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Labyrinthiade Science-Fiction Zufall

Bizarre Zufälle – selbst erlebt

In der Neuausgabe meines Romans Männer gegen Raum und Zeit habe ich mir 2015 im Nachwort Gedanken über selbst erlebte Zufälle gemacht. Ich zitiere das hier, samt dem Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung. Ein kleiner Seitenblick auf ein Thema, das mich immer schon fasziniert hat und dessen Beispiele ich sammle wie ein Philatelist seine Briefmarken.

Eigentlich gehören die (sinnvoll erlebten) Zufälle ins Kapitel Religion. Denn sind es nicht letztlich solche wundersamen Ereignisse, die einen zum Grübeln über eine (göttliche) Kraft und Vorsehung bringen und zu Überzeugungen, wonach es „dort oben“ jemanden geben muss, der mein Schicksal lenkt – weil man dieses nicht erklären, sondern nur verblüfft zur Kenntnis nehmen kann?

Mein Innerer Skeptiker meint diesbezüglich allerdings, dass der Göttliche Schachspieler da viel zu tun hätte angesichts von mehr als sieben Milliarden Menschen – und zugleich immer mehrere (wie viele?) Züge vorausdenkend, damit am Schluss bei dieser Schachpartie des Lebens alles einen Sinn ergibt?
So ein Gott müsste ja nicht nur den Überblick über den Verlauf jedes einzelnen Lebens haben, sondern auch über dessen Nachwirkungen in den kommenden Jahrmilliarden bis zum Ende des Universums –

Schwer vorstellbar.

Wenn der Schachspieler allerdings nicht alle Partien spielt, sondern nur solche, die einige ausgewählte Leben betreffen, und alle anderen Partien einfach so zufällig sinnlos ablaufen?

Tja, da kommt man dann rasch ins Grübeln, was die Gerechtigkeit eines solchen Verfahrens angeht. Doch nun zu meinen Zufällen. Eine winzige Auswahl, in Zusammenhang mit Männer gegen Raum und Zeit.

„Man schreibt das Jahr 7218“

Mein Roman spielt weitgehend im Jahr 7218. Meine Firmenstammnummer beim Computerservice, der seit 40 Jahren meine Buchführung erfasst, war 8712. Und eben habe ich in meiner Bücherdatenbank die aktuelle Lektüre von Welt in Angst (State of Fear) von Michael Crichton eingetragen und dabei entdeckt, dass das andere Buch von Crichton, das ich besitze (Prey) – die Nummer 1782 trägt – auch dies ein zufälliger Zahlendreher von 7218. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten mag.

Am Anfang und am Ende der Heßstraße

Als ich den Roman 1957 schrieb, wohnte ich in München in der „Heßstraße Nr. 6“. Als ich das Nachwort verfasste (worin diese Gedanken zum Zufall stehen), wohnte ich – nach vielen anderen Wohnungen in der bayerischen Landeshauptstadt – am anderen Ende der Heßstraße, gleich um die Ecke von der „Nr. 100“.
Ein Kreis hat sich geschlossen. Zufall jedenfalls – denn die neue Wohnung habe ich ja nicht bewusst gesucht und gefunden. sie wurde – wirklich zufällig – frei und mir zugänglich, weil mein zweiter Sohn Maurus seine nicht mehr benötigte

„Raumschiff durch ein Labyrinth manövrieren“

Ich war mitten in der Redaktion der Neuausgabe meines Romans, als ich in einem Sachbuch über Gehirnforschung und verwandte Themen (Birbaumer 2014), das ich während eines Seminars in Österreich in meiner Freizeit in einem Rutsch durchlas, dieses Zitat entdeckte:

Wie schon bei der Behandlung hyperaktiver Kinder kann man das Neurofeedback zudem grafisch in Form eines Spiels gestalten, bei dem der Patient mit Hilfe seiner Hirnaktivitäten beispielsweise versuchen muss, ein Auto oder ein Raumschiff durch ein Labyrinth zu manövrieren. Auf diese Weise wird Neurofeedback nicht als Therapie, sondern wie ein Computerspiel erlebt. (S. 234, Hervorhebung durch mich, JvS)

Ob Birbaumer meinen Roman kannte? Wohl eher nicht. Reiner Zufall. Reiner Zufall auch, dass ich dies las, während (s. oben).

Eine naturwissenschaftliche Erklärung für Zufälle

Es gibt noch weit wichtigere Große Koinzidenzen (wie ich sie nenne): Zum Beispiel, dass der Erdenmond gerade so groß und so weit entfernt ist, dass er die Erdachse stabilisiert und für Jahreszeiten und Meeres-Tiden sorgt. Sonst gäbe es Windgeschwindigkeiten bis zu 400 Stundenkilometer und noch manches menschenfeindliche Ungemach mehr. Oder dass der Jupiter die Kometen einfängt, die sonst auf Terras Oberfläche donnern würden – weit häufiger, als das jetzt der Fall ist.

Nochmal um Größenordnungen unwahrscheinlicher ist die Justierung der Naturkonstanten, welche unser Universum bestimmt und so etwas wie „bewohnbare Welten“ überhaupt erst möglich macht (s. Anthropisches Prinzip). Für solche Zufälle, auch die persönlich erlebten, bietet sich eine ganz einfache naturwissenschaftliche Erklärung an, und zwar, soweit ich das erkennen kann, nur eine einzige: Die String-Theorie mit ihrer Möglichkeit paralleler Universen in einem Multiversum. Wo sich solche Universen, die extrem ähnlich sind, sehr nahekommen, könnten so etwas wie Sinn-Verdichtungsknoten entstehen (irgendwelche mysteriösen Felder), und da passiert dann ein Zufall.

