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Einsamkeit kennt viele Wege

Es gibt viele Pfade, die in die Einsamkeit hineinführen. Aber es gibt auch Pfade, die aus Einsamkeit herausführen. Vor allem gilt: Einsamkeit ist nicht an den sozialen Status gebunden. Es gibt den einsamen Single (der gewissermaßen die Standardausgabe ist) ebenso wie die verwitwete alte Frau und die verbitterte Ehegattin, die in ihrer kaputten Beziehung verelendet, neben einem wortkargen Workaholic.
Letzteren bezeichne ich als Krypto-Single – als “verborgenen Single”. Und zwar deshalb, weil er scheinbar in seinen familiären Beziehungen gut aufgehoben ist, aber in Wahrheit innerlich vereinsamt ist und sich am wohlsten am See beim Fliegenfischen fühlt oder im Hobbykeller bei seiner Spielzeugeisenbahn.

Und es gibt die 97jährige Gerda May, die zufrieden in ihrem Wohnsimmer sitzt und der interviewenden Reporterin erzählt, sie “lebe zwar allein, aber einsam fühle sie sich nicht”. (Scherf 2021)

In Zweisamkeit geschriebener Ratgeber (München 1984 – Heyne Verlag)

Die Corona-Krise hat das alles noch deutlich verstärkt und noch schlimmer wurde es gegen Jahresende 2020, als das Wort “Einsamkeit” in den Medien noch häufiger auftauchte: “Während der Feiertage ist der Krisendienst Psychiatrie besonders gefragt. Vielen Anrufern machen familiäre Konflikte oder Einsamkeit zu schaffen.” (Freymark 2020)

Ich behaupte jetzt mal nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema, das ich in alle seinen Facetten auch selbst kenne: Einsamkeit ist vor allem ein seelischer Zustand “im Kopf”. Deshalb fühle ich mich heute als Witwer zwar allein – aber nicht einsam. Denn zum einen habe ich in meinem Leben viele lebendige Beziehungen aufgebaut, die ich bewusst pflege – und zum anderen bin ich voller früherer Erfahrungen von Nähe und Bedeutung, die auch in Corona-Zeiten nicht verblassen, sondern eher noch an Intensität und Bedeutung gewinnen.

Wirklich arm dran und versunken in tiefer Einsamkeit war ich als Student – oft unglücklich verliebt und noch nicht in einer stabilen eigenen Welt zuhause.

In dem Ratgeber Wege aus der Einsamkeit habe ich das komplexe Thema zusammen mit meiner zweiten Frau Ruth mit dem Bild des Labyrinths beschrieben. Genau genommen waren es 13 Labyrinthe mit Farben von “gelb” bis “violett”. Das Einstiegskapitel finden Sie hier im Blog als Auszug: Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Ergänzen möchte ich das mit diesem aktuellen Tipp, der sich für mich sehr bewährt hat: Wir sind erfüllt von vielen inneren Figuren – abgespeicherten Erfahrungen mit anderen Menschen, aber auch Teilpersönlichkeiten, die wir selbst sind oder mal waren – das Innere Kind ist eine davon. In Träumen begegnen sie uns sehr leibhaftig – so als würden sie real existieren.
Sie sind auch real – aber eben nur in unserer Vorstellung. Das wird sofort anders, wenn wir in direkten Kontakt mit ihnen treten: Am einfachsten geht das, in dem, was ich als “Simulierten Dialog” bezeichne – und zwar in schriftlicher Form. Ein Beispiel ist hier im Blog nachzulesen: der Dialog mit dem vergehenden Jahr 2020 .

Bibliographie
Freimark, Linus: “Deutlich mehr Hilfe gebraucht”. In: Südd. Zeitung Nr. 299 vom 28. Dez 2020, S. R06. May, Gerda (interviewt von Scherf, Martina: “Sie wollten nur leben”. In: Südd. Zeitung Nr. 1 vom 02. Jan 2021, S. R04.
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne TB).

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_WEGE AUS DER EINSAMKEIT

Dieses Buch haben Ruth und ich 1982 gemeinsam geschrieben. Das war ein sehr mühsames Unterfangen, weil wir beide zwar sehr genau wussten, was Einsamkeit ist und sein kann – aber gerade durch unsere gemeinsame Beziehung mit unserem gerade geborenen gemeinsamen Kind Jonas, also in einem sehr quirligen Dreieck, immer wieder Mühe hatten, uns “einsam zu fühlen” und diesem doch sehr speziellen Zustand nachzuspüren.

Titelbild meines Taschenbuchs Wege aus der Einsamkeit (München 1984, Heyne-Verlag / Grafikdesign Frank Wöllzenmüller)

Das Buch ist schon lange vergriffen. Seit Ruth gestorben ist, bekommt das Thema für mich jedoch als “Alters-Single” und Witwer nach vielen Jahren wieder völlig neue Bedeutung. Inzwischen gäbe es auch noch einiges dazu zu sagen und ich sollte es vielleicht überarbeiten und neu veröffentlichen. Hier sei immerhin eines der Kapitel daraus vorgestellt. Nicht aus dem zweiten Teil, welcher mit der Metapher des Labyrinths spielt, sondern eine Art Standort und Begriffsbestimmung gleich zu beginn (die genannten Zahlen müssen natürlich aktualisiert werden, stimmen aber ungefähr auch für 2021:

Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Als wir mit den Vorarbeiten zu diesem Buch begannen, waren wir – wie wahrscheinlich die meisten Menschen – dieser Meinung: Einsamkeit ist eben Einsamkeit. Es gibt gewissermaßen nur eine einzige Qualität dieses so quälend erlebten Zustandes. Eine schreckliche Gemütsverfassung, die man möglichst meiden sollte. Und aus der man, sollte man unversehens einmal hineingeraten sein, möglichst bald wieder herauskommen muss. Einsamkeit also gleichsam eine gefährliche Krankheit …
Zu unserem eigenen Erstaunen entdeckten wir dann aber zwei verblüffende Sachverhalte:

  • Es gibt viele Formen von Einsamkeit, viele Qualitäten, deren jede ihre eigenen Inhalte hat und ihre eigenen Probleme mit sich bringt.
  • Es ist gar nicht die Einsamkeit, die so leidvoll ist – vielmehr leiden die Menschen, die sich quälend einsam fühlen, unter etwas, das wir Abgespaltensein nennen: abgespalten von den Menschen und Dingen in der Umgebung, abgespalten von den eigenen Gefühlen oder – schrecklichster Zustand von allen – abgespalten von der Außenwelt und von der Innenwelt zugleich.

