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Nur ein kleiner Fehler (Story)

(So kündigte Walter Ernsting 1956 diese Kurzgeschichte von mir 1956 an:
Die Reihe soll phantasiereichen und schriftstellerisch begabten Lesern der UTOPIA-Reihen die Gelegenheit geben, ihre selbstgeschriebenen Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Wir hoffen, dass die strenge Auswahl der eingehenden Manuskripte auch die Zustimmung der Freunde des UTOPIA-Magazins findet und sie die gleiche Freude an den Geschichten haben werden wie wir.)

Es war meine erste richtige Veröffentlichung. 10.00 Mark gab es dafür – vom Postboten an der Wohnungstür ausgehändigt Und dies war das Titelbild des Magazins:

Erforschung des Planeten Mars – Utopia-Magazin Heft 6 (Morris Scott Dollens – Pabel-Verlag 1956)

Nur ein kleiner Fehler

Pausenlos fluteten die lebensvernichtenden Strahlenschauer über das zernarbte Antlitz des Planeten. An bestimmten Punkten außerhalb der vergifteten und ionisierten Atmosphäre waren die Transformatorraumkugeln stationiert. Sie zapften die Sonne, einen gelben und verzwergten Typ, mit hochfrequenten Wellenlängen an, wandelten die aus dem positronischen Sonnenpotential gewonnenen Energien und bestrichen damit die gesamte Oberfläche der sterbenden Welt.
In einer der Kugeln, die sich schon durch ihre Größe von den übrigen hundert unterschied, unterhielten sich die beiden Aktionsleiter.
„Unsere Bombenkommandos haben gute Vorarbeit geleistet. Alle größeren Ansiedlungen liegen in Schutt und Asche, zertrümmert von den Platinreaktionsbomben. Alles übrige Leben haben die Strahlen und die verseuchte Atmosphäre vernichtet.“
„Du meinst, wir sollten die Vorbereitungsarbeiten einstellen?“
„Ja. Ich werde einen entsprechenden Befehl gleich durchgeben. Die Landetruppen sollen sich bereitmachen; vorher werden wir beide jedoch einen Erkundungsflug vornehmen.“
Baki drehte sich um und entfaltete den Sprechfächer. Die Verbindung war hergestellt.
„An alle Stationen: Zapfstrahlen sofort unterbrechen. Die Reinigungsschiffe sollen mit dem Abwerfen von Stickstoffbakterien beginnen und die Atmosphäre regenerieren. Landekommandos sind innerhalb der nächsten sieben Stunden aufzustellen und sollen sich auf Abruf bereit halten. Ich wiederhole…”

                                                                                      *

Eine halbe Stunde später löste sich die Admiralskugel aus dem Verband und strebte mit wachsender Beschleunigung der Planetenoberfläche zu. In den tieferen Schichten der Lufthülle setzten mit flimmerndem Toben die Bremsstrahler ein und fingen die Wucht des Sturzes ab, führten sie in ein sanftes Schweben über.
Dann glitten sie in konstanter Höhe über den abrollenden Globus dahin und hielten auf dem Fernseher nach interessanten Objekten Ausschau. Baki und Odindo standen hinter dem Pilotensessel und unterhielten sich über verschiedene Sachen. Dabei kam die Sprache auch auf den Zweck ihres Forschungsfluges.
 „Wie lange sind wir jetzt schon unterwegs?“
“Nach den Kalenderuhren sind es sieben Jahre. Nachdem wir allerdings mit annähernder Lichtgeschwindigkeit geflogen sind, müssen wir die Zeitkontraktion mit einrechnen. Ich schätze, dass wir, nach nimischer Zeit, vor dreiundsiebzig Jahren gestartet sind. Es besteht also bereits eine Differenz von Sechsundsechzig Jahren…“
„… was im Grunde genommen gar nichts ausmacht“, ergänzte Baki Odindos Ausführungen. „Wir besiedeln diesen Planeten und bereiten ihn auf die große Flotte vor, die unsere überbevölkerte Heimat entlasten wird. Sie müssten eigentlich bald eintreffen, nicht wahr?“
„Es dürfte noch zwei Sonnenumläufe dauern. Bei unserer Abfahrt waren schließlich erst drei Siedlungsschiffe im Bau.“
Sie wandten sich wieder dem Fernsehschirm zu. Auf diesem wurde gerade eine gewaltige Stadt sichtbar, die noch von Staubwolken verhüllt war. Ab und zu legte ein Windstoß die Wolken zur Seite und gab den Blick auf abgrundtiefe Atomtrichter frei, deren Ränder noch bösartig glühten. Türme ragten wie mahnende Finger in die Höhe; Türme, von denen nur noch der schlanke und verbogene Stahlkern existierte. Überall Chaos und leblose Schuttwüste. Nur an einer einzigen Stelle waren einige Gebäude verschont geblieben. Einsam und verlassen standen sie im Stadtzentrum; sogar der versengte Teppich eines Pflanzenwuchses hatte den glutigen Sturm der atomaren Explosionen überlebt.
Odindo tippte dem Piloten auf die Schulter und erklärte auf dessen fragenden Blick:
„Lande dort unten, bei den kuppelähnlichen Gebäuden. Wir möchten aussteigen und uns alles anschauen.“
Der Schiffsführer nickte und manipulierte mit der Steuerung. Sanft senkte sich die Raumkugel herunter und setzte auf. Die höllische Hitze des Bremsstrahlers setzte die letzten Reste der kümmerlichen Vegetation in Brand. Für Augenblicke umzüngelten die kleinen Flämmchen den Kugelriesen; es war, als raffe sich der Planet zu einer letzten Lebensäußerung auf. Ein Windstoß wirbelte die warme Asche auf, und der Funkenregen stob davon, setzte sich als schwarzer Belag auf die letzten weißen Stellen der Flachkuppeln.
Die Schleuse öffnete sich, und eine bequeme Treppe wurde ausgefahren. Stolz und sich des historischen Ereignisses vollauf bewusst, schritten Baki und Odindo die breite Rampe hinunter und betraten zum ersten mal das eroberte Land.
Tief bewegt umfassten sich die beiden Flottenkommandanten.
„Wir haben es geschafft!“ jubelten sie. Baki sagte feierlich:
„Das ewige Gesetz des Kosmos war uns günstig gesinnt: Töten oder getötet werden.“
„Ja! Wir leben, haben neuen Raum für unsere Rasse erobert.“
Dann gingen sie, durch kaum sichtbare Hüllen geschützt, auf die weißen Gebäude zu, die jetzt grau waren. Mit dem Fuß stieß Baki die halboffene Eingangstür vollends auf. Aber er sprang mit einem entsetzten Aufschrei zurück.
„Odindo!“ keuchte er und verfärbte sich. „Odindo! Was soll das bedeuten?“
Laut brüllend zeigte er auf den Körper, der ihm entgegengefallen war. Der Gerufene war auf einen anderen Bau zugegangen und drehte sich erstaunt um.
„Was gibt es denn? Eine Leiche? Das ist doch kein Grund zur Aufregung; es werden noch Milliarden davon herumliegen“, rief er zurück.
„Odindo! Du musst sofort hierherkommen. Erinnerst du dich noch, über was wir uns vorhin unterhalten haben? Vor dreiundsiebzig Jahren sind wir von zu Hause gestartet -“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Odindo und kam gemächlich näher. „Ich weiß. Und in zwei Jahren wird die Siedlungsflotte eintreffen. Stimmt’s?“
Baki schüttelte den Kopf und sagte dann mit leiser, aber furchtbarer Stimme: „Nein. Nicht in zwei Jahren. Wir haben den technischen Fortschritt übersehen. Die Siedlungsflotte war schon vor uns da!”

ENDE

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: “Nur ein kleiner Fehler”. In: Utopia-Magazin Nr. 6. Rastatt 1956 (Pabel Verlag).

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Krieg München Zufall

“I bombed Munich”

Das Paar, das ich im “Hotel Victoria” am Bahnhofsplatz in Brig etwa 1992 beobachtete, hatte sichtlich ein Problem: Die Frau war irgendwie nicht gut zu Fuß. Mir fiel ein, dass man gleich gegenüber in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Rollstühle ausleihen konnte. Das hatte ich zufällig einmal mitbekommen, denn in diesem Bahnhof bin ich viele Jahre mehrmals im Jahr bei meinen Wallis-Reisen gewesen.

Ich bot meine Hilfe an und so kamen wir ins Gespräch, das bald eine ungeahnte Wendung nehmen sollte. Das Paar stammte aus Amerika und wollte Urlaub hierin der Gegend machen. Die Frau war gestützt und so wollten die beiden mit dem Zug nach Genf zu einer Klinik – aber wie die Reise dorthin bewältigen? Das technische Problem war rasch geklrt und ein Rollstuhl beschafft. Die Zeit zur Abfahrt ihres Zuges nach Genf nützten wir für ein langes Gespräch auf Englisch – sie dankbar für meine Hilfe und ich dankbar, “to polish up my English”.

