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Psychopathen sind unter uns

Donald Trump und seine Anhänger sind wie Spiegelbilder voneinander. Der Präsdent kann seine Abwahl nicht annehmen – er schüttet seinen trotzigen Haas ins Land hinaus, fordert führende Politiker unverblümt am Telefon zum Wahlbetrug auf und hetzt seine Anhänger auf – die dann das Kapitol stürmen. So etwas wie den dieser Tage von ihm sehr offen angezettelten Aufruhr seiner fanatisierten Wähler kann man nicht mehr nur als “kriminell” bezeichnen: das ist offene Aufforderung zum Krieg gegen den politischen Gegner!

So direkt hat sich kaum jemand in der Weltgeschichte selbst ans eigene Messer geliefert.

Heute spricht man in der Psychologie lieber von Soziopathen als von Psychopathen, weil sich ihr zerstörerisches Verhalten sozial auswirkt. Aber der ältere Begriff passt schon: Es handelt sich um eine Persönlichkeitsstörung – wenn man den Großteil der Bevölkerung als “normal” (oder “normal gestört”) kategorisiert.
Alle, die nicht zu seinen glühenden unkritischen Verehrer zählen, sind sich einig, dass ein echter Psychopath derzeit noch immer im Weißen Haus in Washington sitzt. Nicht nur ich haben seine Abwahl deshalb als ausgesprochenen Glücksmoment erlebt. Aber wie er sich noch immer an seinen Sessel klammert, seine Abwahl kategorisch leugnet und egomanisch-narzisstisch seine ganze Nation manipuliert und blockiert – und das in Corona-Zeiten – das ist schon sehr deutlich das Handeln und Wüten eines Psychopathen. Er hat im Dezember, eigentlich schon nicht mehr richtig im Amt, noch zwei extrem wichtige Gesetzesvorhaben durch Veto blockiert und damit sogar seine eigenen Parteianhänger in Kongress und Senat so gegen sich aufgebracht, dass sie sein Veto ignorierten:
° Das eine war die so wichtige Corona-Hilfe für Millionen in der Pandemie verarmte Amerikaner –
° das andere der Militäretat, der vorher kaum je von einem Präsidenten blockiert worden war.
Da kann man wirklich einem Mächtigen zuschauen, der in seiner Egomanie sich das eigene Grab schaufelt, dabei aber möglichst viele andere Menschen mit sich in die Tiefe reißt.

Sieht so ein Psychopath von innen aus? (JvSch 1959)

Aus eigener Anschauung

Ich konnte so jemanden einmal während eines Seminars aus nächster Nähe studieren, noch dazu einen Berufskollegen. (Ja, das ist möglich – auch Psychologen können psychopathisch agieren). Er hat mir dieses Seminar brutal so zerstört, dass nach und nach alle Teilnehmerinnen vorzeitig abreisten. Bezeichnenderweise finde ich ihn auch heute noch irgendwie auch sympathisch, er hatte nämlich ein sehr einnehmendes, charmantes Wesen. Das war seine eine Seite. Aber er hatte auch diese rücksichtslos manipulierende, sehr arrogante andere Seite.
Seine zerstörerische Seite zeigte sich schon darin, dass er, kaum angekommen, auf den Balkon des Seminarhauses trat, ins Tal schaute und dann sich über den Laptop in einen fremden Computer einhackte, um auf Kosten von dessen Besitzer zu telefonieren: “Warum ist der so blöd, sich nicht mit Passwort zu schützen!”, war seine Bemerkung, als ich irritiert nachfragte.. Er kam einen Tag zu spät und fuhr zwei Tage früher ab. Dazwischen verschwand er mit einer der Teilnehmerinnen für einen Tag zu einem Besuch in ein nahegelegenes Thermalbad. Und in einer seiner Geschichte (er konnte brillant schreiben) charakterisierte er eine der im Raum anwesenden Teilnehmerinnen mit ihrem echten Vornamen in einer fast pornographischen Geschichte als Sexsklavin. Als ich ihn bei dieser Lesung irritiert unterbrach und darauf hinwies, dass das so nicht ginge – war er richtig überrascht: “Aber wieso denn nicht?”
Bei anderer Gelegenheit erzählte er mir “unter Kollegen” von seiner Arbeit in einem Assessment-Center, wo er Probanden mit geradezu sadistischem Vergnügen in Fallen laufen ließ.
(Seltsamer Zufall: Ich ich das eben schrieb – meldete sich eine Frau, die damals in diesem Seminar dabei war, für ein aktuelles Seminar in diesen Tagen Anfang 2021 an – nachdem wir jahrelang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt hatten. Wirklich sehr seltsam.)

Zu diesem Thema ein Zitat aus dem Jahr 1929

“Die Psychopathen sind immer unter uns. In kühlen Zeiten begutachten wir sie – in heißen Zeiten regieren sie uns.”

Das notierte der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer, während er den unaufhaltsamen Aufstieg Adolf Hitlers und seiner Nazi-Horden beobachtete. Seine scharfe und kritische Beobachtungsgabe hat ihn allerdings nicht davor bewahrt, mit Hitler mitzulaufen, der SS beizutreten (wie so viele Ärzte). Nach dem Krieg, 1955, behauptete er als Gutachter in einem Wiedergutmachungsverfahren eines an Depressionen leidenden Naziverfolgten, dass es keine verfolgungsbedingten Neurosen gebe. Hat auch einen irgendwie psychopathischen Touch, diese Psychiaterkarriere.

Quelle
Kretschmer, Ernst, zit.n. Arno Gruen: “Den destruktiven Realismus der Mächtigen abbauen”, in: Scheidt, Jürgen vom: Konzepte für die Zukunft. Bonn 1990, S. 101

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Autobiographisches Beruf Fiction München Schreiben Schreibseminare Science-Fiction Traum Träume Zukunft

Der metallene Traum

Die ursprüngliche Geschichte mit diesem Titel habe ich 1963 geschrieben. (Es gibt einen Tagebuch-Eintrag: “1963-10-19: ca. 70 Seiten “M.T.” fertig.”) Dieses Manuskript hatte etwa fünf Seiten und erschien erstmals in dem Fan-Magazin Munich Round Up (MRU) der Münchner Ortsgruppe des SFCD*, wo SF-Begeisterte sich regelmäßig zum gemeinsamen Schreiben bei Waldemar Kumming in der Herzogspitalstraße trafen – gewissermaßen meine erste Erfahrung mit einem Schreibseminar. Damals (1959) konnte ich nicht ahnen, dass dies zwei Jahrzehnte später einer meiner drei Brotberufe werden würde: Schreibseminare leiten.

* SFCD = “Science Fiction Club Deutschland. Dort war ich, mit kurzer Unterbrechung, von 1955-1959 ordentliches Mitglied.