Klingt nach Science-Fiction? Ist es auch. Aber wer weiß –

Oder hat jemand eine bessere Idee, die ohne einen Schachspieler-Gott auskommt?

Quellen
Birbaumer, Niels und Jörg Zittlau: Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst. Berlin 2014 (Ullstein).
Scheidt, Jürgen vom: Männer gegen Raum und Zeit. (Balwe 1958). Überarb. und ergänzte Neuaqusgabe
Frankfurt am Main 2015 (vss-Verlag Schladt), S. 283-285.

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Autobiographisches Beruf Labyrinthiade Psychologie Schreiben Schreibseminare Science-Fiction Zufall

Hallo – das bin ich

Hier will ich vorab definieren, worum es mir in diesem neu gestarteten Blog geht. Ich will mich darin mit allem befassen, was das Schreiben betrifft. Begleitende Themen (Kategorien) sind die Labyrinthiade und die Entschleunigung. Das hängt (für mich jedenfalls) alles eng zusammen: Beim Schreiben bewegt man sich entschleunigt durch das Labyrinth des eigenen Lebens (oder des Projekt-Themas, an dem man gerade arbeitet).

Aber zunächst einmal will ich mich mit einem aktuellen Portrait auch optisch vorstellen (weitere Details in → ABOUT) – den Hut habe ich übrigens nur zu diesem Anlass aufgesetzt:

Abb.: Jürgen vom Scheidt, Schriftsteller und Leiter von Schreibseminaren (Foto: GvSch 2019)

Warum dieser Hut? Er tauchte irgendwann in der Familie auf, ein Erbstück. Ich sah ihn und dachte spontan: So einen Hut hat mein Vater immer gerne getragen, ein Borsalino. Deshalb ließ ich mich damit auch spaßeshalber ablichten – s. das Bild oben. Typisch 50er Jahre für seriöse Bürger. Ich habe nie einen Hut getragen (außer im Sommer als Sonnenschutz). Aber als mir das Foto wieder mal zufällig über den Weg lief, dachte ich: Das passt doch gut zu einer Inszenierung.

Inszenierung? Nun, wir spielen immer irgendwelche Rollen, je nach Umgebung sind wir mal so und mal so. Beim Klassentreffen rutschen wir rasch, wie mit einer Zeitmaschine, zurück in die Vergangenheit, als wir gemeinsam die Schulbank drückten. Andertags in der Arbeitssituation sind wir nicht der Klassenclown (der wir am Vorabend und damals in der Schule vielleicht waren), sondern der seriöse, gut beherrschte Was-auch-immer.

Nun also “Mann mit Hut”. Das hat tatsächlich viel mit meinem Vater zu tun (dem ich im Alter zu meiner eigenen Überraschung in mancher Hinsicht ähnlich werde, zumindest innerlich und zeitweise) – nicht zuletzt, weil dieser Blog eine Art Goldwaschanlage für meine Autobiographie sein soll (an der ich seit einem Jahr arbeite) und mein Vater darin in vielerlei – und manchmal sehr widersprechender Weise – eine wesentliche Rolle spielt.

Goldwaschen – darum geht es beim Schreiben immer. Man sammelt und sinniert und recherchiert und erinnert sich – aber nur die wirklich wertvollen Goldnuggets sollten im Endprodukt landen.

Nachdem ich auch parallel dazu an einem Roman arbeite, solte sich neimand wundern, dass hier immer wieder auch Erzählendes zu finden ist.

Doch außer dem “Schreiben und Veröffentlichen” gibt es noch zwei weitere große Themen: Die Labyrinthe und die Entschelunigung.

Unter Labyrinthiade verstehe ich die vielfach verschlungenen Geschichten der griechischen Labyrinth-Sage um Daidalos und Icaros sowie um Theseus und Ariadne (und viele Figuren mehr) sowie um die rätselhaften Strukturen realer Labyrinthe und Irrgärten und das, was ich Yrrinthos nenne – nämlich all jene Labyrinthe, die eigentlich gar keine sind (weil sie nur einen einzigen, wenngleich sehr verschlungenen Gang aufweisen, indem man sich jedoch nicht verirren kann), die aber meistens keine Gärten sind, sondern lediglich sehr verwirrende Strukturen – etwa wie eine fremde Großstadt, in der man sich nicht zurechtfindet (oder so kompliziert wie dieser Satz hier).
Das Labyrinth und die Bewegung durch diesen einen Gang hin zum Kern der Struktur ist für mich aueßerdem die Metapher schlechthin für den Vorgang des Schreibens
– bei dem man ja auch ein Ziel hat (z.B. eine spannende Kurzgeschichte mit einer überraschenden Pointe), aber dann auf dem Weg zu diesem Ziel oft ziemlich lange und irritierende Umwege machen muss, bis der Text so ist, wie man ihn haben möchte (oder wie dieser Text sein will – Texte können rasch ein verblüffendes Eigenleben entwickeln).
 