Man fragte natürlich auch nach dem “woher”. Den amerikanischen Heimatort der beiden weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, was geschah, als ich im Gegenzug “Munich” als meinen Ort nannte. Plötzlich wurde der Mann (er muss damals so um die 70 gewesen sein) sehr still und sagte schließlich sichtlich beklommen:

“During the war, I was pilot with the Air Force. And I bombed Munich.”

Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm erklärte, dass ich zwar heute in München leben würde – aber dorthin erst 1956, also lange nach dem Krieg umgezogen sei.

Seltsam, dass mir das gerade jetzt wieder einfällt, wo in den USA dank Donald Trump alles drunter und drüber geht und Gewalttaten ganz anderer Art die Medien dominieren. Wo die Barbaren in das Capital eindringen und es verwüsten. Für mich war es damals, im “Hotel Victoria”, Anlass gewesen, zu erzählen, wie dankbar ich als Kind war, dass die Amerikaner im Mai 1945 in Rehau auftauchten und der Krieg endlich zu Ende war. Dass wir mit den jungen GI´s, die unseren Ort an den Ausfallstraßen “bewachten”, spielen durften. Dass ein junger GI, der mit meinem Vater im Militär-LKW ins benachbarte tschechische Pilsen fuhr, um dort Bier zu organisieren, und dessen Namen ich nicht kannte, mein großer Freund wurde, den ich “Herr Mister” nannte, nicht wissend, dass das doppelt gemoppelt war (heute würde ich sagen: ein Oxymoron).
Dass ich der von den Amerikanern bald eingerichteten zweisprachigen Bibliothek viele spannende Bücher verdankte…

Dass ich den amerikanischen Piloten, die in diesen unheimlichen Bomberschwärmen während des über unseren Köpfen Richtung München oder Berlin oder Leipzig oder Dresden mit ihrer zerstörerischen Last flogen, auch so manchen Albtraum und den Schrecken der Sirenen verdanke (die mir noch heute reflexartiges Erstarren auslösen) – das erzählte ich nicht. Vielleicht ist es mir da auch gar nicht eingefallen. Rehau wurde ja nie bombardiert. Und Brig 1992- das war eine völlig andere Zeit und ein völlig anderer Ort – und auch die Menschen waren völlig anders. Eine dieser seltsamen Zufallsbegegnungen, die scheinbar Unvereinbares plötzlich in einen Zusammenhang bringen.

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Allgemeines

Der Älteste seiner Art

In jedem Beruf gibt es jemanden, irgendwo auf der Welt, der oder die selbst im hohen Alter noch aktiv ist. Zum Beispiel den Pianisten Jegal Sam – mit 96 Jahren noch immer in Südkorea aktiv. Er möchte “der älteste Klavierspieler der Welt werden”, erzählte er in einem Interview (s. unten).
Ich habe auch so einen Ehrgeiz: Ich möchte der “älteste publizierende Schriftsteller der Welt” werden. Da habe ich noch einige Konkurrenz vor mir, denn ich bin erst 80 Jahre alt. Jack Williamson zum Beispiel, ein bekannter amerikanischer SF-Autor, hat mit 98 noch eine Anthologie mit eigenen Geschichten veröffentlicht; kurz darauf starb er. Kein allzu gutes Omen.
Ernst Jünger (1895-1998), bekannter deutscher Autor, wurde 102 Jahre alt. Veröffentlicht hat er vor seinem Tod kaum mehr – “Weiße Nächte” erschien immerhin 1997, da war er schon 101 .

Mein Traum: 110 Jahre alt werden und noch veröffentlichen (vielleicht hier im Blog), wie ich dieses Jahr erlebe, über das ich 1992 in Psychologie heute einen Beitrag über den Homo futurus geschrieben habe. Ich wüsste zu gerne, wie dieses Jahr wirklich beschaffen sein wird. –

Hier ein Auszug des Artikels über den koreanischen Pianisten:
Da sitzt er am Flügel, ein kleiner Mann, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Beiges Jackett, schwarze Fliege. Er haut nicht in die Tasten, er streichelt sie. Das ist Jegal Sam, 96 Jahre, Pianist aus Südkaorea. Er möchte der älteste Klavierspieler der Welt werden, erzählt er der BBC, die einen Beitrag über ihn mit diesem Konzertmitschnitt einleitet. „Das Klavier und ich sind eins – wie kann ich ohne es leben?“ Seit 86 Jahren übe er täglich, 50 Jahre unterrichtete er, das, glaubt er, hat ihm das Leben gerettet: Er sollte zum Koreakrieg eingezogen werden, aber für Lehrer galt eine Ausnahme – auch für jene, die Klavierstunden gaben.

Quelle:
Linnartz, Mareen: “Klänge der Erinnerung”. In: Südd. Zeitung Nr. 03 vom 05. Jan 2021, S. 10 (Panorama)

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Entschleunigung Labyrinthiade

Labyrinth – Irrgarten – Yrrinthos?

Ein sehr treffendes Bild für den Ausgangszustand eines Romans ist der Irrgarten. Der Autor hat zunächst ja nur eine Fülle von Ideen, die wirklich sehr verwirrend sein können – sieht man einmal vom (auto-) biographischen Fall ab, bei dem die Chronologie eines Lebenslaufs die Reihenfolge der Elemente einigermaßen klar vorgibt (obgleich man hier durch Rückblenden und Vorblenden literarisch anspruchsvolle Kunstgriffe zur Verfügung hat). Geht der Autor in diesen Irrgarten immer wieder hinein, indem er (oder sie) den Text immer wieder überarbeitet, wird der Weg durch dieses geistige Gebilde immer klarer. Und später wird ihm der Leser gerne folgen.

Aus der Labyrinth-Sage ist uns vertraut, wie der Held Theseus seinen Weg in dieses Gewirr von Gängen und Sackgassen hinein und wieder heraus findet: Weil ihm Prinzessin Ariadne ein Hilfsmittel mitgibt, das man als eine Art antikes Navi bezeichnen könnte: Den nach ihr benannten Ariadnefaden*.

* Der müsste eigentlich Daidalos-Faden heißen, denn Daidalos, der das Labyrinth ersonnen und erbaut hat, erfand auch jene hilfreiche Garnspule – die jedoch nichts anderes sein kann, als der Bauplan dieses schrecklichen Verließes.


Echte Labyrinthe und Irrgärten

Es gibt zwei Arten von Labyrinthen: die echten und die, welche eigentlich Irrgärten sind. Der Unterschied zwischen beiden:

° In einem “echten” Labyrinth (auch als “kretisches Labyrinth” bezeichnet) kann man sich gar nicht verirren, weil es aus einem einzigen, wenngleich verwirrend hin- und hermäandernden Gang besteht, in den ein einziger Eingang hineinführt – der logischerweise zugleich der einzige Ausgang ist.

° In einem Irrgarten, mit seinen vielen Wegmöglichkeiten, Verzweigungen, Sackgassen und mehreren Ein-/Ausgängen kann man sich sehr wohl verirren.

Letzteres – eben ein Irrgarten – ist eigentlich fast immer gemeint, wenn von einem “Labyrinth” die Rede oder Schreibe ist.

Da es sich dabei meistens um gar keinen “-garten” handelt, sondern beispielsweise metaphorisch um “das Labyrinth des Lebens” oder das “Labyrinth der Großstadt” oder das “Labyrinth des Schweigens” (in denen man sich sehr wohl leicht verirren kann) habe ich das Kunstwort Yrrinthos erfunden, das alle diese “Irrgarten-Labyrinthe” meint, die eben kein “-garten” sind und schon gar nicht ein eingängiges “kretisches Labyrinth”.


Steigerung der Verwirrung

Dies ist ein “kretisches Labyrinth” mit nur einem Ein-/Ausgang und einem einzigen Gang, in dem man sich nicht verlaufen kann (Graphik J v Sch 2008)

So ein “eingängiges” Labyrinth kann man durch Einfügen von Abzweigungen und Sperren nach und nach in einen Irrgarten oder ein Yrrinthos verwandeln:

Abzweigungen öffnen – Sperren einbauen – dann wird es ein Irrgarten (Graphik: J v Sch 2008)

Fügt man noch weitere Verwirrung hinzu, indem man Sackgassen und zusätzliche Ein-/Ausgänge anbringt – dann wird es ein richtig verwirrender Irrgarten – oder eben, wenn es kein Garten ist, ein Yrrinthos:

Dies ist ein Irrgarten – mit mehreren Ein- und Ausgängen, Verzweigungen, Sackgassen (Graphik: J v Scheidt 15. Feb 2008)



Die ganze Sache wird noch verwirrender

… weil nämlich
° die älteste Darstellung eines “eingängigen Labyrinths” in der Tat auf Kreta entdeckt wurde,
° die Geschichte von Theseus und seinem Kampf mit dem Minotauros und dem rettenden Roten Faden der Prinzessin Ariadne aber fraglos in einem irrgartenähnlichen unterirdischen Verließ spielt (weshalb ich dieses lieber nicht als “Labyrinth”, sondern eben mit dem Kunstwort Yrrinthos bezeichnen möchte).

