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Frisch in die Welt geworfen

Was man beim Stöbern im Familienarchiv so alles entdeckt: Das folgende Foto zeigt mich mit Mutter und Vater. Was ist daran so Besonderes – dass man es in einem Blog der Welt präsentieren muss?
Solche Fotos gibt es doch von jedem Kind!

J-ein. Aus zweierlei Gründen:
° Dieses Bild wurde kurz nach meiner Geburt am 07. Februar 1940 aufgenommen. Da befand sich Deutschland seit einem halben Jahr (01. September Überfall auf Polen) in einem Krieg, in den bald so ziemlich alle Ländern der übrigen Welt hineingezogen wurden – daher die Bezeichnung Zweiter Weltkrieg (der Erste Weltkrieg war dagegen ein relativ lokaler Konflikt). Da kam nicht jeder Neugeborene in den Genuss eines Fototermins.
° Wäre ich kein Bub gewesen (und damit der “Stammhalter”, wie das im Erbgut-besessenen Dritten Reich und in wohl jeder patriarchalen Gesellschaft hieß), sondern “nur” ein Mädchen, dann hätte mein Vater kaum Heimaturlaub bekommen. Der befand sich nämlich gerade im Auftrag eines Psychopathen namens A. H. und seiner Mörderbande irgendwo im Krieg in Europa.

Diese Karriere meines Vaters als “Angehöriger der deutschen Wehrmacht” habe ich in seinem Nachlass gefunden (s. unten). Zusammen mit den kargen anderen Informationen über seine Zeit vor dem Krieg (Kennenlernen meiner Eltern 1936 in Riezlern) und nach dem Krieg (erste Arbeitsmöglichkeiten irgendwo in Deutschland) kann man auch mit viel Phantasie nur ahnen, in welche Welt ich da hineingeboren wurde – und wie es meiner jungen Mutter zumute gewesen sein mag, deren Mann als Soldat ständig in Lebensgefahr war (und deren Bruder Karl und sogar ihr Vater ja ebenfalls “im Krieg” waren) – und welcher der Krieg durch die zunehmend heftiger Bombardierungen auch von Leipzig immer näher ans eigene Leben rückte und an das ihres ersten Kindes?
Und wie mag sich das wohl auf diesen neugeborenen Säugling ausgewirkt haben?

Friedliche Idylle am 07. Feb 1940 in Leipzig: Vater , Mutter, Kind (von r. n. l..) – man beachte die Uniform (Archiv JvS)

Schon die Uniform, die mein Vater auf diesem so friedlichen Bild trägt, deutet etwas ganz anderes an: Da ist jemand für einige Tage von mörderischem Kampfgetümmel in die Heimat zurückgekehrt. Es lohnt sich, diese gar nicht “heile” Welt aus seiner Sicht, in nüchternem Stenogrammstil anzudeuten: Da marschierte jemand durch halb Europa – ich will gar nicht wissen, was er dabei alles erlebt und erlitten – und anderen an Leid zugefügt hat. Darüber wurde nie gesprochen, von wenigen Andeutungen abgesehen.

(Helmut vom Scheidt) Kurzfassung meines Lebenslaufes seit 1936

Weihnachten u. Sylvester 1936 in Riezlern/Walsertal.
Briefwechsel mit meiner Frau 01.-31.03 v. 02.04.1937-27.06.1938
Hochzeit: 02.07.1938. Hochzeitsreise v. 02.07. – Ende Juli 1938 nach Westerland-Kopenhagen-Bremerhaven. Hier Besichtigung der Dampfer “Bremen” u. “Columbus” (meine Weltreise 1929).
Wohnung in Leipzig-Gohlis, Wangerooger Weg 6a.
August 1938: 14-tägige Einberufung zur Le.Flakabt.73 in Leipzig-Schönau.
Sept./Okt. 1938 = 7 Wochen Sudetenland. (Entlassung: 22.10.1938)
01. September 1939) Beginn des 2. Weltkrieges.
1. Urlaub anl. Jürgens Geburt (07.02.1940).
Frühjahr 1940: Holland – Belgien – Frankreich – Rumänien – Bulgarien – Griechenland* – Kreta** (bis – 1944) –Wien – Berlin – Einsatz in Holland mit der 2. Fallschirmjägerdivision, die neu zus.gestellt, in Oldenburg?
(Abstecher nach Leipzig, Weinbesorgung, über Quedlinburg zurück zum Einsatz in Holland). Gefangenschaft im Ruhrkessel. Mönchengladbach als Dolmetscher bei den Amis mit Josef (Sepp) Wirth.

