der Quantenfluktuationen! Die ja unaufhörlich aus dem Vakuum, dem Nichts entstehen und neue Materie/Energie bilden…

Rätselhafte Welt, diese Physik. In der es allerdings auch andere Paradoxien gibt, wie die “Welle-Korpuskel-Dualität” des Lichts. Mit dem wunderbaren Nebeneffekt, dass Heisenberg mit seinem Unschärfe-Theorem die Psychologie in die Physik hineingeschmuggelt hat: Den Beobachter. Es liegt “im Auge des Betrachters” (so ungefähr hat das Shakespeare dies mal in Bezug auf die Schönheit formuliert), ob das Licht als Welle beobachtet wird – oder als Korpuskel.
Und es liegt “im Wollen des Handelnden”, ob er aus einem Blubber-Gedanken einen Song komponiert, eine Statue aus einem Stein haut, ein Gemälde gestaltet, einen Aphorismus kreïert, vielleicht sogar einen ganzen Roman mit tausend Seiten – oder vielleicht nur ein winziges Haiku.

“I bombed Munich”

Ein anschauliches Beispiel für eine GeistQuantenfluktuation habe ich dieser Tage Anfang Janaur 2021 erlebt, als irgend etwas (keine Ahnung mehr, was das war) eine Erinnerung an ein Erlebnis 1992 in Brig im Kanton Wallis auslöste. Ich habe es hier im Blog beschrieben. Das war natürlich nicht ich, der da bombte – aber vielleicht lesen Sie es hier im Blog nach: “I bombed Munich” .-

Und hier noch ein Haiku (eben in mir hochgebubbelt)

Geist Quan ten fluk tua tion – sechs Silben. Könnte man da vielleicht ein Haiku draus machen? Wie wär´s damit:

Quan ten fluk tua tion
So blub bert der Geist em por
Aus Rät sel tie fen

Zählen Sie es ruhig nach: 5- 7 – 5 Silben. Guten Morgen, allerseits.

Quelle
Windorfer, Gerhard und Lenz, Herbert (und Harald Lesch als Sprecher und Moderator): 10 hoch 26 bis -35: Universum und Quanten. Deutschland 2010 (Komplett Media).