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Aus meiner Schreib-Werkstatt

In meiner Textdatenbank sind derzeit 5412 eigene Texte registriert – der älteste aus dem Jahr 1953, der jüngste vom 23. November 2020. Das hört sich nach mächtig viel an. Aber wenn man wie ich gerne und ständig schreibt und das über 67 Jahre verteilt, relativiert sich diese Zahl. Wobei ich richtig intensiv erst in den späten 50er Jahren zu schreiben begonnen habe und dann vor allem ab den 80er Jahren, als ich mit meiner Frau Ruth die Münchner Schreib-Werkstatt gründete und immer mehr Seminare dieser Art durchzuführen begann, wobei wir immer auch eigene Texte verfassten.

Nimmt man 1960 als Startjahr, dann ergibt das (60 x 365 =) 21.900 Tage. Teilt man die durch 5.412, dann ist das rund alle vier Tage ein Text. Gar nicht mal so viel, nicht wahr? Allerdings habe ich Tausende von Träumen, die ich notiert und genauer angeschaut habe und unzählige Tagebucheintragungen nicht extra gezählt. Das ist so meine tägliche “geistige Morgengymnastik”, die ich vor dem Yoga mache und dem anschließenden Frühstück. Ist mir so wichtig und selbstverständlich wie das Atmen.

Julia Cameron nennt in ihrem Buch Der Weg des Künstlers ihre morgendlichen Schreib-Fingerübungen “Morgenseiten”. Ein passender Begriff. Ich bezeichne meine Produkte jedoch lieber als MorgenNotizen. Diese sind nicht so frei flottierend und unbestimmt, weil ich eigentlich immer ein größeres Schreibprojekt in der Mache habe und es sich dementsprechend meistens um Teile meines “Projektbegleitenden Logbuchs” handelt. Ziel ist fast immer eine Veröffentlichung – und sei es hier im Blog.
Heute war das eine Geschichte aus dem Jahr 1985, die mir beim Aufräumen am Jahresende zufällig in die Finger geriet: “Herzstillstand mit Semele”. Ich las sie, las mich fest, begann zu korrigieren und zu redigieren – und jetzt ist sie fertig und kann hinaus in die Welt – hier im Blog als eine von vielen Erzählungen, die noch kommen werden. Diese ist im Mini-Format, also wirklich eine Kurz-Geschichte, und sie finden Sie hier gleich nebenan: Herzstillstand mit Semele.

Grundsätzlich kann man drei Schreib-Varianten unterscheiden, je nach Zielrichtung von hobbymäßiger Selbsterforschung bis hin zur hochprofessionellen regelmäßigen Produktion:
° Autobiographisches (Tagebücher, Briefe, Blogs),
° Sachliches (vom kleinen Lexikoneintrag und Essay bis zum dicken Fachwälzer)
° und Erzählendes (wozu ich auch Lyrik zähle).

Blogs, wie dieser hier, schweben irgendwie über alledem, weil sie ja vom Tagebuch herkommen (wie der Name schon sagt: WebLog – also Tagebuch im Internet). Sie sind aber meistens sachthemenzentriert (mein Blog befasst sich vor allem mit dem Schreiben und Veröffentlichen), geben jedoch speziell die Erfahrungen und Meinungen des Bloggers wider. Und nachdem hier alle Freiheiten herrschen, ist vielen Bloggern auch Belletristisches nicht fremd.

Ich schätze sie alle drei und nehme sie so, wie sie aus dem Untergrund meiner Innenwelt hochblubbern – ähnlich wie die Quantenfluktuationen aus dem Urgrund des Universums.

Was für ein Wort: “Quantenfluktuationen” – sechs Silben – fast schon wie die Mittelzeile eines Haiku. Die Wissenschaft hat so ihre ganz eigene Poesie – das hat mir auch bei der Science-Fiction immer schon gefallen. Machen wir doch gleich ein Haiku draus:

Ich sitze und schau
Wie Quan ten fluk tua tio nen
In mir hochblubbern

Zugegeben – kein tolles Haiku. Aber es heißt ja in Haiku-Fachkreisen, und damit tröste ich mich gerne: “Von hundert Haiku gelingt eines.”
Manches gelingt gleich das erste – manchmal eines irgendwo in der Mitte von einer ganzen Reihe – und manchmal erst das hundertste. Oder gar keines. Take your choice – James Joyce.

Cameron, Julia: Der Weg des Künstlers. (USA 1992). München 2000 (Knaur TB)

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Herzstillstand mit Semele

In diesem Blog präsentiere ich immer wieder auch Geschichten, die ich irgendwann geschrieben und nie veröffentlicht habe. Meistens sind sie in einer meiner Schreib-Werkstätten entstanden, wo ich alle Aufgaben und Übungen immer mitmache, schon um im “kreativen Fluss” dabei zu sein. Dies ist so eine Geschichte. Sie ist für einen Blog ein wenig lang geraten – aber in meinem Blog darf das ruhig gelegentlich vorkommen.
Manches darin ist autobiographisch – aber dann hat sich meine Phantasie selbständig gemacht. Und so soll es ja sein, auch hier beim HERZSTILLSTAND. –

Thomas Lauffner hielt inne. Die Finger, die eben noch über die Tastatur seines Computers gehuscht waren, verharrten wie eingefroren. Dieser Schmerz in der linken Seite – Seitenstechen? Das Herz? Leise pfeifend entwich die Luft aus seinem Mund, die seine Lungen reflexartig zurückgehalten hatten. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Langsam zog er die Finger von der Tastatur zurück, ließ die Hände an den Seiten herabsinken. Ausatmen – einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen – wie er es im Yogaunterricht gelernt hatte. Das half.

Ein Erinnerungsbild taucht vor den Augen auf, die sich erleichtert geschlossen hatten. Am Vortag hatte er sich mit Freunden im Biergarten am Chinesischen Turm getroffen. Doch kaum hatten sie ihre frisch gefüllten Bierkrüge und die großen Laugenbrezen vor sich auf dem mitgebrachten Tischtuch abgestellt, als es aus den grauen Wolkengebirgen hoch über ihnen doch zu tröpfeln begann. Langsam erst, dann immer heftiger. Die Freunde waren gleich losgestürmt, hatten Bier und Brezen und Tischtuch lachend zurückgelassen, “Tschüs” rufend, um erst Schutz unter dem altersgrauen hölzernen Turm zu suchen, dann auch ohne Schirm rüber zur Bushaltestelle, ohne weiteren Abschied –

Er war sitzen geblieben, irgendwie ermattet vom Tag. Schaute dem Personal zu, das die leeren Krüge einsammelte. Sah die Musiker von der oberen Etage des Turms herabsteigen, die Instrumente fest an sich gepresst. Irgendwann saß er nur noch allein da, schaute und hörte dem Regen zu, fühlte die damit gekommene Kühle in sich hineinkriechen –
Irgendwann war er aufgesprungen und, den Regen missachtend, rüber zur Bushaltestellte gerannt. Dort saß er eine Weile schnatternd vor Kälte, bis er Bus kam.
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt ein? Lauffner drehte die Sanduhr um und zog widerstrebend das Buchungsjournal zu sich. Prüfend ging er die Eintragungen durch.
Semele – seltsames Wort. Plötzlich war es in seinem Kopf.
Thomas Lauffner hielt inne. Seine Rechte blieb mit der Spitze des Kugelschreibers in der Zeile stehen, in der es hieß:
“31. Oktober. Ausgang: 91.14. MWST 7 %. Buch.”