Beide Varianten, das “echte” wie das “vorgebliche” Labyrinth, werden jedoch durch etwas verbunden, was immer vorhanden ist, wenn von welcher Art Labyrinth auch immer gehandelt wird: der sprichwörtlich gefundene “Rote Faden” (von mir bisher mit dem Ariadnefaden gleichgesetzt). Er ist das, was in welchem Labyrinth auch immer den Weg finden lässt, was Ordnung in der Verwirrung stiftet
– und was für das Schreiben so unglaublich wichtig ist, weil ohne Roten Faden kein Text verständlich ist.

(S. auch den Beitrag: War Ariadnes Faden wirklich rot?

Zum Abschluss noch etwas richtig Labyrinthisches

In meiner Datenbank zu William Gaddis eingangs erwähnten Roman J R fand ich übrigens folgenden Eintrag:
“William Gaddis “J R” ist die Geschichte eines Finanzgenies an der Wallstreet:
“Der elfjährige JR spekuliert sich vom Schultelefon aus und mit Hilfe postalischer Geldanweisungen ein riesiges Finanzimperium zusammen…”

Ein irres Buch! Sehr anstrengend zu lesen, weil nahezu alles in Dialog- beziehungsweise Monologform stattfindet und ein traditioneller Handlungsverlauf kaum auszumachen ist bzw. vom Leser selbst entwickelt werden muss. Aber als Autor kann man daraus viel lernen.

Labyrinth-Nennungen in diesem Roman: S. 247, 248, 253, 273 (831: Daedalus). Und dies:
… mit einem diskret fischgrätergemusterten Labyrinth der Knitterfalten” (S. 247)

Man entkommt dem Labyrinth nicht – es ist immer und überall. Und noch etwas: Der Gang durch ein Labyrinth, gleich welcher Art, verlangsamt einen wie von selbst. Durchrennen ist nicht ratsam. Entschleunigung ist angesagt.

Lesefutter
Bittner, Michael: “Überfordert uns!”. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 283 vom 08. Dezember 2015 (Feuilleton).
Ceram, C.W.: Götter, Gräber und Gelehrte – Roman der Archäologie. (1949). Hamburg 1951 (Rowohlt).
Fischer, Meike: Der rote Faden. Eigene Fotoprojekte konzipieren und verwirklichen. Heidelberg 2015 (Dpunkt-Verlag).
Gaddis, Wiliam: J.R. (New York 1975). Frankfurt am Main 1996 (Zweitausendeins).
Gehring: Hansruedi: E-Mail vom 10. Dezember 2014.
Grant, Michael und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. (1973) München 1976 (List).
Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen – 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982 (Prestel).
Perec, George: La Disparition. (Deutsche Übersetzung von Eugen Helme von 1989: Anton Voyls Fortgang. Verlag Zweitausendeins).
Riordan, Rick: Percy Jackson und die Schlacht um das Labyrinth. (USA 2008) Hamburg 2010 (Carlsen).
Schmidbauer, Wolfgang: E-Mail vom 10. Dezember 2014.

(Ursprünglich: Post #296 meines Labyrinth-Blogs bei den SciLogs / JvS #1016 / SciLogs #1371/ Aktualisiert: 07. Jan 2021 / 26. Dez 2015/12:48 (23. Nov 2015/22:57)  / v

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3 (drei) Autobiographisches Haiku Kreativität Lyrik Naturwissenschaft Psychologie Sachliches (Sachtexte) Science-Fiction

GeistQuantenfluktuationen

Achtung – jetzt wird es winzig, richtig multimikroskopisch ultra nanomäßig klein. Und ein wenig science-fiction-artig. Aber es wird zugleich auch immens schreibpraktisch.

Quantenfluktuationen sind die kleinste vorstellbare Einheit der Welt – Manifestationen des Planck´schen Wirkungsquantums. Max Planck hat es sich als Grundlage der von ihm um 1900 begründeten Quantenphysik ausgedacht. Ausgedacht – das ist das Schlüsselwort. Niemand wird jemals ein solches Teilchen beobachten. Es ist ein geistiges Konstrukt, das man in die mathematischen Formeln der Quantenphysik einbauen kann. Das funktioniert bestens.
Harald Lesch stellt dafür in dem Film “10 hoch” eine gute Visualisierung vor: Aus dem Nichts (Vakuum) gemächlich aufblubbernde Bläschen. Sie “blubbern” natürlich nicht – sie geben keinen Ton von sich – “dort unten” im kosmischen Vakuum gibt es keine Töne. Aber das ist eine anschauliche Vorstellung.
Ich liebe dieses Wort “Quantenfluktuation” – das ist pure Poesie. Es ist sehr anschaulich (wenn man weiß, worum es sich handelt und den Film mit Lesch gesehen hat). Es passt bestens in jede Science-Fiction, die ja ihre ganz eigene technische und naturwissenschaftliche Sprache hat und – wenn sie gut ist – auch Poesie. Muss man aber mögen.

Als Jugendlicher zwischen Abitur und erstem Studiensemester habe ich mal während einer “malenden Phase” die folgende Skizze gezeichnet. Sie kommt heute in meiner Vorstellung dem am nächsten, was bei einer Quantenfluktuation geschehen könnte und sich eigentlich nicht beschreiben lässt. Aber man kann sich dem annähern. Als ich im Sommer 1959 das Bild anfertigte, hatte ich keine Ahnung von QF. Oder wie das sein könnte, wenn aus dem Unbewussten etwas in dieser Art aufsteigt und so etwas wie psychische Energie wird – die dann zum Beispiel zu so einem Bild gerinnt, wenn man dem Fluss der Energie folgt.

In vielfacher Vergrößerung: Aus der Schwärze des Vakuums emaniert ein Quant – könnte aber auch was anderes sein (JvS 1959-08-06)

GeistQuantenfluktuationen – was soll das denn sein?

Unter Geist versteht die Philosophie (und heute ihre moderne Tochter, die Psychologie) ein drittes* Element neben Körper und Psyche. Die heutigen Psychologen mögen den Begriff nicht sonderlich – da kann man nichts messen, wiegen, zählen. Aber niemand wird bestreiten, dass es so einen eigenständigen Bereich gibt. Denn Gedanken, als Grundelement des Geistes, sind nun mal nicht körperlicher Natur oder seelischer Art (wie die Gefühle). Beispiel: Das Wort “GeistQuantenfluktuationen”.

* Körper, Seele und Geist – das ist ein sehr schönes Beispiel für die Bedeutung der Zahl “3” – nicht nur in der Philosophie. Deshalb habe ich dafür eine eigene Kategorie eingerichtet: “3 (drei)”.

Ich habe mir diesen Begriff heute früh ausgedacht – nein: das Wort ist mir eingefallen. Es “fiel” buchstäblich in mein Bewusstsein ein, als ich nach etwas suchte, das den Vorgang beschreibt, der jeden Morgen bei mir abläuft, wenn ich nach dem Aufwachen erst einmal im Dunkeln sitze. Das ist meistens so gegen 05:00 Uhr, also im Übergang von der Nacht in den Tag, wo manchmal ein Traum nachschimmert (oder heftig nachhallt, wenn es ein Albtraum war), aber auf jeden Fall irgendwelche Gedanken, Ideen, Einfälle hochblubbern. Woher kommt das? Aus der Nacht- und Traumwelt. Aus dem seelischen Urgrund. Aus dem Unbewussten (wie Freud das nannte), oder aus dem Vorbewussten (wie ebenfalls Freud jenen anderen, bewusstseinsnäheren Bereich nannte, der schon einmal bewusst war, aber wieder vergessen wurde und so etwas wie die Quelle der Kreativität ist)
Inspiration nannte man das früher – vom griechischen Wort für “einhauchen”. Etwas wird eingehaucht. Etwas blubbert hoch – so wie die Quantenfluktuationen aus dem kosmischen Urgrund des Vakuums hochblubbern, sich zu Quarks und immer höheren, komplexeren Elementarteilchen zusammenfinden, Atome bilden daraus Moleküle, diese schließen sich zu Zellen zusammen – Leben beginnt – und auf der höchsten beobachtbaren Ebene: Menschen wie Sie und ich. Das kann man sich doch gut vorstellen, oder*?