Titelbild “Der metallene Traum” (1964, Tuschezeichnung von Willi Johanns)

Ich veröffentlichte diesen Kurzroman 1964 mit eben dem Titel Der metallene Traum in drei Teilen, ebenfalls in MRU. Daraus wurde 1975 mein richtiger gedruckter Roman #3: Der geworfene Stein. “Der metallene Traum” ist darin der zentraler Teil.
Worum geht es dabei?
Der Student Schrödinger lässt sich in einem Zustand großer Verzweiflung auf ein wissenschaftliches Experiment ein, bei dem er in eine Art Kälteschlaf-Koma versetzt wird. Aber es geht etwas schief – und man kann ihn erst 100 Jahre später wieder ins Leben zurückholen. München hat sich sehr verändert, ist zu einer voll kybernetisierten Stadt geworden. Schrödinger tritt in einem Schlüsselkapitel in direkten Kontakt mit dem “Kyberneten”, einer riesigen Rechenmaschine unter dem Englischen Garten, welche die Geschicke der Stadt steuert. Diese (heute würde man sagen: virtuelle) Begegnung nannte ich den “metallenen Traum”.

Der Graphiker Willi Johanns zeichnete zu meiner Erzählung in MRU fünf Tusche-Bilder. Oben davon das Titelbild. Hier eine Schlüsselszene, in der Schrödinger in der Nähe von Starnberg, einer im Jahr 2064 gefährlichen “wilden” Gegend, auf eine Gruppe mongolischer Eindringliche trifft:

Seltsame Begegnung mit Mongolen nahe Starnberg – im Jahr 2064 (Tuschezeichnung: Willi Johanns 1964)

Zu einer anderen bizarren Begegnung kommt es später im Park des Nymphenburger Schlosses mit einem wild gewordenen Roboter:

He Robot im Nymphenburger Schlosspark (Tuschezeichnung: Willi Johanns 1964)

Eine kleine Story macht große Karriere

1971 übernahm Wolfgang Jeschke (Herausgeber-Pseudonym: Herbert W. Maly) die Story in seine Anthologie mit eben diesem Titel Der metallene Traum.
1974 erschien eine Taschenbuchausgabe davon bei Heyne.
1975 mache ich die Story zum zentralen Teil meines Romans Der geworfene Stein.
1977 druckte Ruth J. Kilchemann den Text in einer anderen Anthologie (Schlaue Kisten machen Geschichten) für die Computer-Weltfirma IBM.
1980 übernimmt Thomas LeBlanc die fünf Seiten in seine Anthologie Start zu neuen Welten.

Habe ich den Cyberspace erfunden?

Dies könnte gut die erste CyberSpace-Geschichte gewesen sein – lange ehe William Gibson 1982 diesen Begriff prägte (s. unten Auszug aus der Wikipedia). Aber es gab davor schon andere Phantasien in dieser Richtung:
° Isaac Asimov schrieb eine Story, in der jemand mit technischen Mitteln in die Träume eines anderen Menschen eindringt. Asimov hat so viele Erzählungen publiziert, dass diese kaum ausfindig zu machen ist. Es könnte sich um “”Robot Dreams” aus dem Jahr 1986 handeln – aber in meiner Erinnerung veröffentlichte er schon viel früher etwas in der Richtung (es könnte sich um “Dreamworld” handeln, November 1955 in The Magazine of Fantasy and Science Fiction).
° Roger Zelazny schrieb erst 1965 die Story “Dream Master”, aus der im Jahr darauf der Roman He who shapes entstand, worin jemand in die Träume anderer Menschen eindringt.
Als Film hat diese Idee Christopher Nolan in Inception realisiert – eine furiose Achterbahnfahrt in ein Traum-Labyrinth mit mehreren Etagen. Hier ist das Medium zwar nicht wie bei Gibson das Internet, sondern ein Computer – und ist das Internet denn etwas anderes als ein weltumspannendes Netzwerk von Computern? Die “virtuellen Begegnungen” finden ja nicht in den verbindenden Kabeln statt – sondern in den Mikroprozessoren.
Ersetzt man “Traum eines anderen Menschen” mit “virtuelle Welt im Internet oder Computer” – landet man beim Koncept des Cyberspace.
Meine Geschichte vom “Metallenen Traum” ist – wie schon der Titel andeutet – zwischen diesen beiden Konzepten des “fremden Traums” und der “Internet-Virtualität” angesiedelt. Das Internet gab es 1964 noch nicht, als ich meine Geschichte ersonnen habe – als Arpanet wurde es vom amerikanischen Militär (US Air Force) erst ab 1968 gestartet.

(Wikipedia:) Die erste ernstzunehmende Ausformulierung des Konzepts findet sich bereits 1964 in Stanislaw Lems Summa technologiae, worin das Konzept des Cyberspace unter der Bezeichnung Periphere Phantomatik beschrieben wird. Eine weitere frühe Darstellung findet sich in Oswald Wieners Roman die Verbesserung von Mitteleuropa von 1969, in den Abschnitten notizen zum konzept des bio-adapters und appendix A. der bio-adapter.
In der Kurzgeschichte
True Names and Other Dangers (1987) führte Vernor Vinge die Ideen weiter. Seine Protagonisten wandern in einer virtuellen Welt und interagieren mit virtuellen Gegenständen. Manche haben sich in Gruppen zusammengeschlossen und verstecken sich in abgetrennten Teilen, genannt „Walled Garden“.
Wörtlich ist von Cyberspace erst 1982 in der Kurzgeschichte
“Burning Chrome” des amerikanischen Science-Fiction-Autors William Gibson die Rede, der allgemein zur Cyberpunk-Literatur gezählt wird. Gibson beschreibt den Cyberspace als konsensuelle Halluzination eines von Computern erzeugten grafischen Raums…

Lesefutter
Asimov, Isaac: Dreamworld (in: The Magazine of Fantasy and Science Fiction, November 1955). Deutsch: Dafür plage ich mich? In: Isaac Asimov, Martin H. Greenberg und Joseph D. Olander (Hrsg.): Feuerwerk der SF. Goldmann (Edition ’84: Die positiven Utopien #8), 1984, ISBN 3-442-08408-3. Auch als: Traumwelt. In: Hans Joachim Alpers und Harald Pusch (Hrsg.): Isaac Asimov — der Tausendjahresplaner. Corian (Edition Futurum #2), 1984, ISBN 3-89048-202-3.
ders: “Robot Dreams” (veröffentlichte in einer Anthologie gleichen Titels: Isaac Asimov: Robot Dreams). Deutsch: Roboterträume. In: Friedel Wahren (Hrsg.): Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin 30. Folge. Heyne SF&F).
Gibson, William: “Burning Chrome”. In: in Omni (Juli 1982)
Kilchemann, Ruth (Hrsg.) Schlaue Kisten machen Geschichten. Nördlingen 1977 (IBM).
LeBlanc, Thomas (Hrsg.): Start zu neuen Welten. Science-Fiction-Erzählungen aus Deutschland. Freiburg 1980 (Herder Hardcover)
Maly, Herbert W. (d.i. Herbert W. Franke oder Wolfgang Jeschke): Der metallene Traum. München 1971 (Lichtenberg).
Nolan, Christopher (Regie): Inception. Nolan. USA 2010 ( Warner Brothers).
Scheidt, Jürgen vom: “Der metallene Traum”. München 1963 (Munich Round Up – als Manuskript gedruckt).
ders.: “Der metallene Traum” in Maly, Herbert W. (Hrsg:) und in Kilchemann, Ruth (Hrsg.)
Zelazny, Roger: The Dream Master, 1966, dt. Herr der Träume, Pabel, 1976, ohne ISBN (Terra TB 270); und Ein Spiel von Traum und Tod, Bastei-Lübbe, 1986, ISBN 3-404-23052-3 (basiert auf der Erzählung “He who shapes” aus dem Jahr 1965). Vollständige dt. Fassung von “He who shapes”: Der Former. Übers. Hans Maeter. In: Damon Knight Hg.: Computer streiken nicht. SF-Stories. Heyne TB 3360, München 1973 ISBN 3-453-30237-0 S. 61–156. Zuerst engl. in: Nebula Award Stories 1, 1965
Jahr 1965)