° Das dritte Thema, die Entschleunigung ist ebenfalls ein wesentliches Unterthema des Schreibens. Denn das schriftliche Festhalten verlangsamt den meist recht freien und rasch umherschwirrenden Gedankenflug – weil die schreibende Hand eben weit langsamer arbeitet als das denkende und fühlende Gehirn.
Keine Frage ist es für mich, dass mindestens so wichtig das Gegenteil ist: die Beschleunigung. Auch sie spielt beim Denken und Schreiben eine wesentliche Rolle:
° Zum einen, weil unser Gehirn mit seinen unglaublichen 100 Milliarden Neuronen mit 100 Billionen synaptischen Verbindungen rasend schnell arbeitet – wovon in unserem Bewusstsein aufgrund seiner “Enge” jedoch nur winzige Bruchstücke ankommen.
° Zum anderen, weil wir im Schreiben beliebig “schnell” sein können: Beispielsweise mit einem Wimpernschlag von Sekundenbruchteilen irrsinnige “Tausende von Lichtjahren” in einer SF-Story überwinden, weil unsere Phantasie keinerlei Grenzen in Raum und Zeit setzt – zumindest nicht in der Science-Fiction.
Aber auch sonst lebt Literatur vom “Zeitrafferverfahren” der Szenenwechsel und der Veränderungen des Blickwinkels – und von der Komprimierung. So verdichtete beispielsweise James Joyce in seinem bizarren Roman Ulysses einen einzigen Tag in Dublin zu gerade mal 800 Seiten, obwohl er jedes noch so winzige Detail in Raum und Zeit vor den Leser hinstellte, samt Nebengedanken nach allen sechs Himmelsrichtungen (eben auch nach oben und unten). Was sind da schon 800 Seiten!

*

Dieser Blog wird sich mit der Gegenwart befassen, was unvermeidlich auch zum Thema “Corona-Pandemie” führt (meine Kategorie hierzu: CAN-Blog).
Er wird sich auch mit der Vergangenheit befassen – nicht zuletzt, weil ich hier auch Erinnerungen für meine Autobiographie sammle (Kategorie: AutoBio).
Und dann ist da noch so manches, was mit der Zukunft zu tun haben wird (z.B. in der Kategorie: Science-Fiction).

*

Falls Sie zufällig das Datum dieses Beitrags am Ende dieser Zeilen lesen (das ansonsten immer rechts am Rand des Blogs steht) wundern Sie sich vielleicht über diesen “13. November 2020”. Eigentlich müsste das Datum lauten: “(Freitag) 13. November 2026” – aber das geht nicht, weil dieser Post dann erst zu jenem Datum veröffentlicht und hier im Blog sichtbar werden würde.
Aber das ist eine Geschichte, die will ich, wie so manches weitere in diesem Blog, “ein andermal erzählen” (wie Michael Endes das so schön zum Running Gag seiner Unendlichen Geschichte gemacht hat). Hier nur so viel:
“Freitag, der 13. November 2026” ist das fiktive Datum, von dem ausgehend sich eine Serie der Zeitschrift Psychologie heute mit der kommenden Welt des Jahres 2050 beschäftigte, veröffentlicht in den 1990er Jahren beschäftigte. Ich verfasste zu dieser Serie einen Essay mit dem Titel “Homo futurus” (der sich mit der Psyche der kommenden Menschen befasstte). Seitdem hat mich dieses Datum nicht mehr losgelassen – das ichpersönlich vielleicht nicht mehr erleben werde.
Obwohl: Hundertjährige gibt es inzwischen schon 16.500 allein in der Bundesrepublik und erklecklich viele davon sind sogar 110 Jahre alt. Fragt sich nur, in welchem geistigen, seelischen und körperlichen Zustand sie sich befinden und ob das für mich unbedingt erstrebenswert ist.

Aber die Medizin macht ja Fortschritte, und seit 50 Jahren mache ich jeden Morgen meine Yoga-Übungen, die mir ein Mann beigebracht hat, der immerhin 90 wurde und einst ein Buch mit diesem Titel schrieb: Die Kunst sich selbst zu verjüngen. Max Kirschner wurde 1900 geboren und hat zwei Weltkriege und viele anderen Entbehrungen durchgemacht – ich wurde 1940 geboren und hatte das große Glück, bisher von Entbehrungen verschont zu sein und wenn ich die Corona-Pandemie überlebe – wer weiß…

Besuchen Sei diesen Blog am 13. November 2026 – und vielleicht wieder im Jahr 2050 – und Sie werden es erfahren.

© Jürgen vom Scheidt – geschrieben 18. Nov 2020 – zur Wiedervorlage am Freitag, den 13. November 2026

 

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Atlantis Labyrinthiade Vergangenheit

Atlantis und die Labyrinthiade

Sollte der sagenhafte Kontinent jemals wirklich existiert haben, so ging er – Platon zufolge – vor etwas 12.000 Jahren unter.
Die Labyrinth-Sage wurde viel später von Plutarch aufgezeichnet, etwa um 400.

Eine britische Fernseh-Serie der BBC vermantscht beides munter miteinander:
° Ein junger Mann aus der Gegenwart (etwa 2013 also) sucht nach seinem Vater, der mit einem Tauchboot auf der Suche nach dem mythischen Atlantis verschollen ist.
° Dabei landet er in einer anderen Zeit in einer fremden (sehr griechisch-antiken) Kultur, in der er sich mit so ziemlich allen Figuren und Ereignissen der Labyrinth-Sage auseinandersetzen muss: Von der Liebe zur Prinzessin Ariadne über den mächtigen Herrscher Minos bis zum Kampf mit dem Minotauros-Ungeheuer in einem unterirdischen Labyrinth – wo ihn der “Faden” der Prinzessin rettet.

Titelbild einer britischen TV-Serie (Great Britain 2013 – BBC)

Das Fantasy-Abenteuer ist gut gemacht. Es handelt geschätzt um 2.000 v.Chr. Rasante action – aber die typische TV-Kinderkacke. Die gesamte Vorlage der griechischen Mythologie wurde brutalstmöglich verhackstückt. Dazu jede Menge Etikettenschwindel: Dieses “Atlantis” ist eindeutig die Insel Kreta, was einfach behauptet wird. Gleich in der 1. Episode kommt das Labyrinth vor und der “Ariadnefaden” (er ist nicht rot).