* Was man sich nicht mehr vorstellen kann: Woher sollen denn diese Quantenfluktuationen kommen – wenn es “da unten” weder Raum noch Zeit noch sonst irgendetwas gibt? Eine Frage, auf die es niemals eine Antwort geben wird – genau wie auf diese Frage: “Was war vor dem Urknall?” – wo kommt diese ultrawinzige Materieballung her, in welcher das gesamte Universum enthalten ist und aus der es sich entfaltet, Raum und Zeit bildet –
Lassen wir das. Sonst landen wir noch im Irrenhaus, pardon: in der Landesnervenheilanstalt – so heißt das heute euphemistisch. Meint aber dasselbe: An der Welt irre werden – sich verlieren im Yrrinthos der Welt. (Zum “Yrrinthos” an dieser Stelle mehr.)

Continuos creation des Geistes: auch Kreativität genannt

Der Begriff “Quantenfluktuationen” ist wiederum ein sehr gutes Beispiel für das, was ich “GeistQuantenfluktuationen” nenne – ein Gedanke, der um 1899 in Max Planck hochgeblubbert ist, sich erst in Texten und Formeln des Gelehrten manifestierte und irgendwann Bestandteil des modernen naturwissenschaftlichen Denkens wurde. Er ist – obwohl niemand ihn je gesehen und beobachtet hat und dies niemals der Fall sein wird – ein Element der Wirklichkeit geworden.
Und vielleicht wird sogar, wenn andere diesen meinen Begriff aufnehmen und verwenden, die “GeistQuantenfluktuationen” ebenfalls zu einem Element der Wirklichkeit – obwohl dies nichts anderes als eine “GeistQuantenfluktuationen” ist, die heute früh in mir hochgeblubbert ist. Und selbst wenn sonst niemand den Begriff übernimmt – in meiner Wirklichkeit ist er nun da und macht mir anschaulich, was Kreativität ist (und auch Phantasie): Einfälle (die von irgendwo aus einem geheimnisvollen “oben” einfallen) – oder eben von “unten”, ebenso geheimnisvoll hochblubbern, aus den Archiven meines Gedächtnisses oder woher sonst sie entstehen mögen.
Continuos creation – das war in der Kosmologie lange die Beschreibung dessen, was im Kosmos ständig passiert. Einstein glaubte noch an dieses ständige Weiterfließen von Raum, Zeit, Materie und Energie “von irgendwoher”. Bis Hubble mit der Idee des Big Bang, des Urknalls daherkam. Die Kontinuierliche Schöpfung (die ja eigentlich keine war, oder? Wer soll den das “geschaffen haben?) lebt aber paradoxerweise immer noch weiter – eben als Konzept der – genau: der Quantenfluktuationen! Die ja unaufhörlich aus dem Vakuum, dem Nichts entstehen und neue Materie/Energie bilden…

Rätselhafte Welt, diese Physik. In der es allerdings auch andere Paradoxien gibt, wie die “Welle-Korpuskel-Dualität” des Lichts. Mit dem wunderbaren Nebeneffekt, dass Heisenberg mit seinem Unschärfe-Theorem die Psychologie in die Physik hineingeschmuggelt hat: Den Beobachter. Es liegt “im Auge des Betrachters” (so ungefähr hat das Shakespeare dies mal in Bezug auf die Schönheit formuliert), ob das Licht als Welle beobachtet wird – oder als Korpuskel.
Und es liegt “im Wollen des Handelnden”, ob er aus einem Blubber-Gedanken einen Song komponiert, eine Statue aus einem Stein haut, ein Gemälde gestaltet, einen Aphorismus kreïert, vielleicht sogar einen ganzen Roman mit tausend Seiten – oder vielleicht nur ein winziges Haiku.

“I bombed Munich”

Ein anschauliches Beispiel für eine GeistQuantenfluktuation habe ich dieser Tage Anfang Janaur 2021 erlebt, als irgend etwas (keine Ahnung mehr, was das war) eine Erinnerung an ein Erlebnis 1992 in Brig im Kanton Wallis auslöste. Ich habe es hier im Blog beschrieben. Das war natürlich nicht ich, der da bombte – aber vielleicht lesen Sie es hier im Blog nach: “I bombed Munich” .-

Und hier noch ein Haiku (eben in mir hochgebubbelt)

Geist Quan ten fluk tua tion – sechs Silben. Könnte man da vielleicht ein Haiku draus machen? Wie wär´s damit:

Quan ten fluk tua tion
So blub bert der Geist em por
Aus Rät sel tie fen

Zählen Sie es ruhig nach: 5- 7 – 5 Silben. Guten Morgen, allerseits.

Quelle
Windorfer, Gerhard und Lenz, Herbert (und Harald Lesch als Sprecher und Moderator): 10 hoch 26 bis -35: Universum und Quanten. Deutschland 2010 (Komplett Media).

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Autobiographisches Psychologie Schreibseminare Zufall

Psychopathen sind unter uns

Donald Trump und seine Anhänger sind wie Spiegelbilder voneinander. Der Präsdent kann seine Abwahl nicht annehmen – er schüttet seinen trotzigen Haas ins Land hinaus, fordert führende Politiker unverblümt am Telefon zum Wahlbetrug auf und hetzt seine Anhänger auf – die dann das Kapitol stürmen. So etwas wie den dieser Tage von ihm sehr offen angezettelten Aufruhr seiner fanatisierten Wähler kann man nicht mehr nur als “kriminell” bezeichnen: das ist offene Aufforderung zum Krieg gegen den politischen Gegner!

So direkt hat sich kaum jemand in der Weltgeschichte selbst ans eigene Messer geliefert.

Heute spricht man in der Psychologie lieber von Soziopathen als von Psychopathen, weil sich ihr zerstörerisches Verhalten sozial auswirkt. Aber der ältere Begriff passt schon: Es handelt sich um eine Persönlichkeitsstörung – wenn man den Großteil der Bevölkerung als “normal” (oder “normal gestört”) kategorisiert.
Alle, die nicht zu seinen glühenden unkritischen Verehrer zählen, sind sich einig, dass ein echter Psychopath derzeit noch immer im Weißen Haus in Washington sitzt. Nicht nur ich haben seine Abwahl deshalb als ausgesprochenen Glücksmoment erlebt. Aber wie er sich noch immer an seinen Sessel klammert, seine Abwahl kategorisch leugnet und egomanisch-narzisstisch seine ganze Nation manipuliert und blockiert – und das in Corona-Zeiten – das ist schon sehr deutlich das Handeln und Wüten eines Psychopathen. Er hat im Dezember, eigentlich schon nicht mehr richtig im Amt, noch zwei extrem wichtige Gesetzesvorhaben durch Veto blockiert und damit sogar seine eigenen Parteianhänger in Kongress und Senat so gegen sich aufgebracht, dass sie sein Veto ignorierten:
° Das eine war die so wichtige Corona-Hilfe für Millionen in der Pandemie verarmte Amerikaner –
° das andere der Militäretat, der vorher kaum je von einem Präsidenten blockiert worden war.
Da kann man wirklich einem Mächtigen zuschauen, der in seiner Egomanie sich das eigene Grab schaufelt, dabei aber möglichst viele andere Menschen mit sich in die Tiefe reißt.

Sieht so ein Psychopath von innen aus? (JvSch 1959)

Aus eigener Anschauung

Ich konnte so jemanden einmal während eines Seminars aus nächster Nähe studieren, noch dazu einen Berufskollegen. (Ja, das ist möglich – auch Psychologen können psychopathisch agieren). Er hat mir dieses Seminar brutal so zerstört, dass nach und nach alle Teilnehmerinnen vorzeitig abreisten. Bezeichnenderweise finde ich ihn auch heute noch irgendwie auch sympathisch, er hatte nämlich ein sehr einnehmendes, charmantes Wesen. Das war seine eine Seite. Aber er hatte auch diese rücksichtslos manipulierende, sehr arrogante andere Seite.
Seine zerstörerische Seite zeigte sich schon darin, dass er, kaum angekommen, auf den Balkon des Seminarhauses trat, ins Tal schaute und dann sich über den Laptop in einen fremden Computer einhackte, um auf Kosten von dessen Besitzer zu telefonieren: “Warum ist der so blöd, sich nicht mit Passwort zu schützen!”, war seine Bemerkung, als ich irritiert nachfragte.. Er kam einen Tag zu spät und fuhr zwei Tage früher ab. Dazwischen verschwand er mit einer der Teilnehmerinnen für einen Tag zu einem Besuch in ein nahegelegenes Thermalbad. Und in einer seiner Geschichte (er konnte brillant schreiben) charakterisierte er eine der im Raum anwesenden Teilnehmerinnen mit ihrem echten Vornamen in einer fast pornographischen Geschichte als Sexsklavin. Als ich ihn bei dieser Lesung irritiert unterbrach und darauf hinwies, dass das so nicht ginge – war er richtig überrascht: “Aber wieso denn nicht?”
Bei anderer Gelegenheit erzählte er mir “unter Kollegen” von seiner Arbeit in einem Assessment-Center, wo er Probanden mit geradezu sadistischem Vergnügen in Fallen laufen ließ.
(Seltsamer Zufall: Ich ich das eben schrieb – meldete sich eine Frau, die damals in diesem Seminar dabei war, für ein aktuelles Seminar in diesen Tagen Anfang 2021 an – nachdem wir jahrelang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt hatten. Wirklich sehr seltsam.)