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Pegasus – das Wunderpferd lebt munter weiter

Gibt es ein anschaulicheres Symbol für das Schreiben als das wundersame geflügelte Pferd, das die Griechen Pegasus nannten? Wie sich da ein doch recht schweres und schwerfälliges Geschöpf in immer entlegenere Höhen emporschwingt! Der allfällige Reiter muss allerdings die Zügel (einen “roten Faden”?) geschickt lenken, um das gesteckte Ziel seiner Phantasie und Kreativität in geistigen Höhen zu erreichen. Sonst geht es ihm / ihr wie dem unglückseligen Ikarus, welcher der Sonne zu nah kam. Seine künstlichen Flügel schmolzen – und er stürzte ins Meer und ertrank.
(In einer seltenen anderen Variante der Sage überlebt Ikarus allerdings – was wiederum darauf hinweist, welche unbändige Phantasie die Griechen hatten, wenn sie sich auf ihre Pegasi schwangen…)

1987 stellte der griechische Archäologe Nikolas Yalouris seinen opulenten Bildband zu diesem mythischen Tier vor: Pegasus: Ein Mythos in der Kunst.
Der Mythos ist inzwischen Jahrtausende alt, hat aber nichts von seinem tiefen Sinngehalt verloren. Ganz im Gegenteil: er ist noch immer ein höchst lebendiges Sinnbild der schöpferischen Kräfte im Menschen (wie sich u.a. in Träumen unserer Tage zeigt). Der Inhalt des Mythos und seine Entstehung werden ebenso behandelt wie kulturgeschichtliche und kreativitätspsychologische Aspekte: Die verborgene Bedeutung des Mythos wird interpretiert als Integration biologischer (d.h. triebhaft-sexueller) und spiritueller Kräfte.

Yalouris: Pegasus (1987, Verlag Zabern, Mainz – Ausschnitt des Umschlags)

Ich war sofort fasziniert von diesem Stoff und nahm das Buch als Vorlage für eine Sendung, die am März 1988 im “Nachtstudio” des Bayrischen Rundfunks in den Äther ging: “Pegasus – das beflügelnde Wesen”.


Ein Verein – das wär´s!


Nachdem ich schon seit 1979 Seminare für Kreatives Schreiben durchführte, ging immer ständig die Idee durch den Kopf, einen Verein ins Leben zu rufen, der sich diesem Thema widmet. Yalouris´ Werk und meine BR-Sendung verliehen diesen Phantasien den entscheidenden Impuls, die Idee zu realisieren. Ich trommelte einige Schreibbegeisterte aus damaligen Seminaren zusammen und gründete mit meiner Frau Ruth den Verein, dessen Gründungsversammlung am 05. Okt 1988 war. Bei der Abfassung der Satzung half Norbert Engel, damals Justitiar im Bayerischen Senat und ebenfalls ein Schreibbegeisterter. Mein Graphikerfreund aus Jugendjahren Alfred Hertrich zeichnete das passende Logo. Einige Jahre war ich selbst Erster Vorsitzender des Vereins. Dann dachte ich irgendwann: Entweder mein Baby ist stark genug auch ohne mich als “Papa”- oder es geht ein.
Es war stark genug – denn der Verein, inzwischen bereits von der “vierten Generation” geführt und gepflegt, existiert nach wie vor. Er veröffentlicht jedes Jahr ein eindrucksvolle Anthologie mit Geschichten der Mitglieder (Weihnachten war die neueste Ausgabe bei mir im Breifkasten, herausgegen von Ute Lutsch und Nikol Schlichte und wieder sehr gelungen in der Mischung aus Kurzgeschichten, autobiographischen Memos und Gedichten.)
Der Verein hat längst eine eigene Website – www.pegasus.schreiben.de – und er wird auch die Corona-Pandemie in bewährter Kreativität und Phantasie überstehen, ist doch für den Schreibenden “alles Stoff” und so eine weltweite Katastophe sowieso.

Ute Lutsch und Nikol Schlichte (Hrsg.) Kaledoskop (Jahres-Anthologie 2020 des Pegasus-Vereins)

2014 stellte die (inzwischen leider eingestellte) Zeitschrift TextArt anlässlich des 30. Geburtstags den Münchner Verein ausführlich vor. Inzwischen hat der Verein längst sein 35. Jubiläumsjahr gefeiert. Hier ein von der Website geklautes Szenebild aus der Lesung vom November 2019:

Lesung der Pegasus-Schreiber (München, Nov 2019)

Die Wikipedia weiß noch mehr

Für alle, die zu faul sind, selbst in die Wikipedia zu schauen, zitiere ich hier, was dort über den Mythos von Pegasus (auch: Pegasos) zu lesen ist:
Pegasos war das Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa. Die Überlieferungen über seine Geburt variieren: Eine Version berichtet, er sei aus Medusas Nacken entsprungen, als diese von Perseus geköpft wurde. Hierbei sei er als Zwilling von Chrysaor zur Welt gekommen. Eine andere erzählt, er sei aus jener Stelle der Erde entsprungen, auf welche Medusas Blut getropft sei.
Pegasos trug Bellerophon in seinem Kampf gegen die Chimära und die Amazonen. Es gibt verschiedene Geschichten, wie Bellerophon Pegasos gefunden habe: So sagen einige, dass der Held ihn trinkend am Brunnen von Peirene (am „pirenischen Quell“) gefunden habe, andere berichten, dass entweder Athene oder Poseidon Pegasos zu Bellerophon führten. Bevor er Bellerophon beistand, brachte Pegasos Blitz und Donner zu Zeus, und nach dem Tod Bellerophons kehrte er zum Berg Olymp zurück, um den Göttern zu helfen.
Angeblich entstanden durch Pegasos’ Hufschlag zwei Brunnen: einer auf Geheiß von Zeus auf dem Gebirge Helikon (der „helikonische Quell“, aus dem alle Dichter trinken), ein zweiter in Troizen (vgl. auch Hippokrene).
Pegasos wurde in ein Sternbild verwandelt, aber eine Feder seiner Flügel fiel nahe der Stadt Tarsos zurück auf die Erde und gab der Stadt ihren Namen. Seine Ursprünge als Mischwesen sind vermutlich orientalischer Herkunft. Er wurde häufig in der kretischen und kleinasiatischen Kunst und sogar noch bis in das dritte Jahrhundert nach Christus auf römischen Münzrückseiten dargestellt.