Auch → Atlantis allüberall

Quelle
Travis, Peter (Regie): Atlantis: Staffel 1 der BBC-Serie (BBC). Blu-ray – Great Britain 2013-2015.

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Entschleunigung Labyrinthiade

Labyrinth – Irrgarten – Yrrinthos?

Ein sehr treffendes Bild für den Ausgangszustand eines Romans ist der Irrgarten. Der Autor hat zunächst ja nur eine Fülle von Ideen, die wirklich sehr verwirrend sein können – sieht man einmal vom (auto-) biographischen Fall ab, bei dem die Chronologie eines Lebenslaufs die Reihenfolge der Elemente einigermaßen klar vorgibt (obgleich man hier durch Rückblenden und Vorblenden literarisch anspruchsvolle Kunstgriffe zur Verfügung hat). Geht der Autor in diesen Irrgarten immer wieder hinein, indem er (oder sie) den Text immer wieder überarbeitet, wird der Weg durch dieses geistige Gebilde immer klarer. Und später wird ihm der Leser gerne folgen.

Aus der Labyrinth-Sage ist uns vertraut, wie der Held Theseus seinen Weg in dieses Gewirr von Gängen und Sackgassen hinein und wieder heraus findet: Weil ihm Prinzessin Ariadne ein Hilfsmittel mitgibt, das man als eine Art antikes Navi bezeichnen könnte: Den nach ihr benannten Ariadnefaden*.

* Der müsste eigentlich Daidalos-Faden heißen, denn Daidalos, der das Labyrinth ersonnen und erbaut hat, erfand auch jene hilfreiche Garnspule – die jedoch nichts anderes sein kann, als der Bauplan dieses schrecklichen Verließes.


Echte Labyrinthe und Irrgärten

Es gibt zwei Arten von Labyrinthen: die echten und die, welche eigentlich Irrgärten sind. Der Unterschied zwischen beiden:

° In einem “echten” Labyrinth (auch als “kretisches Labyrinth” bezeichnet) kann man sich gar nicht verirren, weil es aus einem einzigen, wenngleich verwirrend hin- und hermäandernden Gang besteht, in den ein einziger Eingang hineinführt – der logischerweise zugleich der einzige Ausgang ist.

° In einem Irrgarten, mit seinen vielen Wegmöglichkeiten, Verzweigungen, Sackgassen und mehreren Ein-/Ausgängen kann man sich sehr wohl verirren.

Letzteres – eben ein Irrgarten – ist eigentlich fast immer gemeint, wenn von einem “Labyrinth” die Rede oder Schreibe ist.

Da es sich dabei meistens um gar keinen “-garten” handelt, sondern beispielsweise metaphorisch um “das Labyrinth des Lebens” oder das “Labyrinth der Großstadt” oder das “Labyrinth des Schweigens” (in denen man sich sehr wohl leicht verirren kann) habe ich das Kunstwort Yrrinthos erfunden, das alle diese “Irrgarten-Labyrinthe” meint, die eben kein “-garten” sind und schon gar nicht ein eingängiges “kretisches Labyrinth”.


Steigerung der Verwirrung

Dies ist ein “kretisches Labyrinth” mit nur einem Ein-/Ausgang und einem einzigen Gang, in dem man sich nicht verlaufen kann (Graphik J v Sch 2008)

So ein “eingängiges” Labyrinth kann man durch Einfügen von Abzweigungen und Sperren nach und nach in einen Irrgarten oder ein Yrrinthos verwandeln:

Abzweigungen öffnen – Sperren einbauen – dann wird es ein Irrgarten (Graphik: J v Sch 2008)

Fügt man noch weitere Verwirrung hinzu, indem man Sackgassen und zusätzliche Ein-/Ausgänge anbringt – dann wird es ein richtig verwirrender Irrgarten – oder eben, wenn es kein Garten ist, ein Yrrinthos:

Dies ist ein Irrgarten – mit mehreren Ein- und Ausgängen, Verzweigungen, Sackgassen (Graphik: J v Scheidt 15. Feb 2008)



Die ganze Sache wird noch verwirrender

… weil nämlich
° die älteste Darstellung eines “eingängigen Labyrinths” in der Tat auf Kreta entdeckt wurde,
° die Geschichte von Theseus und seinem Kampf mit dem Minotauros und dem rettenden Roten Faden der Prinzessin Ariadne aber fraglos in einem irrgartenähnlichen unterirdischen Verließ spielt (weshalb ich dieses lieber nicht als “Labyrinth”, sondern eben mit dem Kunstwort Yrrinthos bezeichnen möchte).

Beide Varianten, das “echte” wie das “vorgebliche” Labyrinth, werden jedoch durch etwas verbunden, was immer vorhanden ist, wenn von welcher Art Labyrinth auch immer gehandelt wird: der sprichwörtlich gefundene “Rote Faden” (von mir bisher mit dem Ariadnefaden gleichgesetzt). Er ist das, was in welchem Labyrinth auch immer den Weg finden lässt, was Ordnung in der Verwirrung stiftet
– und was für das Schreiben so unglaublich wichtig ist, weil ohne Roten Faden kein Text verständlich ist.

(S. auch den Beitrag: War Ariadnes Faden wirklich rot?