Zu diesem Thema ein Zitat aus dem Jahr 1929

“Die Psychopathen sind immer unter uns. In kühlen Zeiten begutachten wir sie – in heißen Zeiten regieren sie uns.”

Das notierte der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer, während er den unaufhaltsamen Aufstieg Adolf Hitlers und seiner Nazi-Horden beobachtete. Seine scharfe und kritische Beobachtungsgabe hat ihn allerdings nicht davor bewahrt, mit Hitler mitzulaufen, der SS beizutreten (wie so viele Ärzte). Nach dem Krieg, 1955, behauptete er als Gutachter in einem Wiedergutmachungsverfahren eines an Depressionen leidenden Naziverfolgten, dass es keine verfolgungsbedingten Neurosen gebe. Hat auch einen irgendwie psychopathischen Touch, diese Psychiaterkarriere.

Quelle
Kretschmer, Ernst, zit.n. Arno Gruen: “Den destruktiven Realismus der Mächtigen abbauen”, in: Scheidt, Jürgen vom: Konzepte für die Zukunft. Bonn 1990, S. 101

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Autobiographisches Beruf Fiction München Schreiben Schreibseminare Science-Fiction Traum Träume Zukunft

Der metallene Traum

Die ursprüngliche Geschichte mit diesem Titel habe ich 1963 geschrieben. (Es gibt einen Tagebuch-Eintrag: “1963-10-19: ca. 70 Seiten “M.T.” fertig.”) Dieses Manuskript hatte etwa fünf Seiten und erschien erstmals in dem Fan-Magazin Munich Round Up (MRU) der Münchner Ortsgruppe des SFCD*, wo SF-Begeisterte sich regelmäßig zum gemeinsamen Schreiben bei Waldemar Kumming in der Herzogspitalstraße trafen – gewissermaßen meine erste Erfahrung mit einem Schreibseminar. Damals (1959) konnte ich nicht ahnen, dass dies zwei Jahrzehnte später einer meiner drei Brotberufe werden würde: Schreibseminare leiten.

* SFCD = “Science Fiction Club Deutschland. Dort war ich, mit kurzer Unterbrechung, von 1955-1959 ordentliches Mitglied.

Titelbild “Der metallene Traum” (1964, Tuschezeichnung von Willi Johanns)

Ich veröffentlichte diesen Kurzroman 1964 mit eben dem Titel Der metallene Traum in drei Teilen, ebenfalls in MRU. Daraus wurde 1975 mein richtiger gedruckter Roman #3: Der geworfene Stein. “Der metallene Traum” ist darin der zentraler Teil.
Worum geht es dabei?
Der Student Schrödinger lässt sich in einem Zustand großer Verzweiflung auf ein wissenschaftliches Experiment ein, bei dem er in eine Art Kälteschlaf-Koma versetzt wird. Aber es geht etwas schief – und man kann ihn erst 100 Jahre später wieder ins Leben zurückholen. München hat sich sehr verändert, ist zu einer voll kybernetisierten Stadt geworden. Schrödinger tritt in einem Schlüsselkapitel in direkten Kontakt mit dem “Kyberneten”, einer riesigen Rechenmaschine unter dem Englischen Garten, welche die Geschicke der Stadt steuert. Diese (heute würde man sagen: virtuelle) Begegnung nannte ich den “metallenen Traum”.

Der Graphiker Willi Johanns zeichnete zu meiner Erzählung in MRU fünf Tusche-Bilder. Oben davon das Titelbild. Hier eine Schlüsselszene, in der Schrödinger in der Nähe von Starnberg, einer im Jahr 2064 gefährlichen “wilden” Gegend, auf eine Gruppe mongolischer Eindringliche trifft:

Seltsame Begegnung mit Mongolen nahe Starnberg – im Jahr 2064 (Tuschezeichnung: Willi Johanns 1964)

Zu einer anderen bizarren Begegnung kommt es später im Park des Nymphenburger Schlosses mit einem wild gewordenen Roboter:

He Robot im Nymphenburger Schlosspark (Tuschezeichnung: Willi Johanns 1964)

Eine kleine Story macht große Karriere

1971 übernahm Wolfgang Jeschke (Herausgeber-Pseudonym: Herbert W. Maly) die Story in seine Anthologie mit eben diesem Titel Der metallene Traum.
1974 erschien eine Taschenbuchausgabe davon bei Heyne.
1975 mache ich die Story zum zentralen Teil meines Romans Der geworfene Stein.
1977 druckte Ruth J. Kilchemann den Text in einer anderen Anthologie (Schlaue Kisten machen Geschichten) für die Computer-Weltfirma IBM.
1980 übernimmt Thomas LeBlanc die fünf Seiten in seine Anthologie Start zu neuen Welten.

Habe ich den Cyberspace erfunden?

Dies könnte gut die erste CyberSpace-Geschichte gewesen sein – lange ehe William Gibson 1982 diesen Begriff prägte (s. unten Auszug aus der Wikipedia). Aber es gab davor schon andere Phantasien in dieser Richtung:
° Isaac Asimov schrieb eine Story, in der jemand mit technischen Mitteln in die Träume eines anderen Menschen eindringt. Asimov hat so viele Erzählungen publiziert, dass diese kaum ausfindig zu machen ist. Es könnte sich um “”Robot Dreams” aus dem Jahr 1986 handeln – aber in meiner Erinnerung veröffentlichte er schon viel früher etwas in der Richtung (es könnte sich um “Dreamworld” handeln, November 1955 in The Magazine of Fantasy and Science Fiction).
° Roger Zelazny schrieb erst 1965 die Story “Dream Master”, aus der im Jahr darauf der Roman He who shapes entstand, worin jemand in die Träume anderer Menschen eindringt.
Als Film hat diese Idee Christopher Nolan in Inception realisiert – eine furiose Achterbahnfahrt in ein Traum-Labyrinth mit mehreren Etagen. Hier ist das Medium zwar nicht wie bei Gibson das Internet, sondern ein Computer – und ist das Internet denn etwas anderes als ein weltumspannendes Netzwerk von Computern? Die “virtuellen Begegnungen” finden ja nicht in den verbindenden Kabeln statt – sondern in den Mikroprozessoren.
Ersetzt man “Traum eines anderen Menschen” mit “virtuelle Welt im Internet oder Computer” – landet man beim Koncept des Cyberspace.
Meine Geschichte vom “Metallenen Traum” ist – wie schon der Titel andeutet – zwischen diesen beiden Konzepten des “fremden Traums” und der “Internet-Virtualität” angesiedelt. Das Internet gab es 1964 noch nicht, als ich meine Geschichte ersonnen habe – als Arpanet wurde es vom amerikanischen Militär (US Air Force) erst ab 1968 gestartet.

(Wikipedia:) Die erste ernstzunehmende Ausformulierung des Konzepts findet sich bereits 1964 in Stanislaw Lems Summa technologiae, worin das Konzept des Cyberspace unter der Bezeichnung Periphere Phantomatik beschrieben wird. Eine weitere frühe Darstellung findet sich in Oswald Wieners Roman die Verbesserung von Mitteleuropa von 1969, in den Abschnitten notizen zum konzept des bio-adapters und appendix A. der bio-adapter.
In der Kurzgeschichte
True Names and Other Dangers (1987) führte Vernor Vinge die Ideen weiter. Seine Protagonisten wandern in einer virtuellen Welt und interagieren mit virtuellen Gegenständen. Manche haben sich in Gruppen zusammengeschlossen und verstecken sich in abgetrennten Teilen, genannt „Walled Garden“.
Wörtlich ist von Cyberspace erst 1982 in der Kurzgeschichte
“Burning Chrome” des amerikanischen Science-Fiction-Autors William Gibson die Rede, der allgemein zur Cyberpunk-Literatur gezählt wird. Gibson beschreibt den Cyberspace als konsensuelle Halluzination eines von Computern erzeugten grafischen Raums…