Das mit der “Verwandlung in ein Sternbild” ist übrigens nur ein Beispiel dafür, wie das geflügelte Pferd die Phantasie seit vielen Jahrhunderten angeregt und sich in alle Beriche der Kultur und Zivilisation verbreitet hat. Es gibt:
° eine Schweizer Musikgruppe dieses Namens,
° eien amerikanische Rakete,
° einige Weltraumsatelliten dieses Namens,
° eine Drohne der Budneswehr,
° einen Computer,
° eine Schad-Software,
° einen Wirtschaftspreis (in Österreich),
° das Emblem als Bildmarke der Mobil Oil Company
° und , alst but noch least, einen “Pegasus Verein für kreatives Schreiben” in München – aber darauf habe ich ja oben schon hingeweisen.
Was letzteres angeht: Als ich 1989 den Verein im Münchner Vereins-Register anmeldete – gab es rund ein Dutzend Vereine, die diesen Namen führten, darunter einen für Oldtimer-Fans. Bewegung ist eben alles.


Lesefutter
Buslau, Oliver: “Eine Autorengruppe asu München stellt sich vor. In: TextArt Heft 4, April 2018, S. 52.
Scheidt, Jürgen vom: Pegasus – das beflügelnde Wesen. München 1988. Manuskript einer Sendung des
Bayr. Rundfunks im “Nachtstudio” am 15. März 1988.
Scheidt, Jürgen vom und Norbert Engel: Satzung des Vereins “Pegasus e.V.” vom 19. Jan 1989.
(Gründungsversammlung des Vereins war am 05. Okt 1988).
Yalouris, Nikolas: Pegasus: Ein Mythos in der Kunst. Mainz am Rhein 1987 (Zabern).

(Kategorien: Schreiben – Mythologie – Pegasus)

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Der Archivar der Zukunft 2

(Teil 1 der Geschichte finden Sie hier Archivar der Zukunft. Und hier geht es weiter:)

„Institut für Zukunftsberatung“, murmelte er selbstvergessen, „noch nie davon gehört.”

Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, eine Meldung oder einen Bericht über dieses ominöse Institut in einer der Hängemappen abgelegt, pardon: eines der Tiere seines Zoos mit solcher Nahrung gefüttert zu haben. Vielleicht wurde er bei den Delphinen fündig, was hieß: bei den Futurologen?

Er zog die betreffende Mappe aus dem Hängekorb, blätterte die säuberlich aufgeklebten und chronologisch sortierten Clippings durch, deren jüngstes immer zuvorderst stand. Fehlanzeige. 

Eine gewisse Verwirrung überkam ihn. Wie er es immer in diesem höchst unangenehmen Zustand zu tun pflegte, flüchtete er sich in Erinnerungen. Die andere Möglichkeit in so einem Fall wäre gewesen, im Archiv zu kramen oder noch nicht einsortierte Clippings einzusortieren oder unaufgeklebte aufzukleben oder unsignierte zu signieren oder obsolet gewordene, von den Zeitläufen überholte Einträge zu eliminieren. Aber an diesem verwirrenden Morgen erinnerte er sich. Da stieg er gewissermaßen in die inneren Archive seiner höchstpersönlichen Vergangenheit hinab. Er sah seinen Vater vor sich, im Wohn- und zugleich Arbeitszimmer. Tische, Stühle, Sofa, Schrank waren übersät mit wirren Häufchen von Briefen, Notizen und vor allem Zeitungsausschnitten. 

Der Vater hatte wohl gerade den Raum verlassen. Das Fenster stand weit auf, mit Blick auf den See, den der Föhnsturm aufwühlte. Ehe der kleine Hiernymos die drohende Gefahr erkennen und die Tür hinter sich schließen konnte, war der Sturm durch den Raum gefaucht, hatte sämtliches Papier hochgewirbelt und wie ein riesiger Staubsauger das meiste davon hinaus ins Freie gerissen. Er rannte, den Knall der Tür noch im Ohr, zum Fenster, starrte hinaus auf das weiße Gewimmel, das wie ein Schwarm seltsam flacher Möwen den schorfigen Abhang hinabsegelte und sich auf die wildschäumenden Wogen senkte. Die Schläge, die er als Belohnung für seine damalige Unachtsamkeit empfangen hatte, schmerzten ihn heute noch.

Angestrengt zwang sich Dr. Pigertaber, die Vergangenheit wieder loszulassen und in die Gegenwart zurückzukehren. Er wußte, warum er Archivar geworden war, wußte es in diesem Augenblick ganz genau. Er wollte beweisen, daß er mit ausgeschnittenem Papier sorgsam umgehen konnte und vor allem: daß er es, ordnend und zielstrebig, besser konnte als sein Vater. 

Er hatte schon bald nach dem unliebsamen Zwischenfall, kaum in der Pubertät, begriffen, daß sein Vater in all dem Papier nach etwas suchte, vor allem in den kopierten Seiten aus Büchern, die er gerade las, und in den Zeitungsausschnitten. Aber wonach suchte er? 

Nach irgendwelchen geheimnisvollen Zusammenhängen? In einem Puzzlespiel, dessen Entwurf ihm, dem Sohn, nicht bekannt war? Der Vater hatte nie darüber gesprochen. Und als Pigertaber nach seinem Tod die Papiere sichtete, in der Hoffnung, Aufschluß zu finden, Hinweise, vielleicht sogar des Rätsels Lösung, hatte er bald frustriert erkennen müssen, daß es vermutlich gar keine Lösung gab. Nicht einmal ein Rätsel. Der Vater war wahrscheinlich einfach ein von seinem Schnippelzwang besessener Neurotiker gewesen. 

In einem Anfall von Wut hatte Pigertaber junior (wie er eine Weile hieß) damals die ganzen Fetzen dieser nutzlosen väterlichen Existenz vernichtet – um dann Jahre darauf, während seines Studiums der Philosophie, plötzlich zu entdecken, daß er selbst die Marotte des Sammelns von Informationen entwickelte. So wie der Vater vom Verkauf von Büromöbeln den Lebensunterhalt der Familie bestritt und seine ganze freie Zeit den Papieren widmete, so lebte er, der Sohn, vom Verkauf von Computern. Bis die unverhoffte Erbschaft von einem fernen Verwandten ihn von dieser Fron erlöste. 