Im Gegensatz zu vielen anderen Buchungen musste er bei dieser nicht lange herumrätseln, was sie bedeutete. Der Gesamtpreis betrug 98.- Mark und der Titel des Buches konnte nur Labyrinthe heißen. Ein teurer Bildband, den Lauffner am Infostand des Seminars erstanden hatte, das der Autor in der Evangelischen Akademie in Tutzing zum gleichen Thema anbot hatte. Im Schlosspark hatten die 120 Teilnehmer mit Steinen die kreisähnliche Anlage eines kretischen Labyrinths angelegt und sich in kleinen Gruppen redend und schreibend und malend und tanzend mit dem faszinierenden Thema beschäftig. Am interessantesten war es gewesen, gemeinsam ein Labyrinth auf der großen Weise der Akademie auszulegen, direkt am Starnberger See. Er erinnerte sich noch an die Kälte des Wassers, als er am Ufer seine Steine auswählte. Ende Oktober war der Starnberger See schon sehr abgekühlt. Sieben Mal war er gelaufen, jedesmal bepackt mit dicken Seekieseln. Sein Gesicht hatte geglüht vor Begeisterung, während sie unter der Anleitung des Autors die Struktur auslegten.
Nicht lange danach der Schock, in der Zeitung beim Frühstück den Nachruf zu lesen: Überraschend für alle sei Hermann Kern, erst 42 Jahre alt, verstorben…

Semele – wieder dieses Wort! Was bedeutete es? Aber er hatte jetzt keine Zeit, Geheimnissen nachzuspüren. Er musste die Buchführung nochmals genauestens überprüfen. Dann die Unterlagen zum Computer-Service, der eine bildsaubere Aufstellung seiner Einnahmen und Ausgaben liefern würde. Er notierte für die Frau, die ihm die Buchführung machte, dass sie in Zukunft die Titel der Bücher notieren solle.
Er hatte keine Lust, sich wieder stundenlang mit einem Steuerprüfer auseinanderzusetzen, der bezweifelte, dass er wirklich jedes Jahr für zwei- bis dreitausend Mark Bücher kaufen müsse.
“Kann man die denn nicht in der Bibliothek ausleihen?”
“Warten Sie mal in der Stadtbibliothek auf ein Buch!” hätte er am liebsten losgebrüllt. Aber er war freundlich geblieben, hatte nur ironisch gesagt, dass er diese Bücher ja in vielen Fällen mehr als einmal benütze und als Journalist und Buchautor gerne seine Berufskollegen unterstütze – von denen erwarte er ähnliche Freundschaftsbezeugungen.

Ausgaben 124,80 DM. 14 % MWST. Tutzing.” Das war die Abrechnung der Tagesspesen für diese Tagung. Wie oft hatte er Frau Lemmer schon gesagt, dass der Vermerk “F” für Fortbildung wichtig war, sobald es um Spesen ging!
Ein Marienkäfer landete sanft auf seinem Handrücken und der Stift verharrte erneut. Ausgaben 9.00 DM. 14 % MWST. Fahrtkosten Tutzing.” Das war die Hin- und Rückfahrt mit der S-Bahn gewesen.

“Thomas -” Das war die Stimme seiner Frau. Er schaute stirnrunzelnd vom Journal auf. “Kannst du mal eben nach Joschi schauen?” sagte sie, “ich muss beim Kaufmann um die Ecke noch den Spargel und den Schinken holen – Hast du heute Morgen übrigens die Mayonnaise mitgebracht?”
“Liegt bereits im Eisschrank.” (Seltsam, dass er noch immer “Eisschrank” statt Kühlschrank sagte, ein Relikt aus der Kindheit.)
Joschi drängte sich neben Stefanie ins Arbeitszimmer. “Leg mir die Schlümpfe auf, Papa”, rief er.
Lauffner spürte, wie Ärger in ihm hochkroch. “Du weißt genau, dass ich bis heute Abend diesen Mist für die Steuer durchgesehen haben muss, weil der morgen früh im Computer-Zentrum sein muss -” Das wollte er sagen. Aber behielt es für sich. “Fünf Minuten, Thomas, sei kein Frosch, leg ihm die Platte auf und du hast deine Ruhe.”
“Ruhe? D die Platte läuft gerade mal drei Minuten, dann muss ich sie umdrehen und drei Minuten später wieder -“
“Dann leg ihm die Zauberflöte drauf. Die mag er auch gern. Und die dauert mehr als eine halbe Stunde.”
Sie wandte sich direkt an den Dreijährigen: “Du magst doch die Zauberflöte auch?”
Schlümpfe“, kam es bestimmt zurück.
“Also, leg ihm die Schlümpfe auf. Und dann die Zauberflöte. Dann hast du wirklich deine Ruhe. Und dann bin ich sowieso wieder zurück.”
Lauffner schüttelte den Marienkäfer von der Hand. Er ging zum Plattenspieler und legte die Kinderplatte auf.
“Tanz mit mir”, sagte Joschi.
“Mag nicht, muss meine Hausaufgaben noch machen.”
“Hausaufgaben? Warum?”
“Das verstehst du nicht: Steuern, Buchführung. Finanzamt.”
“Warum?”
“Warum Finanzamt? Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Aber ein Wirtschaftsjournalist sollte sowas besser nicht laut fragen.”
“Warum, Papa?”
“Nerv mich nicht, Joschi!”
“Ist Finanzamt lustig?”
“Oh ja, sehr lustig. Komm, tanzen wir.” Er fasste den Kleinen, und als sie sich zu der launigen Musik durchs Zimmer drehten, um den Großvatersessel, um das Holztischchen, um die anderen Sessel, da war ihm auf einmal ganz wohl. Tanzen. Das war´s. Wir sollten wieder einmal tanzen gehen – “das Tanzbein schwingen”, so lockte sie ihn immer wieder. Aber irgendwie war ihm die Lust dazu vergangen. Das lag vielleicht daran, dass sein rechtes Knie nach dem letzten Schwof tagelang rumort hatte.

Die Platte war zu Ende. Er setzte den Dreijährigen ab und drehte die Schlümpfe um.
“Werf mich hoch, Papa, ganz hoch.” Das war ein Spiel, das sie beide gerne spielten. Und viel zu wenig, wie Thomas wieder einmal bewusst wurde. Sie hatten das vor einem Jahr entdeckt, im Urlaub auf der Insel Giglio, auf dem Sand der kleinen Badebucht. Den Kinderkörper fassen, sich in die Augen schauen, Luft anhalten – und ihn hochwerfen, so hoch es ging. Gute drei Meter. Bei den ersten Malen war er natürlich zurückhaltender gewesen, hatte Joschi kaum über seinen eigenen Kopf geworfen. Aber dann war mit dem Spaß am Spiel der Mut gewachsen und das gegenseitige Vertrauen.
“Höher, Papa” hatte Joschi gerufen, “noch höher. Und noch mal.”
Er warf ihn hoch. Es gab ein kleines, ganz sanftes Geräusch. Das war alles. Merkwürdig war nur, dass Joschi oben an der Decke blieb, die er mit Kopf und Körper eben berührt hatte, als er so hoch wie nie zuvor in der Altbauwohnung geflogen war. Kurz vor der Berührung hatte Joschi noch seinen wilden Freudenschrei ausgestoßen, wie er es in der letzten Zeit gerne machte, und dabei mit seinen Armen und Beinen gewackelt, als wollte er wegfliegen. Dann Stille.
Thomas Lauffner bemerkte, dass sein Kinn kraftlos herunterhing und sein Mund weit klaffte vor Staunen. Das war, als das Staunen noch alle anderen Empfindungen überlagerte. Dann kroch allmählich etwas anderes in ihm hoch. “Joschi”, sagte er heiser. “Joschi, komm bitte wieder runter.”
Aber der Kleine blieb oben. “Papa, du bist so weit weg”, sagte Joschi schüchtern.
“Komm bitte runter, Joschi.” Thomas stand mit wartend ausgebreiteten Armen und Händen, um den Körper aufzufangen, sobald er zurückfallen würde. Aber er fiel nicht. Und dann war da wieder dieses eigenartige Wort in seinem Kopf, das ihn schon beim Arbeiten gestört hatte. Semele. Den ganzen Morgen. Er sollte im Lexikon nachschauen, wer oder was das war, damit wieder Ruhe eintrat. Was konnte Semele schon sein?
Aber es war unmöglich, jetzt zum Bücherschrank zu gehen. Was auch immer veranlasste, dass Joschi, entgegen der Schwerkraft, oben an der Decke hängen blieb – diese Kraft konnte jeden Moment wieder nachlassen. Und dann müsste er auf seinem Posten sein, um Joschi aufzufangen. Er hatte ihn schließlich dorthin befördert.
Warum kam Stefanie nicht zurück? Sie war doch schon viel länger weg als fünf Minuten. Es war anstrengend, abwartend so zu stehen und mit gesammelter Aufmerksamkeit immer nur nach oben zu schauen.