Rehau Rückkehr im Juli 1945.

* Details, die oben fehlen und von mir (JvS) ergänzt wurden (rot markierter Bereich = Kriegseinsätze):
1940 in Holland ertrank Vater beinahe, als er in einem Bombentrichter sprang, um bei einem Angriff Deckung zu suchen.
1943 etwa in Heraklion/Kreta wurde bei der Explosion eines bombardierten Munitionsschiffes ein etwa drei Meter langes Teil des Schiffsrumpfes über dem Bett meines Vaters in die Wand von dessen Zimmer geschleudert – wo er zum Glück nicht anwesend war.
1944 nachts bei Athen schwerer Anfall: Wegen Verdunkelung keine Beleuchtung des LKW, auf dem Vater u.a. Soldaten saßen – Zusammenstoß mit unbeleuchtetem Güterzug – Vater war einer der wenigen Überlebenden, wurde auf ein Feld geschleudert, zunächst Verdacht auch “gebrochenes Rückgrat” mit Todesrisiko – zum Glück nur starke Prellungen.
** Als Feldwebel Sprachenlehrer Englisch und Französisch für die Kompanie.

Was machen Soldaten, wenn sie nicht Krieg führen? Sie bilden sich weiter: Mein Vater als Lehrer für Französisch und Englisch (Kreta 1942)

Und nun noch ein Stück Kriegsrealität: Mein Vater am Steuerknüppel eines Flugzeugs. Das Bild ist jedoch nur ein “Souvenir” (Selfie, würde man heute sagen). Er war zwar bei den Fallschirmjägern (das waren alle auf Kreta stationierten deutschen Soldaten mehr oder minder, weil die Insel von Fallschirmjägern erobert worden war.) Er war aber kein Pilot. Seine wichtigste Aufgabe bei diesem Heimaturlaubsflug, von dem er später nicht ohne Stolz und Augenzwinkern (ja, “eine Kriegsfahrt, die ist lustig…”) erzählte, war es, einige Kanister mit wertvollem Olivenöl zu schmuggeln (was streng verboten war).
Davon diente ein Kanister der Bestechung des Bodenpersonals in Heraklion, einen bekam sicher die Besatzung des Flugzeugs und einen weiteren das Bodenpersonal am Leipziger Flughafen oder wo auch immer die Maschine in Deutschland niederging. Ein oder zwei Kanister gelangten schließlich bis nach Rehau, wo die dort in der Bahnhofstraße 15 wohnenden Familien sich über diese Mangelware sehr gefreut haben werden.

Selfie aus dem Jahr 1943: Gut, wenn man einige Kanister Olivenöl dabei hat. (Archiv JvS)

Mein Vater und das Schreiben

Ich werde das andernorts näher ausführen. Jedenfalls hat mein Vater mir nicht nur die ersten englischen Vokabeln beigebracht (1947 auf Sylt), sondern mich auch 1954 zum Führen eines Tagebuchs angeregt. Er selbst schrieb Tagebuch – das ging aber während des Kriegs verloren; viele Briefe aus dieser Zeit sind jedoch erhalten. Die Tagebücher seines Großvaters (ab 1886) Ferdinand Naumann schätzte er sehr – er vererbte sie an mich.
Meine Vater ist also u.a. auch Initiator meines Schreibens, wenn man so will (was nicht ganz so konfliktfrei verlief, wie es hier steht.)