Zum Abschluss noch etwas richtig Labyrinthisches

In meiner Datenbank zu William Gaddis eingangs erwähnten Roman J R fand ich übrigens folgenden Eintrag:
“William Gaddis “J R” ist die Geschichte eines Finanzgenies an der Wallstreet:
“Der elfjährige JR spekuliert sich vom Schultelefon aus und mit Hilfe postalischer Geldanweisungen ein riesiges Finanzimperium zusammen…”

Ein irres Buch! Sehr anstrengend zu lesen, weil nahezu alles in Dialog- beziehungsweise Monologform stattfindet und ein traditioneller Handlungsverlauf kaum auszumachen ist bzw. vom Leser selbst entwickelt werden muss. Aber als Autor kann man daraus viel lernen.

Labyrinth-Nennungen in diesem Roman: S. 247, 248, 253, 273 (831: Daedalus). Und dies:
… mit einem diskret fischgrätergemusterten Labyrinth der Knitterfalten” (S. 247)

Man entkommt dem Labyrinth nicht – es ist immer und überall. Und noch etwas: Der Gang durch ein Labyrinth, gleich welcher Art, verlangsamt einen wie von selbst. Durchrennen ist nicht ratsam. Entschleunigung ist angesagt.

Lesefutter
Bittner, Michael: “Überfordert uns!”. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 283 vom 08. Dezember 2015 (Feuilleton).
Ceram, C.W.: Götter, Gräber und Gelehrte – Roman der Archäologie. (1949). Hamburg 1951 (Rowohlt).
Fischer, Meike: Der rote Faden. Eigene Fotoprojekte konzipieren und verwirklichen. Heidelberg 2015 (Dpunkt-Verlag).
Gaddis, Wiliam: J.R. (New York 1975). Frankfurt am Main 1996 (Zweitausendeins).
Gehring: Hansruedi: E-Mail vom 10. Dezember 2014.
Grant, Michael und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. (1973) München 1976 (List).
Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen – 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982 (Prestel).
Perec, George: La Disparition. (Deutsche Übersetzung von Eugen Helme von 1989: Anton Voyls Fortgang. Verlag Zweitausendeins).
Riordan, Rick: Percy Jackson und die Schlacht um das Labyrinth. (USA 2008) Hamburg 2010 (Carlsen).
Schmidbauer, Wolfgang: E-Mail vom 10. Dezember 2014.

(Ursprünglich: Post #296 meines Labyrinth-Blogs bei den SciLogs / JvS #1016 / SciLogs #1371/ Aktualisiert: 07. Jan 2021 / 26. Dez 2015/12:48 (23. Nov 2015/22:57)  / v

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Autobiographisches CoronaPandemie Einsamkeit Labyrinthiade

Einsamkeit kennt viele Wege

Es gibt viele Pfade, die in die Einsamkeit hineinführen. Aber es gibt auch Pfade, die aus Einsamkeit herausführen. Vor allem gilt: Einsamkeit ist nicht an den sozialen Status gebunden. Es gibt den einsamen Single (der gewissermaßen die Standardausgabe ist) ebenso wie die verwitwete alte Frau und die verbitterte Ehegattin, die in ihrer kaputten Beziehung verelendet, neben einem wortkargen Workaholic.
Letzteren bezeichne ich als Krypto-Single – als “verborgenen Single”. Und zwar deshalb, weil er scheinbar in seinen familiären Beziehungen gut aufgehoben ist, aber in Wahrheit innerlich vereinsamt ist und sich am wohlsten am See beim Fliegenfischen fühlt oder im Hobbykeller bei seiner Spielzeugeisenbahn.

Und es gibt die 97jährige Gerda May, die zufrieden in ihrem Wohnsimmer sitzt und der interviewenden Reporterin erzählt, sie “lebe zwar allein, aber einsam fühle sie sich nicht”. (Scherf 2021)

In Zweisamkeit geschriebener Ratgeber (München 1984 – Heyne Verlag)

Die Corona-Krise hat das alles noch deutlich verstärkt und noch schlimmer wurde es gegen Jahresende 2020, als das Wort “Einsamkeit” in den Medien noch häufiger auftauchte: “Während der Feiertage ist der Krisendienst Psychiatrie besonders gefragt. Vielen Anrufern machen familiäre Konflikte oder Einsamkeit zu schaffen.” (Freymark 2020)

Ich behaupte jetzt mal nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema, das ich in alle seinen Facetten auch selbst kenne: Einsamkeit ist vor allem ein seelischer Zustand “im Kopf”. Deshalb fühle ich mich heute als Witwer zwar allein – aber nicht einsam. Denn zum einen habe ich in meinem Leben viele lebendige Beziehungen aufgebaut, die ich bewusst pflege – und zum anderen bin ich voller früherer Erfahrungen von Nähe und Bedeutung, die auch in Corona-Zeiten nicht verblassen, sondern eher noch an Intensität und Bedeutung gewinnen.

Wirklich arm dran und versunken in tiefer Einsamkeit war ich als Student – oft unglücklich verliebt und noch nicht in einer stabilen eigenen Welt zuhause.

In dem Ratgeber Wege aus der Einsamkeit habe ich das komplexe Thema zusammen mit meiner zweiten Frau Ruth mit dem Bild des Labyrinths beschrieben. Genau genommen waren es 13 Labyrinthe mit Farben von “gelb” bis “violett”. Das Einstiegskapitel finden Sie hier im Blog als Auszug: Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Ergänzen möchte ich das mit diesem aktuellen Tipp, der sich für mich sehr bewährt hat: Wir sind erfüllt von vielen inneren Figuren – abgespeicherten Erfahrungen mit anderen Menschen, aber auch Teilpersönlichkeiten, die wir selbst sind oder mal waren – das Innere Kind ist eine davon. In Träumen begegnen sie uns sehr leibhaftig – so als würden sie real existieren.
Sie sind auch real – aber eben nur in unserer Vorstellung. Das wird sofort anders, wenn wir in direkten Kontakt mit ihnen treten: Am einfachsten geht das, in dem, was ich als “Simulierten Dialog” bezeichne – und zwar in schriftlicher Form. Ein Beispiel ist hier im Blog nachzulesen: der Dialog mit dem vergehenden Jahr 2020 .