Er hatte schon vor einer halben Stunde mal aufs Klo gehen wollen. Warum hatte er es bloß nicht getan? Jetzt wurde der Druck in seiner Blase immer drängender, je mehr die Zeit verging.
Wie spät war es denn eigentlich? Sein suchender Blick fand keine Uhr an seinem Handgelenk. Durch die Tür zum Arbeitszimmer, die halb offenstand, konnte er die Sanduhr auf seinem Schreibtisch sehen.
Sie lief, wenn sie umgedreht wurde, exakt 55 Minuten. Er benützte sie gerne bei Arbeiten, die er verabscheute. War der Sand durchgelaufen, gönnte er sich guten Gewissens eine kleine Pause. Begann ihn die Arbeit wider Erwarten doch noch zu fesseln, übersah er die Sanduhr, und das war recht so.
Jetzt pendelte sein Blick dauernd zwischen Joschi oben an der Zimmerdecke mit den Stuckverzierungen und dem gläsernen Doppelkörper auf dem Schreibtisch, dessen Sand anzeigte, dass ungefähr eine halbe Stunde vergangen war. Seit wann? Er hatte die Uhr umgedreht, als Stefanie und Joschi gerade ins Zimmer kamen. Dann das Tanzen, vielleicht fünf Minuten Hochwerfen.
“Papa”. Die Stimme war noch immer ganz vergnügt. Es sah aus der Distanz von etwa fünf Metern so aus, als sei die Standuhr stehengeblieben. Aber so genau konnte er das nicht erkennen. Die Anstrengung des genau Hinsehens machte ihm wieder die starken Spannungen in seinen Augen bewusst. Er suchte, natürlich nur mit Blicken, nach der Brille, die er abgelegt hatte, ehe er Joschi zum Tanzen hochhob. Lag sie dort auf dem Spanischen Schränkchen?
Die großen Buben hatten das Schränkchen bei einer Rauferei umgeworfen und sämtliche Gläser zerschlagen, die darin aufbewahrt wurden. Der materielle Schaden, etwa 600.- Mark, wäre noch zu verschmerzen gewesen (ein paar Urlaubstage weniger, mehr kaum). Aber die Erbstücke aus der Vitrine des Urgroßvaters, die über die Mutter auf ihn gekommen waren –

“Papa, ich will wieder runter!”
Verwirrt wurde Lauffner sich bewusst, dass seine Gedanken abgedriftet waren und er – für wie lange? – völlig vergessen hatte, dass Joschi oben an der Zimmerdecke schwebte. Wie war sein Gesichtsausdruck? Ohne Brille konnte er es nicht genau erkennen. An der Stimme war nichts Ungewöhnliches festzustellen.
“Komm doch einfach wieder, lass dich fallen -“
Thomas versuchte seiner Stimme einen scherzenden Unterton zu geben, versuchte unbekümmert zu erscheinen. Aber es gelang ihm nicht recht.
“Eigentlich dürftest du gar nicht dort oben sein, von Rechts wegen – ich meine wegen dem Gesetz der Schwerkraft. Du wiegst doch bestimmt mehr als zwanzig Kilo – wie schwer bist du eigentlich, Joschi?”
“Was?”
“Die Mama hat dich doch neulich gewogen. Was hat sie gesagt, wie schwer du bist?”
“Weiß ich doch nicht. Ich will runter, Papa.”
Was würden andere Kinder darum geben, mal oben an der Zimmerdecke zu schweben! Aber vielleicht dauerte der ungewöhnliche Zustand schon zu lange? Wie lange eigentlich? Wenn er bloß die Uhr sehen könnte. Irgendeine Uhr. Wo nur Stefanie blieb. Fünf Minuten hatte sie gesagt! Mindestens eine halbe Stunde musste sie jetzt schon aus dem Haus sein, mindestens –
“Papa, hol mich wieder runter!” Das klang schon reichlich kläglich.
“Ich weiß nicht, wie ich das machen soll, Joschi. Vielleicht kann ich die Sessel aufeinander stapeln, das sollte doch reichen.”
Er versuchte, den nächsten der beigen Polstersessel zu fassen. Obwohl er nur mit Schaumstoff gefüllt war, ließ er sich nicht vom Platz rücken; er haftete wie festgeschraubt am Teppichboden.
War das Kohäsion? Er hatte doch in der Schule mal was gelernt, weshalb manche Körper fest aneinander klebten, wenn ihre Oberflächen entsprechend beschaffen waren – “Papa! Die Mama soll kommen und mich runterholen.”
“Gleich kommt sie zurück. Sie ist nur rasch zum Einkaufen gegangen.” Das hatte sie jedenfalls gesagt. Aber warum kommt sie nicht?
“Ich gehe nur ein paar Schritte weg, um die Sessel näher zu holen, Joschi. Dann stelle ich sie aufeinander und hole dich runter.” Er schaute sich suchend im Zimmer um, welches der Möbel am nächsten und geeignetsten war.
“Nicht weggehen, Papa!”
“Keine Angst, ich gehe nicht weg, nur zwei Schritte -“
“Nicht weggehen!” Das Kind zeigte jetzt erste Zeichen von Panik.

Ich muss mit ihm reden, ihm eine Geschichte erzählen, dachte Thomas. Aber was für eine Geschichte! Mir fällt doch jetzt keine Geschichte ein, die ich locker erzählen kann, ich müsste die Klappleiter holen, draußen in der Besenkammer, gleich beim Staubsauger. Wieviele Schritte sind es bis dorthin? Zur Tür des Wohnzimmers vielleicht fünf Meter. Als wir die riesige Altbauwohnung bekamen, haben wir uns über ihre Dimensionen nur gefreut. Aber was macht man in einer solchen Situation, wenn schon der Weg über den Flur gute zehn Meter lang ist.
Wieviele Sekunden dauert das, dort zur Tür zu rennen, sie aufreißen, über den Flur rennen, die Kammertür aufreißen, die Leiter packen, zurück über den Flur, was mit der Leiter natürlich nicht so schnell geht – das dauert ja nicht Sekunden, sondern Minuten – in einem Neubau gäbe es das Problem nicht – aber da hätten wir auch keine Leiter nötig und die Zimmerdecke wäre nicht drei Meter vierzig hoch, sondern allenfalls zwei Meter zwanzig, oder so.

“Papa – hol’ mich runter -“
“Jetzt wein’ nicht.” Warum eigentlich nicht? Vielleicht hilft’s ihm, wenn er weint. Ist doch kein Indianerjunge, der tapfer sein und Tränen zurückhalten muss. Wie wäre das denn, wenn ich drei Jahre und fünf Monate alt wäre und dort oben an der Decke schwebte? Verdammt, der Nacken begann zu schmerzen. Aber sobald er den Kopf senkte und die Augen abwandte, begann Joschi angstvoll zu rufen. “Jetzt weiß ich eine Geschichte”, sagte Lauffner.
“Eine Geschichte?” Joschi klang für den Augenblick etwas hoffnungsvoller.
“Ja. Ich erzähle dir die Geschichte von Semele.” Wer, um Himmels Willen, war Semele? Aber für eine erdachte Geschichte war das doch gleich. Er würde diese Gestalt und was sie tat einfach erfinden, so wie er am Abend zuvor die Geschichte vom Feuerdrachen und den beiden Wasserdrachen erfunden hatte, die Joschi so gut gefiel.
“Erinnerst du dich noch an die Wasserdrachen von gestern, Joschi?”
“Ja, Papa. Die Lausbuben-Drachen.”