Lesefutter
Asimov, Isaac: Dreamworld (in: The Magazine of Fantasy and Science Fiction, November 1955). Deutsch: Dafür plage ich mich? In: Isaac Asimov, Martin H. Greenberg und Joseph D. Olander (Hrsg.): Feuerwerk der SF. Goldmann (Edition ’84: Die positiven Utopien #8), 1984, ISBN 3-442-08408-3. Auch als: Traumwelt. In: Hans Joachim Alpers und Harald Pusch (Hrsg.): Isaac Asimov — der Tausendjahresplaner. Corian (Edition Futurum #2), 1984, ISBN 3-89048-202-3.
ders: “Robot Dreams” (veröffentlichte in einer Anthologie gleichen Titels: Isaac Asimov: Robot Dreams). Deutsch: Roboterträume. In: Friedel Wahren (Hrsg.): Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin 30. Folge. Heyne SF&F).
Gibson, William: “Burning Chrome”. In: in Omni (Juli 1982)
Kilchemann, Ruth (Hrsg.) Schlaue Kisten machen Geschichten. Nördlingen 1977 (IBM).
LeBlanc, Thomas (Hrsg.): Start zu neuen Welten. Science-Fiction-Erzählungen aus Deutschland. Freiburg 1980 (Herder Hardcover)
Maly, Herbert W. (d.i. Herbert W. Franke oder Wolfgang Jeschke): Der metallene Traum. München 1971 (Lichtenberg).
Nolan, Christopher (Regie): Inception. Nolan. USA 2010 ( Warner Brothers).
Scheidt, Jürgen vom: “Der metallene Traum”. München 1963 (Munich Round Up – als Manuskript gedruckt).
ders.: “Der metallene Traum” in Maly, Herbert W. (Hrsg:) und in Kilchemann, Ruth (Hrsg.)
Zelazny, Roger: The Dream Master, 1966, dt. Herr der Träume, Pabel, 1976, ohne ISBN (Terra TB 270); und Ein Spiel von Traum und Tod, Bastei-Lübbe, 1986, ISBN 3-404-23052-3 (basiert auf der Erzählung “He who shapes” aus dem Jahr 1965). Vollständige dt. Fassung von “He who shapes”: Der Former. Übers. Hans Maeter. In: Damon Knight Hg.: Computer streiken nicht. SF-Stories. Heyne TB 3360, München 1973 ISBN 3-453-30237-0 S. 61–156. Zuerst engl. in: Nebula Award Stories 1, 1965
Jahr 1965)

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Pegasus – das Wunderpferd lebt munter weiter

Gibt es ein anschaulicheres Symbol für das Schreiben als das wundersame geflügelte Pferd, das die Griechen Pegasus nannten? Wie sich da ein doch recht schweres und schwerfälliges Geschöpf in immer entlegenere Höhen emporschwingt! Der allfällige Reiter muss allerdings die Zügel (einen “roten Faden”?) geschickt lenken, um das gesteckte Ziel seiner Phantasie und Kreativität in geistigen Höhen zu erreichen. Sonst geht es ihm / ihr wie dem unglückseligen Ikarus, welcher der Sonne zu nah kam. Seine künstlichen Flügel schmolzen – und er stürzte ins Meer und ertrank.
(In einer seltenen anderen Variante der Sage überlebt Ikarus allerdings – was wiederum darauf hinweist, welche unbändige Phantasie die Griechen hatten, wenn sie sich auf ihre Pegasi schwangen…)

1987 stellte der griechische Archäologe Nikolas Yalouris seinen opulenten Bildband zu diesem mythischen Tier vor: Pegasus: Ein Mythos in der Kunst.
Der Mythos ist inzwischen Jahrtausende alt, hat aber nichts von seinem tiefen Sinngehalt verloren. Ganz im Gegenteil: er ist noch immer ein höchst lebendiges Sinnbild der schöpferischen Kräfte im Menschen (wie sich u.a. in Träumen unserer Tage zeigt). Der Inhalt des Mythos und seine Entstehung werden ebenso behandelt wie kulturgeschichtliche und kreativitätspsychologische Aspekte: Die verborgene Bedeutung des Mythos wird interpretiert als Integration biologischer (d.h. triebhaft-sexueller) und spiritueller Kräfte.

Yalouris: Pegasus (1987, Verlag Zabern, Mainz – Ausschnitt des Umschlags)

Ich war sofort fasziniert von diesem Stoff und nahm das Buch als Vorlage für eine Sendung, die am März 1988 im “Nachtstudio” des Bayrischen Rundfunks in den Äther ging: “Pegasus – das beflügelnde Wesen”.


Ein Verein – das wär´s!


Nachdem ich schon seit 1979 Seminare für Kreatives Schreiben durchführte, ging immer ständig die Idee durch den Kopf, einen Verein ins Leben zu rufen, der sich diesem Thema widmet. Yalouris´ Werk und meine BR-Sendung verliehen diesen Phantasien den entscheidenden Impuls, die Idee zu realisieren. Ich trommelte einige Schreibbegeisterte aus damaligen Seminaren zusammen und gründete mit meiner Frau Ruth den Verein, dessen Gründungsversammlung am 05. Okt 1988 war. Bei der Abfassung der Satzung half Norbert Engel, damals Justitiar im Bayerischen Senat und ebenfalls ein Schreibbegeisterter. Mein Graphikerfreund aus Jugendjahren Alfred Hertrich zeichnete das passende Logo. Einige Jahre war ich selbst Erster Vorsitzender des Vereins. Dann dachte ich irgendwann: Entweder mein Baby ist stark genug auch ohne mich als “Papa”- oder es geht ein.
Es war stark genug – denn der Verein, inzwischen bereits von der “vierten Generation” geführt und gepflegt, existiert nach wie vor. Er veröffentlicht jedes Jahr ein eindrucksvolle Anthologie mit Geschichten der Mitglieder (Weihnachten war die neueste Ausgabe bei mir im Breifkasten, herausgegen von Ute Lutsch und Nikol Schlichte und wieder sehr gelungen in der Mischung aus Kurzgeschichten, autobiographischen Memos und Gedichten.)
Der Verein hat längst eine eigene Website – www.pegasus.schreiben.de – und er wird auch die Corona-Pandemie in bewährter Kreativität und Phantasie überstehen, ist doch für den Schreibenden “alles Stoff” und so eine weltweite Katastophe sowieso.

Ute Lutsch und Nikol Schlichte (Hrsg.) Kaledoskop (Jahres-Anthologie 2020 des Pegasus-Vereins)

2014 stellte die (inzwischen leider eingestellte) Zeitschrift TextArt anlässlich des 30. Geburtstags den Münchner Verein ausführlich vor. Inzwischen hat der Verein längst sein 35. Jubiläumsjahr gefeiert. Hier ein von der Website geklautes Szenebild aus der Lesung vom November 2019:

Lesung der Pegasus-Schreiber (München, Nov 2019)

Die Wikipedia weiß noch mehr

Für alle, die zu faul sind, selbst in die Wikipedia zu schauen, zitiere ich hier, was dort über den Mythos von Pegasus (auch: Pegasos) zu lesen ist:
Pegasos war das Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa. Die Überlieferungen über seine Geburt variieren: Eine Version berichtet, er sei aus Medusas Nacken entsprungen, als diese von Perseus geköpft wurde. Hierbei sei er als Zwilling von Chrysaor zur Welt gekommen. Eine andere erzählt, er sei aus jener Stelle der Erde entsprungen, auf welche Medusas Blut getropft sei.
Pegasos trug Bellerophon in seinem Kampf gegen die Chimära und die Amazonen. Es gibt verschiedene Geschichten, wie Bellerophon Pegasos gefunden habe: So sagen einige, dass der Held ihn trinkend am Brunnen von Peirene (am „pirenischen Quell“) gefunden habe, andere berichten, dass entweder Athene oder Poseidon Pegasos zu Bellerophon führten. Bevor er Bellerophon beistand, brachte Pegasos Blitz und Donner zu Zeus, und nach dem Tod Bellerophons kehrte er zum Berg Olymp zurück, um den Göttern zu helfen.
Angeblich entstanden durch Pegasos’ Hufschlag zwei Brunnen: einer auf Geheiß von Zeus auf dem Gebirge Helikon (der „helikonische Quell“, aus dem alle Dichter trinken), ein zweiter in Troizen (vgl. auch Hippokrene).
Pegasos wurde in ein Sternbild verwandelt, aber eine Feder seiner Flügel fiel nahe der Stadt Tarsos zurück auf die Erde und gab der Stadt ihren Namen. Seine Ursprünge als Mischwesen sind vermutlich orientalischer Herkunft. Er wurde häufig in der kretischen und kleinasiatischen Kunst und sogar noch bis in das dritte Jahrhundert nach Christus auf römischen Münzrückseiten dargestellt.

Das mit der “Verwandlung in ein Sternbild” ist übrigens nur ein Beispiel dafür, wie das geflügelte Pferd die Phantasie seit vielen Jahrhunderten angeregt und sich in alle Beriche der Kultur und Zivilisation verbreitet hat. Es gibt:
° eine Schweizer Musikgruppe dieses Namens,
° eien amerikanische Rakete,
° einige Weltraumsatelliten dieses Namens,
° eine Drohne der Budneswehr,
° einen Computer,
° eine Schad-Software,
° einen Wirtschaftspreis (in Österreich),
° das Emblem als Bildmarke der Mobil Oil Company
° und , alst but noch least, einen “Pegasus Verein für kreatives Schreiben” in München – aber darauf habe ich ja oben schon hingeweisen.
Was letzteres angeht: Als ich 1989 den Verein im Münchner Vereins-Register anmeldete – gab es rund ein Dutzend Vereine, die diesen Namen führten, darunter einen für Oldtimer-Fans. Bewegung ist eben alles.