Bibliographie
Freimark, Linus: “Deutlich mehr Hilfe gebraucht”. In: Südd. Zeitung Nr. 299 vom 28. Dez 2020, S. R06. May, Gerda (interviewt von Scherf, Martina: “Sie wollten nur leben”. In: Südd. Zeitung Nr. 1 vom 02. Jan 2021, S. R04.
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne TB).

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Einsamkeit Labyrinthiade

_WEGE AUS DER EINSAMKEIT

Dieses Buch haben Ruth und ich 1982 gemeinsam geschrieben. Das war ein sehr mühsames Unterfangen, weil wir beide zwar sehr genau wussten, was Einsamkeit ist und sein kann – aber gerade durch unsere gemeinsame Beziehung mit unserem gerade geborenen gemeinsamen Kind Jonas, also in einem sehr quirligen Dreieck, immer wieder Mühe hatten, uns “einsam zu fühlen” und diesem doch sehr speziellen Zustand nachzuspüren.

Titelbild meines Taschenbuchs Wege aus der Einsamkeit (München 1984, Heyne-Verlag / Grafikdesign Frank Wöllzenmüller)

Das Buch ist schon lange vergriffen. Seit Ruth gestorben ist, bekommt das Thema für mich jedoch als “Alters-Single” und Witwer nach vielen Jahren wieder völlig neue Bedeutung. Inzwischen gäbe es auch noch einiges dazu zu sagen und ich sollte es vielleicht überarbeiten und neu veröffentlichen. Hier sei immerhin eines der Kapitel daraus vorgestellt. Nicht aus dem zweiten Teil, welcher mit der Metapher des Labyrinths spielt, sondern eine Art Standort und Begriffsbestimmung gleich zu beginn (die genannten Zahlen müssen natürlich aktualisiert werden, stimmen aber ungefähr auch für 2021:

Was ist das eigentlich: Einsamkeit?

Als wir mit den Vorarbeiten zu diesem Buch begannen, waren wir – wie wahrscheinlich die meisten Menschen – dieser Meinung: Einsamkeit ist eben Einsamkeit. Es gibt gewissermaßen nur eine einzige Qualität dieses so quälend erlebten Zustandes. Eine schreckliche Gemütsverfassung, die man möglichst meiden sollte. Und aus der man, sollte man unversehens einmal hineingeraten sein, möglichst bald wieder herauskommen muss. Einsamkeit also gleichsam eine gefährliche Krankheit …
Zu unserem eigenen Erstaunen entdeckten wir dann aber zwei verblüffende Sachverhalte:

  • Es gibt viele Formen von Einsamkeit, viele Qualitäten, deren jede ihre eigenen Inhalte hat und ihre eigenen Probleme mit sich bringt.
  • Es ist gar nicht die Einsamkeit, die so leidvoll ist – vielmehr leiden die Menschen, die sich quälend einsam fühlen, unter etwas, das wir Abgespaltensein nennen: abgespalten von den Menschen und Dingen in der Umgebung, abgespalten von den eigenen Gefühlen oder – schrecklichster Zustand von allen – abgespalten von der Außenwelt und von der Innenwelt zugleich.

Diese beiden Entdeckungen versuchen wir in den folgenden Kapiteln mit einem Vergleich auszudrücken: Einsamkeit ist wie eine Reihe von Labyrinthen. Im Bild des Labyrinths ist zum einen die qualvolle Verwirrung enthalten, die dieser Zustand ”Einsamkeit” impliziert.
Die Tatsache, dass es verschiedene Färbungen von Einsamkeit gibt, wollen wir dadurch ausdrücken, dass wir eine Vielzahl von Labyrinthen beschreiben – exakt dreizehn an der Zahl, jedes gekennzeichnet durch eine andere Farbe.

Da man unter einem Labyrinth üblicherweise eine Art Gebäude oder sonst eine kunstfertige Anlage versteht, in der man eingesperrt seinem Schicksal ausgeliefert ist, wird in diesem Bild auch das ausgedrückt, was wir ”Abgespaltensein in der Einsamkeit” nennen.

Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema ”Wege aus der Einsamkeit” gestoßen?

Der unmittelbare Anlass waren die vielfältigen Erfahrungen in der ”Beratungsstelle für Alleinlebende”, die wir 1979 Jahren in München aufgebaut haben (die es aber 2021 längst nicht mehr gibt). In Hunderten von Beratungsgesprächen und – kürzeren oder längeren – Telefonkontakten sowie in weit über tausend Briefen stießen wir immer wieder auf die Einsamkeit als zentrales Problem der Alleinlebenden.

Was uns dazu veranlasste, dieses Buch zu schreiben, war die hoffnungsvolle Erfahrung, dass man aus dem Labyrinth der Einsamkeit wieder herauskommt, wenn man sich darin genau umschaut und seine Eigenarten (auch seine Fallen!) gut genug kennt – und wenn man vor allem genügend Geduld mit sich selbst hat. Denn solche Labyrinthe sind in lebenslangem Eigenbau entstanden – man kann sie nicht in einigen Stunden Beratung, Therapie oder Selbsterfahrungsgruppe wieder einreißen. Ganz abgesehen davon, dass – wie wir noch zeigen werden – diese Einsamkeits-Labyrinthe und Einsamkeits-Irrgärten keineswegs nutzlos sind, sondern – ganz im Gegenteil – einen sehr tiefen Sinn haben.