Es war nicht lange danach (seine Frau und die Kinder hatten ihn mit der Hälfte der geerbten Beute längst verlassen), als er doch noch das Geheimnis des Vaters enthüllte. Weil er es bei sich selbst wiederfand. Er sammelte all diese Informationen zunächst einem dunklen, völlig unbewußten Trieb folgend. Aber es gab auch eine zunehmend bewußter werdende Komponente bei all der dranghaften Aktivität, die sich durch nichts bremsen ließ: Er erhoffte sich davon, dem Sinn der Welt auf die Spur zu kommen, der Handschrift, der persönlichen Signatur des Weltgeistes gewissermaßen, der sich – so seine immer klarer werdende Gewissheit – auf irgendeine Art in den Ereignissen dieser Welt manifestierte. 

Und wenn man die Nachrichten über diese Ereignisse zusammentrug, wenn man es schaffte, sie richtig zu analysieren und schließlich auf passende Weise miteinander in Beziehung zu setzen, dann würde ihm, dessen war er sich gewiss, die Botschaft des Weltgeistes und damit zwangsläufig auch der Sinn der Welt enthüllt. Und damit auch der Sinn seines eigenen kleinen Lebens. 

Diese stickige, staubige Luft in dem engen Raum! Er stürzte zum Fenster hin und riß beide Flügel weit auf. Draußen tobte der Föhnsturm, wühlte das schmutziggraue Wasser des Sees auf. Zwei Möwen segelten mit spitzen Schreien dicht über die Gischt. 

Die Tür, durchfuhr es ihn, er hatte die Tür nicht geschlossen! Wie damals, mehr als dreißig Jahre zuvor!

Der Föhnsturm tobte herein, packte jedes lose Blatt, riss sogar die Hängemappen aus den Hängetrögen, leerte ihre sorgsam sortierten Clippings hohnvoll in den Raum, riss sie dann in wilden Tänzen hoch. Spiralen aus flatterndem Weiß erhoben sich, mit Druckerschwärze gesprenkelte Vogelschwärme, die ihn wild umkreisten, mit spitzen Krallen nach ihm schlugen und endlich in wahnwitziger Flucht hinaus ins Freie tobten, über den Steilhang ins zuckende Brodeln des Sees. 

Ach, wenn es doch so wäre, durchzuckte ihn ein Gedanke aus rebellischen Tiefen. Doch er versiegelte sogleich wieder den Abgrund, den die Erinnerung aufgerissen hatte, schloss das Fenster wieder und ließ den erschrockenen Blick, der langsam ruhiger wurde, über die verschlossene Tür gleiten, über die wohlgefüllten Regale mit ihren sorgsam in Klarsichtfolie verpackten bunten Buchrücken, über die Straßen mit Hängetrögen, in denen die Hängemappen-Hundertschaften ihre Clippings bargen, Tausende und Abertausende von ihnen. 

„Alles in Ordnung“, seufzte er. In den Käfigen regte es sich schon und verlangte unruhig nach Nahrung. Steif bückte Dr. Hieronymos Pigertaber sich zu dem einen weißen Blatt herab, das am Boden lag und vorhin seinen Händen entfallen war. „Institut für Zukunftsberatung“ lasen seine kurzsichtigen Augen in grünen Buchstaben. Es war ein zartes Grün, das man Reseda nannte. Der Text unterhalb des dezenten Briefkopfes war in schwarzer Schrift gehalten, wahrscheinlich vom Drucker eines Computers hergestellt. Aber es war eindeutig ein persönlicher Brief, keine Dutzendware. Er begann zu lesen:

Sehr geehrter Herr Doktor Pigertaber:

Wir würden gerne persönlichen Kontakt mit Ihnen aufnehmen betreffs Ihres vielgerühmten Archivs. Wir befassen uns, wie Sie dem beigefügten Programm entnehmen können, mit einer neu entwickelten Disziplin, dem „Zukunfts-Management“, in dem wir sowohl Führungskräfte wie auch andere interessierte Personen mit der Möglichkeit einer bewußteren Gestaltung ihrer beruflichen und privaten Zukunft vertraut machen. Besonderes Gewicht legen wir dabei, wie Sie den einzelnen Seminarbeschreibungen entnehmen können … 

Es folgten etwas umständliche Ausführungen über die unbedingt nötige Balance zwischen den Fähigkeiten der beiden Gehirnhälften, nämlich sich auf die Zukunft sowohl rational analysierend wie auch intuitiv-visionär vorzubereiten. Kopfschüttelnd las Pigertaber weiter, dem selben Zwang folgend, der ihn auch keinen einzigen Zeitungsartikel aus der Hand legen ließ, ehe das letzte Wort von seinem Gehirn aufgesaugt war. Als er den abschließenden Absatz studiert hatte, fühlte er sich mehr verwirrt als aufgeklärt:

Hierbei ist natürlich, wie Sie sich vorstellen können, möglichst fundiertes Wissen um die laufenden Trends, positiver wie negativer Natur, unerlässlich. Wir stellen uns vor, daß Ihr Archiv und vor allem Ihr persönliches Wissen, das Sie in diesem Archiv gespeichert haben, für unsere Seminare von unschätzbarem Wert wären. Deshalb würden wir uns über eine Zusammenarbeit, in welcher Form auch immer, sehr freuen. 

Für einen ersten Kontakt wenden Sie sich bitte, Ihr eigenes Interesse vorausgesetzt, an unsere Mitarbeiterin, Frau Marlies Weber-Schindler. 

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich

Dr. Justus Hohrainer, Direktor IfZF

Pigertaber ließ den Brief sinken, legte ihn langsam auf den langen Schreibtisch aus schwarz gebeizter Eiche. Eine Möglichkeit, sein Archiv tatsächlich zu nützen – davon hatte er immer geträumt, hatte dieser Möglichkeit aber nie eine echte Chance eingeräumt. Und nun war es tatsächlich soweit! Es war unfassbar. Eine gewisse Verwirrung überkam ihn. Als er nach einer Weile wieder zu sich kam, kratzte er sich nachdenklich am Kopf, der in all den Jahren nahezu kahl geworden war vom vielen Nachdenken und Archivieren. Langsam gruben seine Finger in seinen Taschen nach Streichhölzern. Dann holte er den Kanister mit Benzin, den er für diesen Fall der Fälle vorbereitet hatte, vor vielen Jahren schon. Sorgsam goss er die scharf riechende Flüssigkeit über den Käfigen und Aquarien aus, dem rebellischen Fauchen und Brüllen der Eingeschlossenen zum trotz. Er entzündete ein Streichholz, ein einziges nur, und ließ es über dem Areal der Raubtiere fallen. 