Lesefutter
Buslau, Oliver: “Eine Autorengruppe asu München stellt sich vor. In: TextArt Heft 4, April 2018, S. 52.
Scheidt, Jürgen vom: Pegasus – das beflügelnde Wesen. München 1988. Manuskript einer Sendung des
Bayr. Rundfunks im “Nachtstudio” am 15. März 1988.
Scheidt, Jürgen vom und Norbert Engel: Satzung des Vereins “Pegasus e.V.” vom 19. Jan 1989.
(Gründungsversammlung des Vereins war am 05. Okt 1988).
Yalouris, Nikolas: Pegasus: Ein Mythos in der Kunst. Mainz am Rhein 1987 (Zabern).

(Kategorien: Schreiben – Mythologie – Pegasus)

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Der Archivar der Zukunft 2

(Teil 1 der Geschichte finden Sie hier Archivar der Zukunft. Und hier geht es weiter:)

„Institut für Zukunftsberatung“, murmelte er selbstvergessen, „noch nie davon gehört.”

Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, eine Meldung oder einen Bericht über dieses ominöse Institut in einer der Hängemappen abgelegt, pardon: eines der Tiere seines Zoos mit solcher Nahrung gefüttert zu haben. Vielleicht wurde er bei den Delphinen fündig, was hieß: bei den Futurologen?

Er zog die betreffende Mappe aus dem Hängekorb, blätterte die säuberlich aufgeklebten und chronologisch sortierten Clippings durch, deren jüngstes immer zuvorderst stand. Fehlanzeige. 

Eine gewisse Verwirrung überkam ihn. Wie er es immer in diesem höchst unangenehmen Zustand zu tun pflegte, flüchtete er sich in Erinnerungen. Die andere Möglichkeit in so einem Fall wäre gewesen, im Archiv zu kramen oder noch nicht einsortierte Clippings einzusortieren oder unaufgeklebte aufzukleben oder unsignierte zu signieren oder obsolet gewordene, von den Zeitläufen überholte Einträge zu eliminieren. Aber an diesem verwirrenden Morgen erinnerte er sich. Da stieg er gewissermaßen in die inneren Archive seiner höchstpersönlichen Vergangenheit hinab. Er sah seinen Vater vor sich, im Wohn- und zugleich Arbeitszimmer. Tische, Stühle, Sofa, Schrank waren übersät mit wirren Häufchen von Briefen, Notizen und vor allem Zeitungsausschnitten. 

Der Vater hatte wohl gerade den Raum verlassen. Das Fenster stand weit auf, mit Blick auf den See, den der Föhnsturm aufwühlte. Ehe der kleine Hiernymos die drohende Gefahr erkennen und die Tür hinter sich schließen konnte, war der Sturm durch den Raum gefaucht, hatte sämtliches Papier hochgewirbelt und wie ein riesiger Staubsauger das meiste davon hinaus ins Freie gerissen. Er rannte, den Knall der Tür noch im Ohr, zum Fenster, starrte hinaus auf das weiße Gewimmel, das wie ein Schwarm seltsam flacher Möwen den schorfigen Abhang hinabsegelte und sich auf die wildschäumenden Wogen senkte. Die Schläge, die er als Belohnung für seine damalige Unachtsamkeit empfangen hatte, schmerzten ihn heute noch.

Angestrengt zwang sich Dr. Pigertaber, die Vergangenheit wieder loszulassen und in die Gegenwart zurückzukehren. Er wußte, warum er Archivar geworden war, wußte es in diesem Augenblick ganz genau. Er wollte beweisen, daß er mit ausgeschnittenem Papier sorgsam umgehen konnte und vor allem: daß er es, ordnend und zielstrebig, besser konnte als sein Vater. 

Er hatte schon bald nach dem unliebsamen Zwischenfall, kaum in der Pubertät, begriffen, daß sein Vater in all dem Papier nach etwas suchte, vor allem in den kopierten Seiten aus Büchern, die er gerade las, und in den Zeitungsausschnitten. Aber wonach suchte er? 

Nach irgendwelchen geheimnisvollen Zusammenhängen? In einem Puzzlespiel, dessen Entwurf ihm, dem Sohn, nicht bekannt war? Der Vater hatte nie darüber gesprochen. Und als Pigertaber nach seinem Tod die Papiere sichtete, in der Hoffnung, Aufschluß zu finden, Hinweise, vielleicht sogar des Rätsels Lösung, hatte er bald frustriert erkennen müssen, daß es vermutlich gar keine Lösung gab. Nicht einmal ein Rätsel. Der Vater war wahrscheinlich einfach ein von seinem Schnippelzwang besessener Neurotiker gewesen. 

In einem Anfall von Wut hatte Pigertaber junior (wie er eine Weile hieß) damals die ganzen Fetzen dieser nutzlosen väterlichen Existenz vernichtet – um dann Jahre darauf, während seines Studiums der Philosophie, plötzlich zu entdecken, daß er selbst die Marotte des Sammelns von Informationen entwickelte. So wie der Vater vom Verkauf von Büromöbeln den Lebensunterhalt der Familie bestritt und seine ganze freie Zeit den Papieren widmete, so lebte er, der Sohn, vom Verkauf von Computern. Bis die unverhoffte Erbschaft von einem fernen Verwandten ihn von dieser Fron erlöste. 

Es war nicht lange danach (seine Frau und die Kinder hatten ihn mit der Hälfte der geerbten Beute längst verlassen), als er doch noch das Geheimnis des Vaters enthüllte. Weil er es bei sich selbst wiederfand. Er sammelte all diese Informationen zunächst einem dunklen, völlig unbewußten Trieb folgend. Aber es gab auch eine zunehmend bewußter werdende Komponente bei all der dranghaften Aktivität, die sich durch nichts bremsen ließ: Er erhoffte sich davon, dem Sinn der Welt auf die Spur zu kommen, der Handschrift, der persönlichen Signatur des Weltgeistes gewissermaßen, der sich – so seine immer klarer werdende Gewissheit – auf irgendeine Art in den Ereignissen dieser Welt manifestierte. 

Und wenn man die Nachrichten über diese Ereignisse zusammentrug, wenn man es schaffte, sie richtig zu analysieren und schließlich auf passende Weise miteinander in Beziehung zu setzen, dann würde ihm, dessen war er sich gewiss, die Botschaft des Weltgeistes und damit zwangsläufig auch der Sinn der Welt enthüllt. Und damit auch der Sinn seines eigenen kleinen Lebens. 

Diese stickige, staubige Luft in dem engen Raum! Er stürzte zum Fenster hin und riß beide Flügel weit auf. Draußen tobte der Föhnsturm, wühlte das schmutziggraue Wasser des Sees auf. Zwei Möwen segelten mit spitzen Schreien dicht über die Gischt. 

Die Tür, durchfuhr es ihn, er hatte die Tür nicht geschlossen! Wie damals, mehr als dreißig Jahre zuvor!

Der Föhnsturm tobte herein, packte jedes lose Blatt, riss sogar die Hängemappen aus den Hängetrögen, leerte ihre sorgsam sortierten Clippings hohnvoll in den Raum, riss sie dann in wilden Tänzen hoch. Spiralen aus flatterndem Weiß erhoben sich, mit Druckerschwärze gesprenkelte Vogelschwärme, die ihn wild umkreisten, mit spitzen Krallen nach ihm schlugen und endlich in wahnwitziger Flucht hinaus ins Freie tobten, über den Steilhang ins zuckende Brodeln des Sees. 

Ach, wenn es doch so wäre, durchzuckte ihn ein Gedanke aus rebellischen Tiefen. Doch er versiegelte sogleich wieder den Abgrund, den die Erinnerung aufgerissen hatte, schloss das Fenster wieder und ließ den erschrockenen Blick, der langsam ruhiger wurde, über die verschlossene Tür gleiten, über die wohlgefüllten Regale mit ihren sorgsam in Klarsichtfolie verpackten bunten Buchrücken, über die Straßen mit Hängetrögen, in denen die Hängemappen-Hundertschaften ihre Clippings bargen, Tausende und Abertausende von ihnen. 