 SemeleSelene – die beiden Mädchen, die sich auf dem Spielplatz küssten, wobei unklar blieb, ob das eine nicht doch ein Junge war –
Sein Nacken schmerzte unerträglich; lange würde er das nicht mehr aushalten. Die Tür ging auf, Stefanie kam herein, unter beiden Armen braune Einkaufstüten.
“So, da bin ich wieder, ihr beiden – habt ihr schön gespielt?”
In diesem Augenblick zog jemand einen großen schwarzen Vorhang zu. Eine feurige Zunge leckte von seinem Nacken und von dort weiter in sein Herz. Er hörte noch seinen Namen rufen –

                            *

Als er die Augen wieder aufschlug, war alles um ihn her weiß. Nur das Gesicht des Menschen, der sich gerade zu ihm beugte, war zart rosa, nein hellbraun, darunter ein kräftiger orangefarbener Fleck, eine Bluse, wie er erkannte, die oberen Knöpfe offen, so dass er die Ansätze der Brüste deutlich erkennen konnte, auch sie leicht gebräunt. Eine andere Farbe schob sich in sein Gesichtsfeld, ein helles Lila, verbunden mit einem Geruch, der ihm vertraut war.
“Flieder”, sagte er. Dann erkannte er das Gesicht hinter den Blütendolden und den ovalen, spitz zulaufenden Blättern. Das Gesicht schwebte jetzt, wie losgelöst, über dem Fliederbuschen.
“Stefanie”, sagte er. Ihm wurde bewusst, wie müde er war. “Was ist das für ein Zimmer? Wo bin ich hier?”
“In der Klinik.”
“Was ist passiert?”
“Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mit Joschi gespielt. Als ich vom Einkaufen zurückkam, fingst du ihn gerade wieder auf. Du hattest ihn hochgeworfen, erinnerst du dich nicht mehr?”
“Ja, das stimmt. Ich habe ihn hochgeworfen. Aber es dauerte so lange. Und dann dieser schwarze Vorhang. Die Lichter. Da waren auch Lichter. Und ein Name -“
Semele? War es das? Du bist mit Joschi umgestürzt, lagst wie ohnmächtig da. Semele, hast du gesagt, ganz laut und deutlich, obwohl das gar nicht möglich ist. Die Ärzte sagen, es wäre ein Herzinfarkt – und nicht der erste. Da gibt es bereits Narben an deinem Herzen – Aber ich sollte nicht so viel reden.”
“Doch, erzähl weiter. Wie lange warst du weg?”
“Meinst du jetzt eben?”
“Nein, bevor du mich gefunden hast -“
“Vielleicht zehn Minuten, war nur rasch um die Ecke beim Einkaufen -“
“Nicht länger?” Er sah Joschi oben an der Decke schweben, während Minute um Minute verging, quälend langsam –
“Habe ich das alles geträumt?”
“Was?”
Er zögerte. “Da war etwas Eigenartiges, vielleicht kann ich es dir später erzählen. Und Joschi – wie geht es ihm?”
“Was soll mit ihm sein? Er fragt ständig nach dir. Du sollst ihn hochwerfen, danach verlangt er immer wieder.”
“Und er hat keine Angst?”
“Wovor sollte er Angst haben, Thomas?”
“Vor dem Hochwerfen!”
“Ich denke nicht. Vielleicht fragst du ihn morgen selber, ich bringe ihn mit. “Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Blatt Papier heraus.
“Hier, falls es dich interessiert. Ich hab mal nachgeschaut, was das heißt – Semele – das Wort.”
“Ach ja, Semele. Das Wort ist mir an dem Tag immer wieder durch den Kopf gegangen -“
“Erst dachte ich, du meinst Semmeln -“
“Semmeln?”
“Wäre möglich gewesen. Du hattest nämlich vergessen, die Semmeln für’s Frühstück am Sonntag mitzubringen, die wir aufbacken wollten, erinnerst du dich? Du bist zur Post gegangen, zum Schließfach, und wolltest auf dem Rückweg beim Bäcker vorbeigehen -“
Er schaute sie verständnislos an. “Ich muss es wohl vergessen haben. Aber auf dem Zettel, was steht da?”
“Ich habe im Lexikon nachgeschaut, was Semele heißt -“
“Ist das nicht eine Mondgöttin in der griechischen Mythologie gewesen?” unterbrach er sie, “als Jugendlicher haben mich diese Geschichten sehr fasziniert.”
“Nein, nicht die Mondgöttin, die heißt Selene. Semele ist eine der Frauen, die Zeus in einer seiner vielen Verwandlungen geschwängert hat -“
“Geschwängert?”
“Semele hat er als goldenen Funkenregen betört -“
“Eine etwas eigenartige Form, eine Frau zu beglücken, findest du nicht auch?”
“Ach, ganz wie man’s nimmt – eigentlich beschreibt es den Vorgang doch ganz gut, findest du nicht?”
Sie schauten sich eine Weile nur stumm an. Aber in ihren Blicken ging viel Gefühl hin und her, während jeder für sich seinen Gedanken und Erinnerungen nachhing. “Wir haben lange nicht mehr miteinander geschlafen”, sagte er endlich, und er spürte ein eigenartiges Würgen im Hals, kein schlechtes Gefühl, wie er merkte. Stefanie wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht.
“Das war knapp, Thomas. Haarscharf am Tod vorbei – Herzstillstand.”
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Brust. “Es schlägt wieder, spürst du’s? Ganz ruhig und regelmäßig.” Sie ließ die Hand eine Weile dort ruhen, wo er sie hingelegt hatte. Dann fasste sie mit beiden Händen sein Gesicht und streichelte es, ganz langsam. “Werde bald gesund, “Semele wartet.”
Ein Lächeln war plötzlich auf seinem Gesicht. Er merkte, dass es sich von tief innen herstahl. “Die Glut ist noch da, aus der Funken sprühen”, sagte er. Dann zog er ihr Gesicht zu sich und sie küssten sich.

ENDE

© Jürgen vom Scheidt – geschrieben 15. Mai 1985

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Homo futurus

Auch so einer der “roten Fäden” meines Lebens. Der “Mensch der Zukunft” hat mich erst als Gestalt der Science-Fiction interessiert. Dann war da das Schlüsselerlebnis einer Ausstellung mit Plastiken am Münchner Marienplatz, in den Räumen des Stuttgarter Bücherbundes, bei dem ich Ende der 50er Jahre Mitglied war. Eine der Plastiken von Ludwig Weber-Foma sprang mir sofort ins Auge: ein hoch aufgeschossener Mann, dem ich sofort des Etikett “Homo futurus” gab (der Künstler selbst nannte sie schlicht “Junger Mann”). Erst einige Jahre später, während des Psychologiestudiums, begriff ich, dass ich mich da gewissermaßen “selbst” anschaute – war ich doch mit meinen 1,84 Metern so ein schlaksiger “junger Mann”.

Ludwig Weber-Foma: “Junger Mann” (1960).

Woher ich das alles noch so genau weiß? Ich arbeitete damals an einem Club-Magazin namens C.C.Rider mit, das wir (vor allem mein Freund Wolfie Baum und ich) für einen Party-Club schrieben, den wir Cool Circle nannten. Da war fast jedes Wochenende in Gauting und Umgebung eine Party, oder in Starnberg oder München – und wenn man diese hektographierte Monatsschrift las und Mitglied im Cool Circle war, wusste man Bescheid, wo die Cats und die Chicks sich das nächste Mal trafen, um bei wilden Boogie-Rhythmen das Tanzbein zu schwingen oder bei schmachtenden schwarzen Balladen eng umschlungen zu knutschen.
Es gab aber nicht nur Party-Tratsch im C.C.Rider, sondern auch Film-Kritiken (wir regten uns damals schon über Rassismus in den USA auf, wobei der Film Flucht in Ketten aktueller Anlass war). Es gab Besprechungen neuer Schallplatten (Jazz und Rhythm´n´Blues). Wir diskutierten über die Wiederbewaffnung und über Kriegsdienstverweigerung, trafen uns mit Kids von der amerikanischen High School am Perlacher Forst beim Fußball im 60er Stadion und im amerikanischen Soldatenkino, besuchten den Soldaten-Sender des AFN in der Kaulbachstraße (wo man als Schüler problemlos reinspazieren und mit dem Plattenleger alias Disk Jockey Mal Sondock während seiner höchst angesagten Sendung “Bouncing in Bavaria” quatschen konnte*. Und besuchten eben auch solche Ausstellungen wie die von Weber-Foma.
* So bin ich wohl später zu meier Arbeit für den Bayrischen Rundfunk animiert worden – was mir eben erst beim Tippen dieser Zeilen bewusst wird.