Er öffnete erneut das Fenster. Dann ging er, das flotte Knistern im Rücken, zur Tür hinaus, zum Haus hinaus, auf die Straße. Der Föhnsturm rüttelte an seiner Jacke, bis er sie befreit von sich warf. Immer weiter lief er die Straße entlang. Den nächsten Hügel hinauf und hinab. Bog in einen Weg durch Äcker ein. Lief den nächsten Hügel hinauf. Hinab. Bis er in die Wälder kam. Nicht ein einziges Mal wandte er den Blick zurück. 

(Geschrieben am 05. Juni 1990 / Erstmals abgedruckt Mai 2005 in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau. –
04. Januar 2021: Gewidmet meinem Vater, der mich mit seiner Schnippelei ähnlich aufgeregt hat – wie ich später meine Frau Ruth, als ich selbst dieser “Schnippel-Manie” verfallen war – deshalb auch ihr gewidmet mit einem großen: “Tut mir leid, dass ich dich damit genervt habe. Aber…”)

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Zeitung lesen – Thesauros füttern

Sie denken, dazu muss man doch nicht extra was bloggen: Zeitung lesen. Das macht man doch einfach so. Aber ich kann nur sagen, dass das viele Menschen zwar gewohnt sind – aber manche eben nicht. Als Student habe ich mal bei einer Messe gejobbt. Bei einer der Pausen kam ich an einem Würstchenstand mit dem Würstlbrater und seiner Frau ins Gespräch – “einfach Leute”, wie man so sagt. Auf ihre Frage nach meinem Beruf (“Student der Psychologie”) kam von dem Mann die Antwort: “Da müssen sie aber viele Bücher lesen – das wär nix für mich – ich krieg schon Kopfschmerzen, wenn ich die Bildzeitung lese.”

Aber ich will auf was anderes raus. Normalerweise lesen Sie Ihre Zeitung – und werfen diese dann in den Papiermüll. Ich lese ganz anders.
Zum einen: Für mich ist Zeitunglesen Teil meiner täglichen Arbeit. Das ist meine Form des “Lebenslangen Lernens” und der Fortbildung (sollte man auch mit 80 noch ernsthaft betreiben – man weiß ja nie – wie alt man noch wird).
Zum anderen: Ich lese die Süddeutsche von hinten nach vorne und zwar sehr rasch. Ich scanne gewissermaßen erst den Bayern-Teil, dann den Lokalteil, die Beiträge zu den Stadtteilen, dann den München-Teil.
Das heißt: Zuallererst durchfliege ich rasch den Sport – nicht, weil mich Fußball oder dergleichen besonders interessiert (über Judo lese ich gerne was, weil ich selber mal trainiert habe). Aber im Sport-Teil suche ich nach Schlagzeilen, in denen der Begriff “Entschleunigung” vorkommt – ist so eine Marotte von mir. Habe ich tatsächlich schon zweimal entdeckt, obwohl es beim Sport doch eigentlich immer ums Gegenteil geht: möglichst schneller zu rennen, oder höher, weiter zu springen – Rekorde zu brechen – also zu beschleunigen.

Wenn ich so etwas entdecke (kommt eher im Wirtschaftsteil oder im Feuilleton vor oder in der Politik), schneide ich den Artikel erst einmal aus. Richtig gelesen wird das alles in Ruhe später; das sind meistens an die zehn Artikel oder so.

Der dritte Schritt ist schon aufwändiger: Ich füge Clippings, die mich wirklich interessieren, meinem Archiv ein.

Ich habe meinem Vater früher irritiert zugeschaut, wenn er etwas aus der Zeitung “schnippelte” (wie der Rest der Familie das abschätzig nannte). Irgendwann warf er die Schnipsel weg. Und begann anderntags bei einer neuen Zeitung von vorne. Das erschien mir irgendwie so sinnlos. In seinen Kopf konnte ich ja nicht reingucken. Ich hätte als Schülern nicht im Traum gedacht, dass ich das später ähnlich machen würde. Nur hatte ich da schon ein Archiv, in dem ich diese Zeitungsausschnitte nach Themen geordnet in Hängemappen einsortierte, zur allfälligen Verwendung bei einem der Text-Projekte, die ich bearbeitete. Das war gewissermaßen außer meinen eigenen Gedanken und Recherche-Ergebnisse wie Zitaten aus Büchern anderer Autoren, so etwas wie mein Rohmaterial – Bausteine für die papierenen Gebäude, die allmählich Gestalt als Buchmanuskripte annahmen. Wenn es gut ausging. Vieles war natürlich irgendwann veraltet oder sonstwie überholt, wahrscheinlich sogar das meiste. Aber das weiß man ja vorher nicht. Jedenfalls häuft sich da doch aus der Zeitungslektüre allmählich einer richtiger Schatz an Informationen an – weshalb man so ein Hängemappen-Archiv zu Recht als “Thesauros” bezeichnet, was, aus dem Griechischen stammend , wörtlich heißt: “Schatz aus Gold”. Das erste Mal sah ich so einen “Goldschatz” (in Form von an die tausend Hängemappen in einem großen Registerschrank) im Forschungsinstitut des Biokybernetikers Frederik Vester. Tief beeindruckt wusste ich bald: Sowas will ich auch mal haben. Habe ich auch inzwischen. Mit tun nur meine Nachkommen leid, die das alles nach meinem Tod entsorgen müssen. Aber das ist deren Problem – ich schnipple weiter und sammle und archiviere – und verstehe meinen Vater ein wenig besser.)

Wie so eine Clipping-Manie in Extremform aussehen könnte, das habe ich in einer Kurzgeschichte dramatisiert. Sie ist enthalten in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau und hat den Titel: Der Archivar der Zukunft“.

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Der Archivar der Zukunft 1

Seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn ich Ihnen hier nur den Anfang dieser Kurzgeschichte anbiete – gewissermaßen als Appetithappen. Aber den Rest der Geschichte finden Sie in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau (Enttäuscht? Dann schaue Sie bitte an den Schluss dieses Beitrags!). Und so fängt sie an:

Dr. Hieronymos Pigertaber betrat das Archiv, wie jeden Morgen. Es war sein Archiv. Für sich hatte er es eingerichtet, vor vielen Jahren. Nur für sich, ganz seinen Neigungen und Interessen folgend. Eine Zeit lang war er verheiratet gewesen, hatte drei oder vier Kinder gehabt (er wußte das nicht mehr so genau, es war schon einige Jahrgänge der Süddeutschen Zeitung und anderer Journale her, die er auswertete). Aber Frau und Kinder hatten ihn irgendwann verlassen, und er war – nach anfänglicher Bestürzung über das plötzliche Alleinsein – mehr und mehr froh darüber, sich ganz der Fütterung und Dressur seines Archivs widmen zu können. 

Ja, so nannte er es bei sich: Fütterung und Dressur. Das Archiv war in den Jahrzehnten zu einer Art Zoo geworden. Jedes der Themen, für die er Material, nein: Nahrung sammelte, war einer Tiergattung zugeordnet. Da gab es zum Beispiel die gefährlichen Themen: Unfallgefahren, Aids und andere schreckliche Krankheiten, Erdbeben, Terrorismus, Krieg und Revolution. All das eben, wovor er Angst hatte.