Nicht unbedingt das gleiche: ‚allein‘ und ‚einsam‘

Einen großen Irrtum wollen wir gleich an dieser Stelle ansprechen und ausräumen. Viele Menschen glauben immer noch, dass ”allein sein” und ”einsam sein” dasselbe ist. Es gibt genügend Belege für Erfahrungen, wo Menschen extrem allein waren, aber sich keineswegs einsam fühlten, sondern ganz im Gegenteil geborgen und aufgehoben in einem größeren transzendenten Zusammenhang (s. hierzu das Kapitel über das ”Violette Labyrinth”).
Aber es ist auch eine nicht zu leugnende Tatsache, dass sehr viele Menschen sich ungeheuer einsam fühlen, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommen und allein in ihren vier Wänden sitzen; vor allem am Wochenende überfällt dann so manchen der Koller.
Gegen solche Schwierigkeiten sind auch Verheiratete keineswegs gefeit: Am schlimmsten ist wohl die ”Einsamkeit zu zweit” (Erich Kästner).

Dennoch dürften Schwierigkeiten mit der Einsamkeit am häufigsten bei Alleinlebenden anzutreffen sein, weil diese viel brutaler mit ihrer Lebenssituation ”allein” konfrontiert werden. Da ist, Hund oder Katze einmal ausgenommen, niemand da, wenn sie abends nach Hause kommen, der in der Küche mit den Töpfen klappert, und da lacht oder schreit auch kein Kind.

Der Trend zum Alleinsein nimmt weiterhin drastisch zu. Allein 1982 wurden in der Bundesrepublik 108.000 Ehen geschieden; das heißt, dass in diesem Jahr mindestens 216.000 Menschen mehr oder minder plötzlich gezwungen waren, allein zu leben (falls sie es nicht vorzogen, gleich in die nächste Beziehung zu ”flüchten” – eine höchst fragwürdige Lösung der Einsamkeitsproblematik, wie man inzwischen weiß).

Das Thema dieses Buches ist der Zustand der Einsamkeit mit seinen vielfältigen Nuancen, und deshalb sprechen wir im Grunde alle Menschen an, gleich ob allein oder zu mehreren lebend. Denn: einsam sind wir alle immer wieder einmal. Ja mehr noch: die Einsamkeit gehört offensichtlich zur Grundverfassung des Menschen überhaupt, und damit sinnvoll umgehend zu lernen, dürfte eine der wichtigsten und wesentlichsten Aufgaben sein, die wir im Leben zufriedenstellend lösen müssen – wollen wir gleichermaßen zurecht kommen mit unserer Existenz.

Bibliographie
Scheidt, Jürgen vom und Ruth Zenhäusern: Wege aus der Einsamkeit. München 1984 (Heyne Verlag), Kap 1.1.

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Krieg Labyrinthiade Zeitstrahl

1943: Der Tod rückt näher

Vermutlich in Rehau wurde das folgende Foto gemacht: Da trommle ich vor einem Haus, das allerdings anders aussieht als der Eingang zur Bahnhofstraße 15, wo wir in Rehau wohnten, im Haus meines Großvaters Karl Hertel sen. (erbaut von dessen Schwiegervater Eduard Kropf, meinem Urgroßvater auf der mütterlichen Linie).

Abb.: Jürgen vom Scheidt – etwa dreijährig (Foto: vermutlich die Mutter – Marie vom Scheidt – 1943)

Warum ich dieses idyllische Bild hier präsentiere? Weil es die schein-friedliche Oberfläche von etwas völlig anderem darstellen. 1942 war der Zweite Weltkrieg in vollem Gange, angezettelt von Diktator Adolf Hitler und seinen nationalsozialistischen Mörderbanden. Ich bin in Rehau aufgewachsen in einem Haus, in dem sieben Frauen lebten und das Leben am Laufen hielten: Im Ersten Stockwerk meine Mutter Marie, deren Schwester Elisabeth, beider gemeinsame Mutter Betty Hertel (geb. Kropf). Im zweiten Stock die Frau Annemie von Onkel Karl (dem Bruder meiner Mutter und von Tante Lis) und Annemies Mutter, die “Omi Unglaub”. Unten im Hauseingang hatte das Dienstmädchen Else ihr Zimmer und ab und zu kam ein Kindermädchen (?), das mich spazieren fuhr. Und dann lebte im Erdgeschoss. neben dem Architekturbüro des Großvaters, noch die Frau Funke, ähnlich alt wie Großmutter. Ich liebte sie sehr und wollte immer bei ihr sein, rief “Unke, Unke”, wenn ich zu ihr wollte – einmal zu schnell, denn ich stolperte und stürzte kopfüber die Treppe aus hellgrauem Granit hinunter – hat meinem biegsamen Kinderkörper und meinem Kopf aber wohl nichts geschadet. Ich habe also schon sehr früh das “Fallen” gelernt und konnte da als Student dann im Judotraining bei den Fallübungen von Judoka Aigner gut anknüpfen – was mir noch später bei diversen Stürzen mit dem Fahrrad sehr geholfen hat – zuletzt vor zwei Monaten, da war ich schon achtzig – aber das Fallen kann ich offenbar immer noch recht geschickt…

Und wo waren all die Männer? Natürlich waren sie “im Krieg” zu jener Zeit – oder sollte ich besser schreiben: “unnatürlich”? Mein Vater, Onkel Karl und sogar mein Großvater (der schon im Ersten Weltkrieg in der größten Scheiße gekämpft hatte: in Douaumont bei Verdun) waren irgendwo dort draußen “an der Front”. Mein Vater kämpfte damals vermutlich in Holland, Onkel Karl und Großvater in der Ukraine.
WAS HATTEN DIESE DEUTSCHEN SOLDATEN DORT ZU SUCHEN?