Über diese Vernissage habe ich im C.C.Rider damals geschrieben:
“Lang und schlank ist dieser junge Mann . Die Verkörperung einer Zeit, die sich anschickt, über ihren eigenen Schatten zu springen; die sich zu den Sternen emporstreckt und die in einer immer tiefgreifenderen technischen Verirrung den Boden unter den Füßen zu verlieren droht.
Aber der junge Mann trägt den Kopf gerade und erhoben, Stolz, beinahe schon Arroganz drückt diese Haltung aus. Und das Wissen (oder vielleicht besser das Hoffen?) um den Fortbestand, um ein weiteres, unaufhörliches Vorwärtsstürmen der menschlichen Rasse.”

Den Begriff “Rasse” würde ich heute nicht mehr verwenden, der hat ausgedient. Aber ansonsten – Hätte es die Bewegung Fridays for Future (die von ähnlichen Hoffnungen und Befürchtungen bewegt wird) damals schon gegeben – wir wären dabei gewesen. Aber getanzt wie “der Lump am Stecken” haben wir eben auch. Und uns gleichzeitig davor gefürchtet, dass die selben Raketen, mit denen unsere Science-Fiction-Phantasien zum Mond und zum Mars flogen – eben auch Atombomben überall hintragen und uns den “nuklearen Winter” bescheren könnten.
Das war eine Weile weg, nachdem Gorbatschow und Reagan den West-Ost-Konflikt und das Wettrüsten entschärft hatte. Aber in Zeiten von Putin und Trump ist das alles inzwischen leider wieder Thema und bedrohlicher denn je. Wenn man die Corona-Pandemie mal außer Acht lässt.
Noch etwas habe ich übrigens im C.C.Rider jener Tage begonnen und abgedruckt: Meinen zweiten Roman Sternvogel. Was für eine tolle Zeit, um schreiben zu lernen (und nicht nur für die Schüler-Zeitung Giselaner oder das SF-Fanzine Munich Round Up, wo ich ebenfalls schrieb – irgendwo muss man das ja lernen. Und die Schule – naja. Da ging man eben auch hin, saß seine Zeit ab und sehnte sich nach so etwas Modernem wie Videokonferenzen und zeitgemäßem Unterricht –

War da nicht was?
Stimmt genau: Im Roman Männer gegen Raum und Zeit deutete ich 1957 gegen Schluss eine kleine Liebesszene an, ganz brav “digital” (wie man heute sagen würde):

Rani rief Sardos an, dass sie erst am nächsten Tag kommen würden.
„Das glaub’ ich“, lachte der Tolimane auf dem kleinen Bildschirm. „Wegen meines Gleiters macht euch keine Sorgen. Ich nehme in der Zwischenzeit den von Sika. Übriges – Sika lässt Kido herzliche Grüße ausrichten!“
Ehe Kido noch einen Dank stottern konnte, war der Schirm des Visiphons erloschen.


Gut, den Begriff Visiphon habe ich damals noch nicht verwendet – aber gemeint habe ich ihn und damit nichts anderes als eine Bildschirmkonferenz. Klingelt da was?
Homo futurus lässt grüßen – aus der Vergangenheit vor sechs Jahrzehnten. Seit Ostern dieses Jahres 2020 waren Schreib-Seminare dank Corona fast nur noch als Bildschirm-Konferenzen möglich. Was für ein Glück, dass wir technisch mit Internet, Computern und Smartphones schon einigermaßen dafür ausgerüstet waren!

Alfred Hertrich 1999 : Homo furturus (Logo für die Website homo-futurus.com)

“Homo futurus” nannte ich im Oktober /November 1980 meine sechsteilige Feature-Reihe im Bayrischen Rundfunk, mit der These: Der Mensch der Zukunft lebt heute schon. Aber er muss noch manche Krise meistern, für welche die heute schon absehbaren Risiken der Großtechnik (Atomenergie, Computer, Genmanipulation) paradigmatisch sind.
(Daraus wurde Ende 1987 das Taschenbuch Im Zeichen einer neuen Zeit.)
“Auf dem Weg zum Homo futurus” nannte ich fünf Jahre später (Oktober 1990) meinen Beitrag in einer Serie der Zeitschrift Psychologie heute über das ominöse Datum “Freitag, der 13. Oktober 2025 und das Jahr 2050.
Nochmals zwei Jahre später war ich dann richtig in der Zukunft angelangt – mit meiner ersten eigenen Website, die ich nannte: homo-futurus.com. Am 27. März 1998 ging die Site online.

PS: Herzlichen Dank an Wolfie Baum, der mir die komplette Ausgabe des C.C.Rider zum 75. Geburtstag kopiert und geschenkt hat.

Bibliographie
Baum, Wolfgang & Jürgen vom Scheidt und andere: C.C.Rider. Club-Zeitschrift des Cool Circle. Gauting 1958 (Selbstverlag).
Scheidt, Jürgen vom: Im Zeichen einer neuen Zeit. Freiburg i.Br. 1987 (Herder-Bücherei).


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“Darf ich Ihnen Herrn Blatter vorstellen?”

Vor allem durch meine Arbeit für den Bayrischen Rundfunk bin ich vielen sehr prominenten Menschen begegnet, die ich interviewen durfte, darunter 1990 die Präsidentin von Island, Vigdis Finnbogadottir.
Auch in meiner Zeit als Drogenberater (1970 bis 1976) bin ich einigen sehr prominenten Personen “hautnah” in Beratungsgesprächen gegenüber gesessen, die allerdings bis auf eine Ausnahme wegen ihrer kiffenden Kinder zu mir kamen und Rat suchten. Aber da dies unter das “Berufsgeheimnis” fällt, werde ich schweigen bis ans Grab – obwohl es mich in den Fingern juckt, damit anzugeben.

Ein Prominenter, dem ich die Hand schütteln durfte, ist mir schon oft auf den Sport-Seiten der SZ begegnet: Der frühere Fifa-Skandalpräsident. Leibhaftig gegenübergestanden bin ich ihm folgendermaßen:
Ich bin viele Jahre im Urlaub und bald auch während meiner Seminare “Wandern und Schreiben” im schweizerischen Oberwalis gewesen, der Heimat der väterlichen Vorfahren “Zenhäusern” meiner Frau Ruth. Dabei hab ich mich alle paar Tage auch im Thermalbad Brigerbad in der heißen Grotte und in den Schwimmbecken gesuhlt und sehr genossen, wie die körperlichen Strapazen einer Wandrung auf den Höhenwegen ringsum sich allmählich lösten. Einmal sah ich den Gründer und Besitzer, Hans Kalbermatten, im Gespräch mit jemand anderem am Rand eines Beckens sehen. Voller Begeisterung über diese Anlage trat ich auf ihn zu und machte ihm ein großes Kompliment über das Thermalbad. Er freute sich natürlich und deutete dann auf den Gast neben sich: “Darf ich Ihnen den Herrn Blatter vorstellen?”
Es war deutlich, dass die beiden Herren sich gut kannten. Aber wer war “Herr Blatter?” Kalbermatten registrierte natürlich meine Unkenntnis und erläuterte: “Das ist der Präsident der Fifa.”
Da fiel bei mir der Groschen und ich nickte und sagte: “Natürlich ist mir der Herr Blatter ein Begriff aus den Medien.” Obwohl ich mit Fußball seit meiner Jugend nichts mehr am Hut habe und Judo oder Boxen zwischen zwei Kämpfern mich mehr elektrisiert als die Rasentreterei von 22 Fußballern, wusste ich aus Lektüre der einheimischen Tageszeitung, des Walliser Boten bereits, dass Blatter aus Visp stammte, dem Bahnknotenpunkt im Oberwallis, und dass er der Fifa-Boss war. In welche riesigen Skandale er verwickelt war, das wurde bald darauf publik. Jedesmal, wenn ich seinen Namen in der Zeitung lese (und seine Skandale rumoren dort immer noch gewaltig herum) fällt mir sofort die Szene im Brigerbad ein. Jüngstes Beispiel:
“Neuer Ärger für Sepp Blatter. Streitwert 500 Millionen Franken. Fifa zeigt früheren Präsidenten an.”