Die Hängemappen, in denen er solches säuberlich signiert, datiert und auf weiße DIN A 4-Blätter aufgeklebt verwahrtee, trugen nicht nur kleine weiße Schildchen in durchsichtigen Plastikreitern, auf denen „Atombombe” und „Tsunami” und „Amoklauf” und „Kriminalität” stand – nein: Sie trugen auch noch eine heimliche Bezeichnung, die nirgends notiert war, eine Bezeichnung, die nur sein Gehirn kannte.

Terrorismus zum Beispiel, das war der Tiger. Und wenn er eine schreckliche Meldung über die weitere Eskalation des Kokainmissbrauchs in den USA oder in der Bundesrepublik fand, dann fütterte er damit den Weißen Hai. Berichte über die Mafia landeten bei den Kobras, eine bewaffnete Invasion von PLO-Freischärlern in Israel oder von israelischen Soldaten im Libanon war Leibspeise der Elefanten

Machten die Sowjets etwas Schreckliches in Afghanistan oder die Briten auf den Falkland-Inseln oder die Amerikaner im Irak, so warteten bereits die Wale auf ihr Futter. Noch größere Tiere gab es nicht in seinem Zoo. (Die gab es nur in seiner Phantasie – und wie es sie dort gab!)

Dafür gab es jede Menge kleinere Tiere. Zum Beispiel die Piranhas! Das waren zum Beispiel Autofahrer, die betrunken kleine Kinder oder alte Leute an Zebrastreifen und in 30-Kilometer-Zonen überfuhren. Eines seiner Lieblingstiere, unablässig mit Kohlblättern gefüttert, war die Napfschnecke. In der mit ihrem Namen versehenen Hängemappe wurde alles archiviert, was Politiker Bemerkenswertes von sich gaben und entschieden, vor allem aber die Fettnäpfchen-Akrobatik eines ehemaligen Bundeskanzlers. 

An dem Morgen, als Dr. Hieronymos Pigertaber zum tausendsten Mal die „Papierwüsten“ betrat (wie er das Archiv in einem Anflug von sarkastischer Selbstkritik auch schon mal nannte), da war etwas anders geworden. Er hatte einen Auftrag bekommen. Ein „Institut für Zukunftsberatung“, von dem er noch nie zuvor etwas gehört hatte, machte ihm ein Angebot. Er wußte nicht, wie sie ausgerechnet auf ihn gestoßen waren unter all den vielen möglichen Archivaren. 

„Institut für Zukunftsberatung“, murmelte er selbstvergessen, „noch nie davon gehört.”

(Neugierig geworden, wie es weitergeht? Die Fortsetzung finden Sie meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau – München 2005, Allitera-Verlag. Als Paperback und als E-Book jederzeit lieferbar.

Aber ich will nicht gemein sein und Sie in Kosten stürzen.Weil sie brav meienr Erzählung bis hierher gefolgt sind, finden Sie den zweiten Teil der Geschichte auch hier im Blog: Archivar der Zukunft (Forts.) )

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Autobiographisches CoronaPandemie Zukunft

Corona-Phantasien im neuen Jahr 2021

Die Schutzimpfung läuft an. Aber auch wenn man sie irgendwann bekommt – eine 100%ige Lösung dürfte das kaum sein. Zu viele rücksichtslose Menschen laufen durch die Welt, die das Virus weitergeben. Aber dauernd mit den grünen oder weißen Stoffmasken rumlaufen – das ist es doch auch nicht, oder? Wenn diese Masken wenigstens durchsichtig wären!
aber ich habe noch andere Phantasien und Wünsche. was Corona angeht.

1. Durchsichtige Stoffmasken
Die Klarsichtmasken aus Plastik (Visiere), die derzeit angepriesen werden, taugen nichts. Sie schützen nicht gut – und sie sehen furchtbar aus. Was ich mir wünsche, sind zuverlässig dichte Stoffmasken, die nahezu transparent sind. Und siehe da: So ein Produkt ist bereits in Arbeit. Es wird im Internet folgendermaßen angepriesen:
In der Schweiz wird eine vollständig transparente OP-Maske aus dichten, organischen Polymeren entwickelt, die die Kommunikation zwischen Arzt, Praxispersonal und Patient verbessern soll.
Diese Masken sollen sogar leicht zu kompostieren sein. Auf einem Werksfoto sieht man dies:

Atemschutzmaske aus stoffähnlichem Vlies (Empa, Schweiz)

Das sieht doch gut aus. Das scheint eine brauchbare und akzeptable Lösung zu sein. Bin gespannt, wann man das kaufen kann. Und noch eine Phantasie habe ich; die ist schon richtig Science-Fiction:

2. Tagsichtgerät für Aerosole
Nach Art der Nachtsichtgeräte (die mit dem mysteriösen grünen Schimmer) – aber für den Tag, und zwar um die Aerosole sichtbar zu machen, welche die Menschen um einen herum aussenden sollte es eine technische Hilfe geben, die einem hilft, sich unter den Menschen sicher zu bewegen – die ja alle potentielle “Virenschleudern” und Superspreader sind. Ein “Tagsichtgerät” gewissermaßen. Das würde schon mal helfen, solchen “Wölkchen” aus dem Weg zu gehen, gleich ob sie mit Covid-19 geladen sind oder nicht. Und wer weiß: Vielleicht lässt sich sogar eine zusätzliche Technologie dranhängen, welche Covid-19 identifizieren kann – oder welcher Virus gerade “unterwegs” ist.
Das Teil müsste klein und wie eine normale Brille tragbar sein, oder als Aufsatz zu einer normalen Fernbrille.
Auslöser dieser Gedanken: Als ich heute im Englischen Garten lief, roch ich noch eine ganze Weile den Parfümduft einer Frau, die mir eben entgegengekommen war. Ein sehr angenehmer Duft – der mir aber auch bewusst machte, dass er Teil eines Aerosolwölkchens war, das diese Frau umgab – das eben auch weniger Angenehmen transportieren könnte. (Ja, wir leben in furchtbaren Zeiten, die solche Assoziationen auslösen.)