MultiChronie
1936-1939 (Vorkriegszeit) 1940-1945 (Krieg) – 1946 (Nachkriegszeit)
1992 etwa: Vater Helmut vom Scheidt* notiert seine Lebensdaten.
2021 – erinnernde Gegenwart: ich recherchiere und schreibe diesen Blog-Eintrag.

* 01.03.1907 in Hagen, gest. 27.01.1995 in Marthashofen bei Fürstenfeldbruck im Pflegeheim – 88 Jahre

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MultiChronie oder Mehrzeitlichkeit

MultiChronie – das ist mein* neuer Begriff (lateinisch schlau: Neologismus) für ein Phänomen, das jeder Mensch kennt – und selten jemand sich in seiner großen Bedeutung für das menschliche Leben bewusst macht: Dass wir eigentlich immer in – mindestens – zwei Zeitebenen leben und handeln. Beispiel:

Ich habe eben mit jemandem telefoniert und schreibe mir nach Beendigung des Gesprächs kurz den Inhalt auf, um ihn nicht zu vergessen. Die beiden Zeitebenen hierbei:
° In der Gegenwart (Beispiel: Jetzt um 19:07 Uhr) notiere ich mir den Inhalt des Telefonats
° das ich fünf Minuten zuvor geführt habe (von 18:55 bis 19:02 Uhr).

* Wenn man den Begriff “MultiChronie” googelt, findet man magere zehn Einträge – das ist sehr selten. Aber immerhin, der Begriff existiert im Internet. Es ist damit jedoch etwas anderes gemeint als wie ich den Terminus verstehe. Und es fehlt das – für mich – charakteristische Binnenversalie – das große “C”, gewissermaßen mein Markenzeichen (oder meine Marotte, wie man auch sagen könnte).

Auch dieser Begriff hat bei mir eine – gewissermaßen multichrone – Geschichte: Ursprünglich (erstmals 1992) nannte ich das Phänomen der Gleichzeitigkeit, das mir irgendwann einmal aufgefallen war, MultiChronie (die Binnenversalie war von Anfang an dabei, um auf das doch etwas Exotische des Begriffs hinzuweisen). Irgendwann merkte ich dann, dass das sprachlich nicht korrekt ist: “multi” ist ein lateinischer Begriff – “chronos” ein griechischer. Also ersetzte ich brav das “multi” durch ein mir korrekter erscheinendes griechisches “poly” (was ja ebenfalls “viel” heißt).
Doch als ich heute diesen Beitrag schrieb, kehrte ich reumütig zum “MultiChronie” zurück. Den dreifachen Grund dafür erläutere ich unten, am Schluss dieses Beitrags.


Am Anfang war Musik?

Und so könnte man graphisch sichtbar machen, was gemeint ist: Mehrere, manchmal sogar viele Schickten (von Zeitlichkeit) übereinander – und beim Betrachten “von außen”, gewissermaßen, gleichzeitig präsent. Es passt, dass ich diese Zeichnung ursprünglich “Am Anfang war Musik” betitelt habe. Denn ist nicht Musik von eben solcher “Vielschichtigkeit in der Gleichzeitigkeit” gekennzeichnet: Mehrere Instrumente spielen zur selben Zeit, zum Beispiel bei einer Jazz-Jamsession wie “Olé” des John Coltrane Quartetts, oder in einem Symphonieorchester bei der Aufführung von “Mahlers Siebter”. In der indischen Musik dominiert zwar die Sitar oder die Sheenai – aber der sich steigernde Rhythmus der Tablas und der stetig raunende basso continuo der Tamboura sind wichtige weitere “Stimmen”. (Die einsamen einzelnen Stimme irgendwo,. die ein Lied trällert, ist etwas ganz anderes.)