So kann Prominenz also auch aussehen und andauern. Aber weit mehr vermisse ich das Brigerbad und das ganze Oberwallis, meine dritte Heimat nach Rehau und München. Von dieser Hochgebirgslandschaft zeigt das Titelbild meines Blog einen schönen Ausschnitt, mein Liebligsfoto aus dieser Zeit: Die alte Suon zwischen Bürchen und der Brandalp, Luftlinie, keine zehn Kilometer vom Brigerbad entfernt und ebenfalls vom hier so wichtigen Element des Wassers bestimmt. Und deshalb hier nochmals in voller Größe verewigt:

Alte Suon zwischen CH-Bürchen und der Brandalp – gesehen in Richtung Westen, linkerhand des Rhonetals. (Foto: J v Sch 2005).

Quelle
SID, DPA: Neuer Ärger für Sepp Blatter. Südd. Zeitung vom 23. Dez 2020, S. 24.

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Atlantis allüberall

Das erste Mal bin ich diesem Mythos 1948 oder 1949 begegnet, als ich mit großen Augen und vor Abenteuerlust glühenden Wangen die Heftserie Sun Koh – der Erbe von Atlantis las. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ish Jahrzehnte später für einen Bayrischen Rundfunk ein “Feature mit Musik” zu diesem sagenhaftn “versunkenene Kontinent” schreiben würde – der mit großer Wahrscheinlichkeit niemals existiert hat, sondern der blühenden Phantasie des griechischen Philosophen Platon entsprungen ist.

Abschließender Sammelband zur Heftserie Sun Koh (Replik des Originalcovers von 1935)

Doch halt, ich muss mich korrigieren: Ich habe schon lange vorher mal Atlantis und seinen schrecklichen Untergang “besungen”, und zwar in dem SF-Roman Männer gegegn Raum und Zeit, den ich 1957 schrieb und im Jahr darauf veröffentlichte – mein erstes Buch. Dort ist eine Schlüsselszene das Untergangs-Szenario, das viele Jahre zuvor mein Freund Alfred Hertrich als neues Cover für ein Sachbuch aus dem Jahr 1940 (deutsch 1946): Atlantis von Alexander Braghine.

Alfred Hertrich – nach einem Gemälde von Willy Bischoff in seinem Buch Wir und das Weltall

Und was lese ich heute in der Süddeutschen Zeitung vom Tage?
Es soll ein neuer, heller Stern am Himmel der Automobilhersteller sein. Kein Wunder, dass die neue Holding Stellantis heißen soll, abgeleitet vom lateinischen Wort „Stella“ für Stern. Der französische Konzern Peugeot, zu dem inzwischen auch Opel gehört, und Fiat-Chrysler haben schon im Herbst 2019 den Plan zur Mega-Milliardenfusion verkündet. Jetzt hat die EU-Kommission zugestimmt, eine der wichtigsten Hürden ist damit genommen. Ende März kommenden Jahres soll dann der viertgrößte Autohersteller der Welt entstehen, nur Volkswagen; Toyota und Renault-Nissan sind dann noch größer.

Was nicht in der Zeitung genannt wird: Der zweite Teil des neuen Konzernnamens Stellantis dürfte klar von Atlantis abgeleitet sein. Der uralte Mythos, den Platon Mitte des 4. Jahrhunderts v.d.ZW. phantasierte ist offenbar superaktuell. Dieser Aktualität und einer möglichen psychologischen Be-Deutung des Mythos bin ich in meiner Funk-Sendung nicht nur im Text, sondern mit vielen Musik-Zitaten nachgegangen.

Auch → Atlantis und die Labyrinthiade

Quellen
Bischoff, Willy: Wir und das Weltall. Berlin 1952 (Novitas).
Braghine, Alexander: Atlantis. (1940) Stuttgart 1946 (Union Deutsche Verlagsanstalt).
Myler, Lok (alias Freder van Holk – d.i. Alfred Müller-Murnau): Sun Koh, der Erbe von Atlantis. Leipzig 1933-1935 (diverse Nachdrucke ab 1949 als Heftserie, Taschenbuchserie und in Paperback-Sammelbänden).
Scheidt, Jürgen vom: Männer gegen Raum und Zeit (Leihbuchausgabe). Wuppertal-Barmen 1958 (Wieba), Kap. 7.
ders.: “Trauminsel – Inseltraum: Atlantis und das Goldene Zeitalter der Menschheit”. Bayr. Rundfunk (17.Juli 1991: Sondersendung für NACHTSTUDIO – 85 Minuten).

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Perry Rhodan und das Corona-Monster

Okay, die Ähnlichkeit zwischen dem Alien-Monster auf diesem Titelbild (s. unten) ist nicht super – aber doch verblüffend. Ich habe das Cover aus der SF-Serie Perry Rhodan 1973 schon einmal verwendet – als eine der Illustrationen meines Sachbuchs Innenwelt-Verschmutzung. Dort diente mir das Bild zur Veranschaulichung von Aggression in den Medien. Als in diesem Jahr überall die Darstellungen des Virus Covid-19 auftauchten, musste ich immer wieder mal an jenes gruslige Alien-Monster der Perry-Rhodan-Serie denken.

Titelbild der SF-Serie Perry Rhodan – etwa 1973 gezeichnet von Johnny Bruck. (Alle Rechte bei Pabel-Verlag und Perry Rhodan)

Wenn ich mal die Männer auf dem Cover als Maß nehme, dann ist das Kugelmonster aus dem fernen Weltenraum gut drei Meter im Durchmesser, plus die Tentakeln. Wie winzig ist dagegen das Corona-Monster aus dem vergleichsweise nahen China: ganze 0,12 Mikrometer – also ein Zehnmillionstel Meter. Doch “Alien Corona” ist mindestens so gefährlich wie der – die – das Weltraum-Alien! Alles eine Sache der Perspektive.

Es gibt da übrigens, was Viren angeht, noch einen hübschen Zufall aus meiner Lebensgeschichte: Mein Lektor beim Droemer-Verlag, der 1973 mein Buch Innenwelt-Verschmutzung betreute, war Fritz Bolle, ein Berliner Urgestein, das es nach München verschlagen hatte. Wie ich Anfang dieses Jahres 2020, als das Viren-Thema mit Corona aktuell wurde, entdeckte, war Bolle viele Jahre davor der Autor eines kleinen Büchleins mit dem schönen Titel Lebende Kristalle – das ich als Zwölfjähriger gelesen habe – und mir via Amazon gleich wieder antiquarisch besorgt habe:

Fritz Bolle: Lebende Kristalle. 1952. Lux-Lesebogen Nr. 119

Die Welt ist schon ein sehr kleines Dorf – manchmal.

Quellen
Bolle, Fritz: Lebende Kristalle. Murnau 1952 (Lux-Lesebogen Nr. 119).
NN: (Perry Rhodan Heft nnn, München 1973??) – Cover: Johnny Bruck.

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Grabstein zu Lebzeiten

Wenn man achtzig Jahre alt ist und mitten in einer bedrohlichen Pandemie steckt – kommt man öfter ins Grübeln über das Ende der eigenen Existenz. Schon als Kind hat mich das beschäftigt (s. die ersten Beiträge in diesem Blog), was kein Wunder war wegen des Zweiten Weltkriegs, in dem ich auf die Welt kam.

Ich möchte kein Erdgrab haben und keinen Grabstein (wie der Titel dieses Posts andeuteten könnte), sondern eingeäschert werden und einige Jahre in einer Urne aufbewahrt. Diesen Blog verstehe ich als Erinnerungsort – ähnlich den Tagebüchern, die mein Urgroßvater Ferdinand Naumann (ab 1886) über meinen Vater Helmut vom Scheidt an mich vererbt hat. Wenn meine Kinder und Enkel diesen Blog im Internet weiter erhalten, wird er zu so etwas wie mein “Grabstein zu Lebzeiten” – denn noch lebe ich ja und schreibe diese Gedanken und Erinnerungen auf.

Aktuell arbeite ich an drei Buch-Projekten:
° Einem Roman, der im München von heute spielt, aber pure Science-Fiction ist, mit Außerirdischen, Besuchen auf fremden Welten und was sonst noch zur SF dazugehört, die mich seit meinem achten Lebensjahr fasziniert (eigentlich schon früher, weil uns an Weihnachten irgendwann – 1946? – aus dem wunderbaren Märchen-Bilder-Kinderbuch Peterchens Mondfahrt vorgelesen wurde).
° Einem kleinen Sachbuch als Ergänzung meines Kreatives Schreiben – Hyperwriting.
° Meiner Autobiographie.