3. Bedingungsloses Grundeinkommen
‘Je länger die Pandemie anhält (und sie wird noch lange anhalten – immer neue Mutationen des Virus kündigen es an), um so mehr berufliche Existenzen werden durch den Lockdown zerstört, sei es einen Großen Lockdown (wie um die Jahreswende 2020/21) oder durch eine Reihe von Lockdown light. Das sind alles Leute , vor allem in den prekären Berufen, die nicht gut abgesichert sind und kaum Rücklagen bilden können. Aktive Männer und Frau, die einigermaßen selbstbestimmt zurechtkamen und jetzt aus der Wirtschaft rausfliegen. Die Corona-Soforthilfen sind kurzfristig schützende Pflaster; die immer tiefer werdenden finanziellen Wunden heilen sie nicht. Also um Sozialhilfe betteln? Suizid?
Die Soforthilfen waren der erste richtige Schritt in die richtige Richtung. Es ist unendlich viel Geld vorhanden. Die wirkliche Lösung ist für mich nur das, was schon seit geraumer Zeit als “Helikoptergeld” ein wenig zu flapsig diskutiert wird – aber als Bedingungsloses Grundeinkommen m.E. die einzige sinnvolle Lösung darstellt. Wären da nicht (vor allem bei der SPD und Kreisen der Konservativen Parteien) ideologische Bedenken – die längst überholt sind. Leute – wir sind im Dritten Jahrtausend – und nicht mehr im 19. Jahrhundert mit seinem damals durchaus verständlichen Arbeitsethos. Es sind ja nicht nur die für die Gesellschaft so wertvollen und skandalös schlecht bezahlten kreativen (= prekären) Berufe, welche die Kultur am Laufen halten – es sind insbesondere die alleinerziehenden Mütter (und Väter), die für einen immer größer werdenden Anteil der nächsten Generation sorgen und das jetzt unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie mit Home Office und Home Schooling.
Tausend Euro jeden Monat einfach so aufs Konto als finanzielle Grundversorgung und mit den Alleinerziehenden und ihren Kindern anfangen – und mit den Soloselbständigen weitermachen (wozu gibt es die Künstlersozialkasse?) – das sollte doch machbar sein! Götz Werner hat´s vorgerechnet und Jan Bohmeyer probiert es ganz praktisch mit seinem Verein. Einfach mal die Bücher der beiden lesen!

Und dann noch diese Wünsche
Was mir persönlich sehr abgeht, ist der Besuch im Fitness-Studio zweimal die Woche. Aber das wird wohl noch eine Weile “Phantasie” bleiben.

Hoffentlich bald keine “Phantasie” mehr: Ein echter medizinisch-pharmakologischer Durchbruch, der zu einem zukunftssicheren Impfschutz führt – so wie 1963 die Schluckimpfung der Kinderlähmung den Garaus machte – auch wenn es vorher erst einmal eine Katastrophe mit schlechtem Material gab . (Das haben die Impfgegner leider vergessen – oder nie gehört. Oder sie haben nur das mit der “Katastrophe” eingespeichert – nicht, dass die allermeisten Impfungen gut verliefen – genau wie die gegen Pocken und Masern.


Quellen
Bohmeyer, Michael und Claudia Cornelsen: ). Was würdest du tun? [mit 1000 € Grundeinkommen] Berlin
2019 (Econ Paperback).
Uhlmann, Berit: “Lehren aus einer Katastrophe” (Kinderlähmung<“: In: Südd. Zeitung Nr. 02 vom 04. Jan
2021.
Werner, Götz und Goehler, Adrienne: 1000 € für jeden. München 2010 (Econ Paperback).

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Autobiographisches CoronaPandemie Einsamkeit Labyrinthiade

Einsamkeit kennt viele Wege

Es gibt viele Pfade, die in die Einsamkeit hineinführen. Aber es gibt auch Pfade, die aus Einsamkeit herausführen. Vor allem gilt: Einsamkeit ist nicht an den sozialen Status gebunden. Es gibt den einsamen Single (der gewissermaßen die Standardausgabe ist) ebenso wie die verwitwete alte Frau und die verbitterte Ehegattin, die in ihrer kaputten Beziehung verelendet, neben einem wortkargen Workaholic.
Letzteren bezeichne ich als Krypto-Single – als “verborgenen Single”. Und zwar deshalb, weil er scheinbar in seinen familiären Beziehungen gut aufgehoben ist, aber in Wahrheit innerlich vereinsamt ist und sich am wohlsten am See beim Fliegenfischen fühlt oder im Hobbykeller bei seiner Spielzeugeisenbahn.

Und es gibt die 97jährige Gerda May, die zufrieden in ihrem Wohnsimmer sitzt und der interviewenden Reporterin erzählt, sie “lebe zwar allein, aber einsam fühle sie sich nicht”. (Scherf 2021)

In Zweisamkeit geschriebener Ratgeber (München 1984 – Heyne Verlag)

Die Corona-Krise hat das alles noch deutlich verstärkt und noch schlimmer wurde es gegen Jahresende 2020, als das Wort “Einsamkeit” in den Medien noch häufiger auftauchte: “Während der Feiertage ist der Krisendienst Psychiatrie besonders gefragt. Vielen Anrufern machen familiäre Konflikte oder Einsamkeit zu schaffen.” (Freymark 2020)

Ich behaupte jetzt mal nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema, das ich in alle seinen Facetten auch selbst kenne: Einsamkeit ist vor allem ein seelischer Zustand “im Kopf”. Deshalb fühle ich mich heute als Witwer zwar allein – aber nicht einsam. Denn zum einen habe ich in meinem Leben viele lebendige Beziehungen aufgebaut, die ich bewusst pflege – und zum anderen bin ich voller früherer Erfahrungen von Nähe und Bedeutung, die auch in Corona-Zeiten nicht verblassen, sondern eher noch an Intensität und Bedeutung gewinnen.

Wirklich arm dran und versunken in tiefer Einsamkeit war ich als Student – oft unglücklich verliebt und noch nicht in einer stabilen eigenen Welt zuhause.

In dem Ratgeber Wege aus der Einsamkeit habe ich das komplexe Thema zusammen mit meiner zweiten Frau Ruth mit dem Bild des Labyrinths beschrieben. Genau genommen waren es 13 Labyrinthe mit Farben von “gelb” bis “violett”. Das Einstiegskapitel finden Sie hier im Blog als Auszug: Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Ergänzen möchte ich das mit diesem aktuellen Tipp, der sich für mich sehr bewährt hat: Wir sind erfüllt von vielen inneren Figuren – abgespeicherten Erfahrungen mit anderen Menschen, aber auch Teilpersönlichkeiten, die wir selbst sind oder mal waren – das Innere Kind ist eine davon. In Träumen begegnen sie uns sehr leibhaftig – so als würden sie real existieren.
Sie sind auch real – aber eben nur in unserer Vorstellung. Das wird sofort anders, wenn wir in direkten Kontakt mit ihnen treten: Am einfachsten geht das, in dem, was ich als “Simulierten Dialog” bezeichne – und zwar in schriftlicher Form. Ein Beispiel ist hier im Blog nachzulesen: der Dialog mit dem vergehenden Jahr 2020 .

Bibliographie
Freimark, Linus: “Deutlich mehr Hilfe gebraucht”. In: Südd. Zeitung Nr. 299 vom 28. Dez 2020, S. R06. May, Gerda (interviewt von Scherf, Martina: “Sie wollten nur leben”. In: Südd. Zeitung Nr. 1 vom 02. Jan 2021, S. R04.
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne TB).