Diese beiden Entdeckungen versuchen wir in den folgenden Kapiteln mit einem Vergleich auszudrücken: Einsamkeit ist wie eine Reihe von Labyrinthen. Im Bild des Labyrinths ist zum einen die qualvolle Verwirrung enthalten, die dieser Zustand ”Einsamkeit” impliziert.
Die Tatsache, dass es verschiedene Färbungen von Einsamkeit gibt, wollen wir dadurch ausdrücken, dass wir eine Vielzahl von Labyrinthen beschreiben – exakt dreizehn an der Zahl, jedes gekennzeichnet durch eine andere Farbe.

Da man unter einem Labyrinth üblicherweise eine Art Gebäude oder sonst eine kunstfertige Anlage versteht, in der man eingesperrt seinem Schicksal ausgeliefert ist, wird in diesem Bild auch das ausgedrückt, was wir ”Abgespaltensein in der Einsamkeit” nennen.

Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema ”Wege aus der Einsamkeit” gestoßen?

Der unmittelbare Anlass waren die vielfältigen Erfahrungen in der ”Beratungsstelle für Alleinlebende”, die wir 1979 Jahren in München aufgebaut haben (die es aber 2021 längst nicht mehr gibt). In Hunderten von Beratungsgesprächen und – kürzeren oder längeren – Telefonkontakten sowie in weit über tausend Briefen stießen wir immer wieder auf die Einsamkeit als zentrales Problem der Alleinlebenden.

Was uns dazu veranlasste, dieses Buch zu schreiben, war die hoffnungsvolle Erfahrung, dass man aus dem Labyrinth der Einsamkeit wieder herauskommt, wenn man sich darin genau umschaut und seine Eigenarten (auch seine Fallen!) gut genug kennt – und wenn man vor allem genügend Geduld mit sich selbst hat. Denn solche Labyrinthe sind in lebenslangem Eigenbau entstanden – man kann sie nicht in einigen Stunden Beratung, Therapie oder Selbsterfahrungsgruppe wieder einreißen. Ganz abgesehen davon, dass – wie wir noch zeigen werden – diese Einsamkeits-Labyrinthe und Einsamkeits-Irrgärten keineswegs nutzlos sind, sondern – ganz im Gegenteil – einen sehr tiefen Sinn haben.

Nicht unbedingt das gleiche: ‚allein‘ und ‚einsam‘

Einen großen Irrtum wollen wir gleich an dieser Stelle ansprechen und ausräumen. Viele Menschen glauben immer noch, dass ”allein sein” und ”einsam sein” dasselbe ist. Es gibt genügend Belege für Erfahrungen, wo Menschen extrem allein waren, aber sich keineswegs einsam fühlten, sondern ganz im Gegenteil geborgen und aufgehoben in einem größeren transzendenten Zusammenhang (s. hierzu das Kapitel über das ”Violette Labyrinth”).
Aber es ist auch eine nicht zu leugnende Tatsache, dass sehr viele Menschen sich ungeheuer einsam fühlen, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommen und allein in ihren vier Wänden sitzen; vor allem am Wochenende überfällt dann so manchen der Koller.
Gegen solche Schwierigkeiten sind auch Verheiratete keineswegs gefeit: Am schlimmsten ist wohl die ”Einsamkeit zu zweit” (Erich Kästner).

Dennoch dürften Schwierigkeiten mit der Einsamkeit am häufigsten bei Alleinlebenden anzutreffen sein, weil diese viel brutaler mit ihrer Lebenssituation ”allein” konfrontiert werden. Da ist, Hund oder Katze einmal ausgenommen, niemand da, wenn sie abends nach Hause kommen, der in der Küche mit den Töpfen klappert, und da lacht oder schreit auch kein Kind.

Der Trend zum Alleinsein nimmt weiterhin drastisch zu. Allein 1982 wurden in der Bundesrepublik 108.000 Ehen geschieden; das heißt, dass in diesem Jahr mindestens 216.000 Menschen mehr oder minder plötzlich gezwungen waren, allein zu leben (falls sie es nicht vorzogen, gleich in die nächste Beziehung zu ”flüchten” – eine höchst fragwürdige Lösung der Einsamkeitsproblematik, wie man inzwischen weiß).

Das Thema dieses Buches ist der Zustand der Einsamkeit mit seinen vielfältigen Nuancen, und deshalb sprechen wir im Grunde alle Menschen an, gleich ob allein oder zu mehreren lebend. Denn: einsam sind wir alle immer wieder einmal. Ja mehr noch: die Einsamkeit gehört offensichtlich zur Grundverfassung des Menschen überhaupt, und damit sinnvoll umgehend zu lernen, dürfte eine der wichtigsten und wesentlichsten Aufgaben sein, die wir im Leben zufriedenstellend lösen müssen – wollen wir gleichermaßen zurecht kommen mit unserer Existenz.

Bibliographie
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne Verlag), Kap 1.1.