Alle drei Projekte werden sich aus diesem Blog speisen, der gewissermaßen der “(kreative) Fluss” ist, in dem ich die Materialien sammle, aus denen ich dann das “Gold wasche”, das in den drei Projekten hoffentlich sichtbar wird.

Mein Lieblingsmärchen ist übrigens Der Gevatter Tod, das nur nebenbei – gleich gefolgt vom Märchen von einem der auszog, das Gruseln zu lernen.

“Grabstein zu Lebzeiten” also – das passt.

(Inzwischen denkt man auch andernorts über neue Formen des Abschiednehmens und Trauerns nach. In der Südd. Zeitung lese ich:
“Corona verändert unseren Umgang mit Tod und Trauer. Man kann auch online Abschied nehmen”.)

Quelle
Moorstedt, Michael: “Digitales Lebewohl”. In: Südd. Zeitung vom 04. Jan 2021, S. 09.

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Autobiographisches Fiction Kindheit Mikro-Stories Rehau

Der kleinste Weihnachtsmann der Welt

Dieser Blog ist mein Tummelplatz für alle möglichen Texte aus meiner Feder bzw. meinem Computer. Neben autobiographischen Texten (aus denen einmal meine Autobiographie entstehen soll) und Sachtexten (vor allem zu Themen rund ums Schreiben und Veröffentlichen) werde ich hier nach und nach die vielen kleinen Geschichten publizieren, die im Lauf der Jahrzehnte entstanden sind. Der Jahresendzeit mit Weihnachten entsprechend, will ich mit dieser Mikro-Story beginnen, verfasst am 16. Dez 2007 vom “vielleicht irgendwann einmal größten Autor der Welt”. Und die geht so:

Abb.: Weihnachtsmännchen (von der CorelDraw-CD mit der lizenzfreien Bildersammlung – ca. 2090)

Es war einmal –

Nein, so soll das nicht anfangen. Es soll ja kein Märchen werden, sondern eine Weihnachts-Geschichte. So richtig was für “warm ums Herz”. Allerdings – eine märchenhafte Geschichte soll es schon sein, mit Happyend und so. Darf doch sein, oder?

Weihnachten ist ja im Grunde eh nur ein religiös verbrämtes Märchen: Prophezeiung im Traum, Jungfrauengeburt, angeblich kostenlose Beherbergung in einem ausgebuchten Hotel (naja, im Stall, immerhin), der Stern von Bethlehem, die Heiligen Drei Könige (wo sind Könige schon heilig außer in Märchen?). Dazu etliche Wunder, Auferstehung von den Toten, erster Astronaut und so –

Also bitte sehr: äußerst märchenhaft das alles.

Aber gemach und der Reihe nach, schließlich bewegen wir uns in die “staade Zeit”, wie das in Bayern heißt (jawohl, mit zwei “aa”, damit es besonders leise ist), und alle Welt ist schön entschleunigt. Die Geschichte, die ich erzählen will, handelt von einem Weihnachtsmann. Nicht von irgendeinem, sondern vom kleinsten, den es je gab.

Dazu muss man wissen, dass es nicht nur einen Weihnachtsmann gibt, sondern deren mehrere, viele sogar (alles andere wäre ein Märchen). Wie sonst sollten denn zwei oder gar demnächst acht Milliarden Kinder mit Wunscherfüllungen beliefert werden, und das noch dazu an einem einzigen Abend!?

Einer dieser Weihnachtsmänner war logischerweise der kleinste – Das kann man sich doch leicht vorstellen: Wenn sie in einer Reihe nebeneinanderstehen beim Appell für den Heiligen Abend antreten: Links der größte, wohl ein Halbriese – rechts der kleinste. Wie damals in der Schule wir Schüler (aber ich will mich jetzt nicht mit aller Gewalt selbst in die Geschichte hineinschreiben).

Dieser kleinste Weihnachtsmann, kurz kWm, war logischerweise für die kleinsten Kinder zuständig; und das sind die der Wichtel und Zwerge. Die sind wirklich klein, winzig, kaum mit der Lupe zu erkennen. Für manche braucht man sogar ein Mikroskop.

Diesem kWm ist nun etwas Seltsames passiert. Weil er es so eilig hat, herumzukommen auf der ganzen Welt mit seinen Geschenken. Eigentlich war es ja schon lange zu erwarten – aber nun ist es tatsächlich passiert: Dass er einer Weihnachtsfrau begegnete. Klar doch, wäre ja wirklich märchenhaft, wenn es im Zeitalter der Emanzipation nicht irgendwann Frauen auch in dieses Amt gedrängt hätte (obwohl der Papst sich angeblich lange mannhaft dagegen gesträubt hat). Und Amt ist es ja auch keines mehr, sie sind nur noch Angestellte, die Weihnachtsleute.

Diese nun, von der jetzt die Rede sein soll, diese Weihnachtsfrau, war zufällig die kleinste Weihnachtsfrau der Welt, kurz kWf. Kommt schon mal vor, so ein Zufall. Den Jackpot im Lotto knackt ja auch immer wieder mal jemand. Auch diese kWf war für Wichtel und Zwerge zuständig, was schon wegen der Größe der Geschenke gar nicht anders möglich ist. Rein zufällig ( ja wirklich: rein zufällig), befand sich ihr Zustellbezirk gleich neben dem vom kWm.

So waren beide mitten im Geschenkeverteil-Stress, als sich trotz modernstem GPS-Navi ihre Zustellwege kreuzten. Noch genauer: ihre Schlitten krachten mitten auf einer schlecht beleuchteten Kreuzung bei Untermittraching-Tuntenhausen zusammen. Alle Geschenke flogen im hohen Bogen durch die Gegend, gefolgt von ein paar sehr unweihnachtlichen Flüchen, von denen
“Ja so a Bescherung, deppert´s Mannsbild!” (sie)
und
“Ja da verreck, a Frau auf´m Schlitten!” (er)
noch die harmlosesten waren. Beim Austauschen ihrer Visitenkarten wegen der versicherungstechnischer Behandlung des Vorfalls und noch intensiver beim Einsammeln der ringsum verstreuten Geschenkpäckchen lernten sie sich jedoch ein wenig näher kennen. Es funkte zwischen ihnen, wie man so sagt, und so sie verabredeten sich für „nach der Arbeit“ zu einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. Aus dem einem Glühwein wurden bald zwei, dann drei, dann vier, dann fünf (damit es eine Primzahl ist – Weihnachtsmänner stehen auf Primzahlen, Weihnachtsfrauen haben es mehr mit den ordentlichen geraden Zahlen – aber da zweimal fünf ja zehn ergibt, hatte das dann auch wieder seine Richtigkeit).

Man merkt, dass das eine – pardon – verdammt kalte Weihnacht war (von wegen Klimaerwärmung! auch so ein Märchen – was ist denn schon ein Ansteigen des Meeresspiegels um ein paar Meter, wenn es dabei schön warm wird, irgendwo jedenfalls).

So ging es dann weiter. Sechs Monate später (bei Zwergen und Wichteln und sehr kleinen Weihnachtsleuten geht alles ein bisschen schneller) kam das – natürlicherweise – kleinste Christkind, pardon: Weihnachtskind der Welt zur Welt, ein echtes kWk.

Aber das ist eine andere Geschichte. Diese ist jetzt zu Ende. Damit es der kleinste Weihnachtsroman (kWr) aller Zeiten bleibt. Oder wenigstens der von diesem Jahr.

Frohes Fest allerseits wünscht der viegAdWJvS*

* d.h.: “vielleicht irgendwann einmal größte Autor der Welt”

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Kunst für die Frauen?

Diesen Aufmarsch von 222 orangegrellen Modepuppen vor der Feldherrnhalle nennt der Künstler Dennis Meseg Broken. Er will damit auf die “Gewalt gegen Frauen” aufmerksam machen. Die Süddeutsche Zeitung nannte das eine “verstörende Versammlung”. Ich nenne es “Invasion der Aliens”.