„Alles in Ordnung“, seufzte er. In den Käfigen regte es sich schon und verlangte unruhig nach Nahrung. Steif bückte Dr. Hieronymos Pigertaber sich zu dem einen weißen Blatt herab, das am Boden lag und vorhin seinen Händen entfallen war. „Institut für Zukunftsberatung“ lasen seine kurzsichtigen Augen in grünen Buchstaben. Es war ein zartes Grün, das man Reseda nannte. Der Text unterhalb des dezenten Briefkopfes war in schwarzer Schrift gehalten, wahrscheinlich vom Drucker eines Computers hergestellt. Aber es war eindeutig ein persönlicher Brief, keine Dutzendware. Er begann zu lesen:

Sehr geehrter Herr Doktor Pigertaber:

Wir würden gerne persönlichen Kontakt mit Ihnen aufnehmen betreffs Ihres vielgerühmten Archivs. Wir befassen uns, wie Sie dem beigefügten Programm entnehmen können, mit einer neu entwickelten Disziplin, dem „Zukunfts-Management“, in dem wir sowohl Führungskräfte wie auch andere interessierte Personen mit der Möglichkeit einer bewußteren Gestaltung ihrer beruflichen und privaten Zukunft vertraut machen. Besonderes Gewicht legen wir dabei, wie Sie den einzelnen Seminarbeschreibungen entnehmen können … 

Es folgten etwas umständliche Ausführungen über die unbedingt nötige Balance zwischen den Fähigkeiten der beiden Gehirnhälften, nämlich sich auf die Zukunft sowohl rational analysierend wie auch intuitiv-visionär vorzubereiten. Kopfschüttelnd las Pigertaber weiter, dem selben Zwang folgend, der ihn auch keinen einzigen Zeitungsartikel aus der Hand legen ließ, ehe das letzte Wort von seinem Gehirn aufgesaugt war. Als er den abschließenden Absatz studiert hatte, fühlte er sich mehr verwirrt als aufgeklärt:

Hierbei ist natürlich, wie Sie sich vorstellen können, möglichst fundiertes Wissen um die laufenden Trends, positiver wie negativer Natur, unerlässlich. Wir stellen uns vor, daß Ihr Archiv und vor allem Ihr persönliches Wissen, das Sie in diesem Archiv gespeichert haben, für unsere Seminare von unschätzbarem Wert wären. Deshalb würden wir uns über eine Zusammenarbeit, in welcher Form auch immer, sehr freuen. 

Für einen ersten Kontakt wenden Sie sich bitte, Ihr eigenes Interesse vorausgesetzt, an unsere Mitarbeiterin, Frau Marlies Weber-Schindler. 

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich

Dr. Justus Hohrainer, Direktor IfZF

Pigertaber ließ den Brief sinken, legte ihn langsam auf den langen Schreibtisch aus schwarz gebeizter Eiche. Eine Möglichkeit, sein Archiv tatsächlich zu nützen – davon hatte er immer geträumt, hatte dieser Möglichkeit aber nie eine echte Chance eingeräumt. Und nun war es tatsächlich soweit! Es war unfassbar. Eine gewisse Verwirrung überkam ihn. Als er nach einer Weile wieder zu sich kam, kratzte er sich nachdenklich am Kopf, der in all den Jahren nahezu kahl geworden war vom vielen Nachdenken und Archivieren. Langsam gruben seine Finger in seinen Taschen nach Streichhölzern. Dann holte er den Kanister mit Benzin, den er für diesen Fall der Fälle vorbereitet hatte, vor vielen Jahren schon. Sorgsam goss er die scharf riechende Flüssigkeit über den Käfigen und Aquarien aus, dem rebellischen Fauchen und Brüllen der Eingeschlossenen zum trotz. Er entzündete ein Streichholz, ein einziges nur, und ließ es über dem Areal der Raubtiere fallen. 

Er öffnete erneut das Fenster. Dann ging er, das flotte Knistern im Rücken, zur Tür hinaus, zum Haus hinaus, auf die Straße. Der Föhnsturm rüttelte an seiner Jacke, bis er sie befreit von sich warf. Immer weiter lief er die Straße entlang. Den nächsten Hügel hinauf und hinab. Bog in einen Weg durch Äcker ein. Lief den nächsten Hügel hinauf. Hinab. Bis er in die Wälder kam. Nicht ein einziges Mal wandte er den Blick zurück. 

(Geschrieben am 05. Juni 1990 / Erstmals abgedruckt Mai 2005 in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau. –
04. Januar 2021: Gewidmet meinem Vater, der mich mit seiner Schnippelei ähnlich aufgeregt hat – wie ich später meine Frau Ruth, als ich selbst dieser “Schnippel-Manie” verfallen war – deshalb auch ihr gewidmet mit einem großen: “Tut mir leid, dass ich dich damit genervt habe. Aber…”)

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Zeitung lesen – Thesauros füttern

Sie denken, dazu muss man doch nicht extra was bloggen: Zeitung lesen. Das macht man doch einfach so. Aber ich kann nur sagen, dass das viele Menschen zwar gewohnt sind – aber manche eben nicht. Als Student habe ich mal bei einer Messe gejobbt. Bei einer der Pausen kam ich an einem Würstchenstand mit dem Würstlbrater und seiner Frau ins Gespräch – “einfach Leute”, wie man so sagt. Auf ihre Frage nach meinem Beruf (“Student der Psychologie”) kam von dem Mann die Antwort: “Da müssen sie aber viele Bücher lesen – das wär nix für mich – ich krieg schon Kopfschmerzen, wenn ich die Bildzeitung lese.”

Aber ich will auf was anderes raus. Normalerweise lesen Sie Ihre Zeitung – und werfen diese dann in den Papiermüll. Ich lese ganz anders.
Zum einen: Für mich ist Zeitunglesen Teil meiner täglichen Arbeit. Das ist meine Form des “Lebenslangen Lernens” und der Fortbildung (sollte man auch mit 80 noch ernsthaft betreiben – man weiß ja nie – wie alt man noch wird).
Zum anderen: Ich lese die Süddeutsche von hinten nach vorne und zwar sehr rasch. Ich scanne gewissermaßen erst den Bayern-Teil, dann den Lokalteil, die Beiträge zu den Stadtteilen, dann den München-Teil.
Das heißt: Zuallererst durchfliege ich rasch den Sport – nicht, weil mich Fußball oder dergleichen besonders interessiert (über Judo lese ich gerne was, weil ich selber mal trainiert habe). Aber im Sport-Teil suche ich nach Schlagzeilen, in denen der Begriff “Entschleunigung” vorkommt – ist so eine Marotte von mir. Habe ich tatsächlich schon zweimal entdeckt, obwohl es beim Sport doch eigentlich immer ums Gegenteil geht: möglichst schneller zu rennen, oder höher, weiter zu springen – Rekorde zu brechen – also zu beschleunigen.

Wenn ich so etwas entdecke (kommt eher im Wirtschaftsteil oder im Feuilleton vor oder in der Politik), schneide ich den Artikel erst einmal aus. Richtig gelesen wird das alles in Ruhe später; das sind meistens an die zehn Artikel oder so.

Der dritte Schritt ist schon aufwändiger: Ich füge Clippings, die mich wirklich interessieren, meinem Archiv ein.

Ich habe meinem Vater früher irritiert zugeschaut, wenn er etwas aus der Zeitung “schnippelte” (wie der Rest der Familie das abschätzig nannte). Irgendwann warf er die Schnipsel weg. Und begann anderntags bei einer neuen Zeitung von vorne. Das erschien mir irgendwie so sinnlos. In seinen Kopf konnte ich ja nicht reingucken. Ich hätte als Schülern nicht im Traum gedacht, dass ich das später ähnlich machen würde. Nur hatte ich da schon ein Archiv, in dem ich diese Zeitungsausschnitte nach Themen geordnet in Hängemappen einsortierte, zur allfälligen Verwendung bei einem der Text-Projekte, die ich bearbeitete. Das war gewissermaßen außer meinen eigenen Gedanken und Recherche-Ergebnisse wie Zitaten aus Büchern anderer Autoren, so etwas wie mein Rohmaterial – Bausteine für die papierenen Gebäude, die allmählich Gestalt als Buchmanuskripte annahmen. Wenn es gut ausging. Vieles war natürlich irgendwann veraltet oder sonstwie überholt, wahrscheinlich sogar das meiste. Aber das weiß man ja vorher nicht. Jedenfalls häuft sich da doch aus der Zeitungslektüre allmählich einer richtiger Schatz an Informationen an – weshalb man so ein Hängemappen-Archiv zu Recht als “Thesauros” bezeichnet, was, aus dem Griechischen stammend , wörtlich heißt: “Schatz aus Gold”. Das erste Mal sah ich so einen “Goldschatz” (in Form von an die tausend Hängemappen in einem großen Registerschrank) im Forschungsinstitut des Biokybernetikers Frederik Vester. Tief beeindruckt wusste ich bald: Sowas will ich auch mal haben. Habe ich auch inzwischen. Mit tun nur meine Nachkommen leid, die das alles nach meinem Tod entsorgen müssen. Aber das ist deren Problem – ich schnipple weiter und sammle und archiviere – und verstehe meinen Vater ein wenig besser.)

Wie so eine Clipping-Manie in Extremform aussehen könnte, das habe ich in einer Kurzgeschichte dramatisiert. Sie ist enthalten in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau und hat den Titel: Der Archivar der Zukunft“.