Vielleicht sieht es in den “neuronalen Netzen” des Gehirns ähnlich aus? wer weiß.)

MultiChronie der Zeitschichten (JvS 12. Sep 1967: Wachsmalkreiden und Tusche: “Am Anfang war Musik”)

(Schöner Zufall, dass ich diese Zeichnung vor nunmehr 53 Jahren hingekritzelt habe, einfach so aus Lust am Malen, ohne mir viel dabei zu denken – zum Beispiel, dass mein ZukunftsSelbst sie am 21. Januar 2021 gut zur Illustration des Themas MultiChronie verwenden würde.)

Es sind auch drei und mehr Ebenen gleichzeitig möglich

Füge ich zu obigem Beispiel noch hinzu, dass ich mich beim Notieren des Telefonats daran erinnere, dass ich mit meiner Gesprächspartnerin vor einigen Jahren ein sehr schönes Erlebnis bei einem gemeinsamen Abendessen hatte – kommt bereits eine dritte Ebene ins Spiel.
Das kann man noch toppen durch eine weitere Ergänzung: Ich notiere mir, dass ich diese Frau gleich noch einmal anrufen sollte, um sie ins Theater einzuladen. Vor meinem geistigen Auge male ich mir sogar aus, wie dieser Abend verlaufen könnte – in der Zukunft.
Damit sind wir schon bei Zeitschicht fünf. In einem Roman mit vielen Rück- und Vorblenden kann dies dann leicht so ähnlich aussehen wie oben in der Graphik.

Beim Lesen eines Romans – oder beim Mitfiebern in einem spannenden Film – wechseln wir immer wieder die Zeitebene – durch Rückblenden, parallele Erzählstränge, Vorblenden (die das Ergebnis eines Vorgangs ausmalen). Ich vermute sogar, dass eine solche Vielzeitigkeit und entsprechende Vielschichtigkeit die gute Qualität eines literarischen Kunstwerks ausmacht. In der Musik ist dies scheinbar nicht möglich, weil ja Melodie und Rhythmus vorantreiben – aber bringt nicht jede Wiederholung eines Themas, eines Refrains, eine vorangehende Zeitebene ins Spiel – steht nicht Mehrstimmigkeit eines Orchesterstücks auch für “verschiedene Zeitebenen”, vor allem wenn verschiedene Tempi andere Akzente setzten?

Markenkern der Science-Fiction – und dieses Blogs

Solche Mehrzeitlichkeit ist gewissermaßen der “Markenkern” der Science-Fiction: Jemand schreibt
° in der Gegenwart
° über Ereignisse der Zukunft
° die vielleicht mit Überlegungen über die Auswirklungen künftiger Ereignisse (Krieg? Klimawandel) auf noch spätere Generationen und somit Jahre) verknüpft werden.