Mein Großvater, Jahrgang 1880, meldete sich als aktiver Offizier im Majorsrang 1941/42 freiwillig erneut zum “Dienst an der Waffe”. Er mochte diesen “Anstreicher” nicht, diesen Gefreiten Adolf Hitler (im Gegensatz zu meinem Vater, der als junger Mann ein “glühender Nazi” gewesen ist). Aber er war loyaler Bürger. Und er war

° zum einen lieber Soldat als Architekt und er war als Offizier der Reserve und als Mitglied des deutschnationalen Stahlhelm ein echter Untertan, der tat, was man ihm befahl;

° und zum anderen ertrug er nicht das schreckliche Sterben seiner todkranken Frau Betty, die an Magen, Brust- und Kehlkopfkrebs litt .

Dann schon lieber das Sterben an der russisch-ukrainischen Front (wie mir Tante Lis Jahrzehnte später einmal als den wahren, tieferen Grund seiner Teilnahme an diesem zweiten Weltkrieg plausibel machte).

Seltsam: Der Großvater läuft vor dem Sterben seiner Frau davon – der Enkel (ich) muss das miterleben. Ich habe an Sterben und Tod meiner Großmutter keinerlei Erinnerungen. Sie starb Ende 1942 qualvoll, weil es kaum schmerzlindernde Medikamente gab (es war ja Krieg mit Mangelwirtschaft), gepflegt von ihren Töchtern. In ihrem Schlafzimmer in der selben Wohnung, wo ich im Zimmer nebenan spielte.
An Sylvester 1942 starb noch jemand in diesem Haus: mein Cousin Heinz Hertel, mein bester Freund “Heinzele”. Er starb, weil die Frauen irgendwoher echten Bohnenkaffee aufgetrieben hatten und den zum Jahreswechsel unbedingt trinken wollten. Heinzele wollte auch “Kaffee” und bekam ihn. Eine rätselhafte Reaktion seines Blutes reagierte tödlich auf das Coffein – er starb in den nächsten Tagen.

Ja, der Tod war sehr präsent im Haus Bahnhofstraße 15 in Rehau in meinem zweiten Lebensjahr. Indirekt war er zudem sicher ständig gegenwärtig in der Sorge und den Ängsten der Frauen um ihre Männer draußen irgendwo in Europa im Krieg.

Habe ich die Bombenangriffe in Leipzig miterlebt? Wenn später, in den 50er Jahren, am Mittwoch um 12:00 Probealarm war, fuhr mir das immer durch und durch. Ich habe den Fliegeralarm während des Krieges sicher auch in Rehau immer wieder mit erlebt. Dort wurde nie bombardiert – aber die Bomberschwärme der Alliierten flogen hoch oben am Himmel über den Ort – Richtung Berlin, Dresden. Leipzig – oder nach München.

Rehau war den ganzen Krieg über eine Idylle. Wäre nicht im Mai 1945 noch im letzten Augenblick von einem amerikanischen Panzer die Roth´sche Holzwollfabrik am Hofer Berg in Brand geschossen worden – Rehau hätte keinen einzigen Kratzer in diesem Krieg abbekommen.

Aber in meinen Träumen jener Kriegstage in Rehau muss ich mitten drin gewesen sein. Meine Mutter ging gerne ins Kino, in “Lichtspieltheater” vom Otto Strobel. Doch einmal musste man sie mitten aus der Vorstellung nachhause holen, weil ich vom Kindermädchen nicht zu beruhigen war und nicht aufzuwecken aus einem Albtraum, in dem ich von brennenden Häusern und von den “Fiechern” phantasierte – meinem Kinderwort für die Flieger, die ihre schreckliche Fracht oben am Nachthimmel transportierten.

Weil ich gerade beim Thema “Krieg” bin: Der Trommler, als der ich oben posiere, hatte ein lautstarkes Vorbild: Die Begleitmusik, die den Hitlerjungen vorwegmarschierte, wenn sie “mit klingendem Spiel” durch Rehau zogen – wie überall in Deutschland. Hitler brauchte ständig Nachschub an Soldaten, die millionenfach für ihn “im Kampf fielen” (wie man das damals schönfärberisch nannte) – die Hitlerjugend war genau das, angeleitet vom Hilfs-Verführer Baldur von Schirach.
(Günther Grass hat mit seinem Roman Die Blechtrommel diesem Instrument und seiner Bedeutung in der Nazizeit 1959 ein buchstäblich lautstarkes Denkmal gesetzt.)
Einmal zog so ein Fähnlein vor unserem Haus in der Bahnhofstraße vorbei. Ich nicht faul, rannte hinunter auf die Straße und schloss mich dem Zug an. Man ließ mich auch mitmarschieren (wahrscheinlich amüsiert über diesen frühreifen Jungdeutschen). Bis zum “Lichtspieltheater”, dem Rehauer Kino. Die Pimpfe marschierten hinein. Und mir schlug man brüsk die Tür vor der Nase zu – das war noch nichts für einen Dreikäsehoch.
Ob ich deshalb später so ein Kinonarr wurde – weil man mich damals von diesem Vergnügen ausgeschlossen hat? Aber näherliegend ist, dass ich diese Leidenschaft von meiner Mutter übernommen habe. Und mein Sohn Maurus wurde vielleicht deshalb Filmregisseur, weil er dass von mir übernommen hat? Wer weiß. Die Wege der “familiären Delegation”* sind manchmal wundersam.
* Zur “familiären Delegation” ein andermal mehr.