Ich kam bei meiner täglichen Radtour zum Englischen Garten am Odeonsplatz zufällig an dieser Installation vorbei – und fand sie einfach gruselig. 222 magersüchtige Hungerhaken – hätte eine Frau das so inszeniert? Wohl kaum. Da will sich ein Mann wichtig machen, hängt sich an Frauenthemen wie #MeToo dran – und stellt doch nur seine höchsteigene Form der “Gewalt gegen Frauen” auf den Platz, den schon die Nationalsozialisten für ihre Gewalttätigkeit missbraucht haben.

Installation “Broken” von Denis Meseg vor der Feldherrnhalle. (Foto: JvSch 2020-12-08)

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Atemnot

Als Kind litt ich unter Nasenpolypen, die mir ab dem zweiten Lebensjahr zunehmend das Atmen erschwerten. Im März 1943 war dann eine Operation unumgänglich. Sie wurde in Eger (heute Cheb in Tschechien) durchgeführt, das nicht weit von Rehau entfernt liegt. Auf der Zugfahrt dorthin schaute ich mit meiner Mutter einen Prospekt des Ozeanriesen Bremen des Norddeutschen Lloyd an. Auf diesem Pott (wie die Hamburger sagen) war mein Vater als junger Mann zur See gefahren – als Steward und Tennislehrer, dem seine Englisch- und Französischkenntnisse und sein weltmännisches Verhalten sehr zugutekamen. (Über seine ganz andere Rolle auf der Bremen an anderer Stelle mehr – Rudolf Hess lässt grüßen). So erklärt sich ganz einfach, wie meine Mutter in den Besitz dieses Prospekts gekommen war.

Ansonsten erinnere ich lebhaft noch drei Details dieses Arztbesuchs: Die gelbe Farbe des Wartezimmers. Die Chlorformmaske zur Anästhesie samt rückwärts zählen (was ich mit drei Jahren offenbar schon konnte oder in diese Situation rasch gelernt habe). Und dass ich – wohl nach dem Eingriff – entsetzt jammerte: “Ich mecht net ster´m” (aus dem Rehauerischen Dialekt übersetzt: “Ich möchte nicht sterben”).

Letzteres erklärt ganz einfach, warum ich heute in diesen Corona-Zeiten solche Atemnot bekomme, dass ich mir die so oft erforderliche Schutzmaske am liebsten gleich wieder herunterreißen würde. Zum Glück habe ich in fünfzig Jahren Yoga gelernt, ganz gelassen zu atmen und mich dadurch ruhig zu stellen, wenn es nötig ist. Zum Beispiel im Magnetresonanztomographen, wenn er mit höllischem Lärm um meinen Kopf kreist, tief drinnen in der Röhre: Ausatmen- Einatmen – Ausatmen – Einatmen… (Zuletzt erlebt als Begleitmusik zur Entfernung meiner Gallenblase im August 2019).

Die Atemnot wurde dann 1943 nach der PolyOp sicher noch gefördert durch meine Erkrankung an Keuchhusten. Was mir und meiner Mutter zu einer Reise nach Oberstdorf zur Familie von Tante Lucie, der Schwester meines Vaters, verhalf – für eine Heilbehandlung in der Keuchhustenstation auf dem Gipfel des Nebelhorn. Bei dieser Gelegenheit lernte ich von Cousin Peter Josam,
° wie man mit Makkaroni Tomatensoße aufschlürfen kann
° und wie eine Schildkröte aussieht und sich bewegt: gaaaaanz laaaaangsaaaaam. (Ob von daher eine frühe Prägung meines späteren Interesses am Thema “Entschleunigung” rührt?)

Peters Schildkröte war trotz ihrer Langsamkeit aus dem Garten ausbebüxt gewesen und es war nun ein großes Ereignis, dass jemand sie entdeckt und zurückgebracht hatte. Als ich viele Jahre später meinen Patenonkel Julius (der Bruder meines Vaters) in Garmisch besuchte und dieser mich, schon 94 Jahre alt und sich auf den Tod vorbereitend, aufforderte, irgend etwas von seinem Besitz mitzunehmen (“den ich ja bald nicht mehr brauchen werde”) war ich sehr beeindruckt von dieser Gelassenheit, dem Annehmen der eigenen Endlichkeit und dem Loslassen der irdischen Dinge. Ich stutzte erst, weil ich in dieser spießigen und schon recht vernachlässigten Wohnung partout nichts entdecken konnte, was ein Gewinn für meine Besitztümer gewesen wäre. Da entdeckte ich in einem Regal eine kleine Schildkröte aus Bronze. Und wusste sofort, dass ich die gerne hätte (und ich weiß noch genau, dass ich mich dabei an die Schildkröte seines Neffen Peter Josam in Oberstdorf erinnerte).
“Ja, nimm sie mit”, sagte der Onkel, ganz erleichtert, wieder ein wenig Ballast abgeworfen zu haben. Und ich nahm die neue Bürde gerne mit.

Schildkröte aus Bronze – Länge 14 cm, Breite 11 cm, Höhe 5 cm (Nachlass Julius vom Scheidt, 1901-1995)

Dass die Schildkröte, die jetzt in der Diele meiner Wohnung in einer Ecke still vor sich hin ruht, das Symbol schlechthin für Entschleunigung ist – das war mir damals nicht klar. Obwohl ich das Buch Singles – Alleinsein als Chance (1979) schon veröffentlicht hatte, worin ich erstmals den Begriff “Entschleunigung” verwendet und wohl überhaupt als Erster publik gemacht habe.

Das beeindruckende Verhalten von Onkel Julius im Alter ändert allerdings nichts daran, dass er ein übler Antisemit war. Aber ich kann Menschen gut in (mindestens) zwei verschiedenen Schubladen meines “Archivs der Erinnerung” parken. Bei meinem Vater musste ich das auch lernen – was nicht einfach war.

Auf der Hin- oder Rückfahrt (oder beide Male) machten wir Zwischenhalt bei Mutters Tante Frieda Harrach in der Agnesstraße in München, das ziemlich genau in der Mitte auf der Strecke Rehau – Oberstdorf liegt – damals sicher mehr als eine Tagesreise mit der Bahn und nicht ungefährlich wegen der immer heftiger werdenden Bombenangriffe auf die deutschen Großstädte. Was mich bei Einbruch der Dunkelheit dann tief beeindruckte, war das Loch im Dach über dem Treppenhaus, das mir Onkel Karl Harrach nicht ohne Stolz zeigte: “Das hat eine Brandbombe geschlagen – aber das Feuer haben wir rasch gelöscht” (oder so ähnlich lautete die Erklärung). Wir blieben wohl einige Nächte zu Besuch, denn ich äußerte mehrmals begeistert den Wunsch “Sternele sehn”.
Gut möglich, dass mein Faible für Astronomie hier seine erste Quelle hat. Später, da war ich schon zehn, förderte mein Vater diese Faszination nachhaltig, indem er (von seinen Jahren bei der “Christlichen Seefahrt” geprägt) mir in einer eiskalt klaren Winternaht den Sternhimmel erklärte. Prof. Harald Lesch könnte es heute nicht besser machen. Das wurde noch verstärkt durch das Buch Aus fernen Welten von Bruno H. Bürgel, das Vater mir 1952 zu Weihnachten schenkte. Was für ein Lesefutter für einen aufgeweckten Jungen. Der hatte zuvor schon ein spannendes Abenteuer aus diesen “fernen Welten” des Weltraums mit glühenden Wangen verschlungen: Den Zukunftsroman Auf unbekanntem Stern von Anton M. Kolnberger, 1948 entdeckt und gleich auf den Weihnachtstisch gewünscht – und dort auch gelandet. All dies zusammen begann das zu knüpfen, was ich vor einem Jahr den “Blauen Faden” meines Lebens nannte: Das Interesse nicht nur an der Astronomie und anderen Naturwissenschaften, sondern an den Erzählungen, die dieses Sachwissen so lebendig machen können: die abenteuerliche, exotische, bizarre (und nicht selten auch ziemlich ver-rückte) Welt der Science Fiction.

(Ja, erstaunlich, nicht wahr, was hinter so einer atemberaubenden Maske alles verborgen sein kann.)