Stanley Kubricks Verfilmung von Arthur C. Clarkes Roman ist ein weiteres anschauliches Beispiel: Clarke hat diesen Roman
° irgendwann in den 1940er Jahren als Idee phantasiert,
° 1948 die (später in den Roman integrierte) Kurzgeschichte über den Monolithen veröffentlicht (The Sentinel),
° 1950 eine weitere Story “Begegnung im Morgengrauen” konzipiert plus einige weitere Kurzgeschichten, die er
1965? zu einem Roman zusammenfügte. Nach diesem konzipierte Kubrick zusammen mit CClarke Mitte der 60er Jahre das Drehbuch für den
° am 02. April 1968 erwtmals gezeigten Film.
° Diesen sah ich wohl gleich am ersten Tag (Ehrensache für einen SF-Freund!) in der deutschen Version, also dem 11. September 1968 im Arri-Kino in München.
° Dieser Tage (Januar 2021) habe ich mir die restaurierte Fassung auf Blu-ray gekauft und angeschaut. Und fand den Film wie damals ziemlich langfädig – aber doch auch irgendwie faszinierend wegen seines “vast scope“, also der gewaltigen Spannweite seiner Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit – und eben auch wegen der im Film in eindrucksvollen Szenen aneinandergereihten MultiChronie:
° Das beginnt in der Urzeit der Menschheit, in drei weit aus einander liegenden Etappen,
° springt in der berühmten Szene in die Zukunft das Jahres, das den Film seinen Titel gab: (2001): als ein hochgeworfener Knochen aus der Urzeit zu einem im Erdorbit anfliegenden Space Shuttle wird, das die Raumstation ansteuert.
° Kurz darauf landet der Protagonist Dr. Heywood Floyd auf dem Mond, wo man im Krater Clavius einen weiteren schwarzen Monolithen gefunden hat.
° Nächste Zeitschicht ist der Flug von Captain Bowman und seines Begleiters (der ein Opfer des “verrückt” werdenden Computers HAL wird) zum Jupiter – wo man einen dritten Monolithen entdeckt, welcher
° einen weiteren Sprung noch später “Beyond the Infinite” auf einer total fremden Welt initiiert – in einer spektakulären Reise (und Kamerafahrt) durch die psychedelischen Farbspektren eines Wurmlochs oder was immer das ist.
° Aber die Schlussszene machte eine gigantische zeitliche Volte rückwärts: Bowman mutiert zum alten Mann – der gleichzeig (multichron also) sich selbst (?) als neugeborenen Säugling erblickt.

Erst als ich diesen Beitrag formulierte, wurde mir klar: Genau das, diese MultiChronie, ist so etwas wie ein Charakteristikum das Blog. Es geht mir eigentlich immer darum, eigenes Erleben (Autobiographie) mit aktuellen Geschehnissen in einen weiter gefassten Zusammenhang zu bringen – nicht selten ausgelöst durch einen tagesaktuellen Artikel in der Zeitung oder eine Doko im Fernsehen – oder durch das Betrschten einer Blu-ray wie Das siebente Siegel, das mich mit der Pest des Mittelalters ebenso in Kontakt bringt wie mit der Seuche, die Albert Camus in Oran in seinem Roman Die Pest beschreibt – oder natürlich mit der aktuell wütenden Corona-Pandemie.


Autobiographisches

Eigenes Erleben (sicher von meiner langen Beschäftigung mit SF geprägt):
Obwohl ich mich heute schon mitten im Jahr 2021 befinde, “fühlt” sich diese Gegenwart manchmal so seltsam an, als befinde sie sich weit weit vor mir in der Zukunft – irgendwie aus der Perspektive des Jugendlichen von 1957, der gerade in der Arbeit an seinem ersten utopischen Roman steckt, der in wirklich ferner Zukunft spielt: im Jahr 7.812.
Es gibt in diesem utopischen Abenteuer jedoch auch eine Rückblende, in der Ereignisse viele tausend Jahre zuvor berichtet werden: Der Untergang von Atlantis (vor angeblich 12.000 Jahren).

Damals, 1957, war jedenfalls das “Jahr 2000” ein weit entfernter Zeitpunkt, der meine Phantasie sehr beschäftigt hat. Noch weiter darüber hinaus zu denken, zum Beispiel an ein Jahr mit den Ziffern 2021, war nicht vorstellbar. Dann schon wirklich weit weg ins Phantastische (und damit zugleich völlig Unverbindliche) – eben ins Jahr “7812”.

Anderes Beispiel: NN beschreibt das Zimmer, in dem er sich aktuell befindet – als plötzlich vor seinem geistigen Auge sein früheres Zimmer auftaucht, in dem er vor 30 Jahren als Student gewohnt hat.


Schreiben ist eigentlich immer multichron

Eigentlich schreiben wir immer multichron, also auf zwei Ebenen mindestens. Denn schreiben heißt immer: Sich schreibend erinnern. Unser Gedächtnis-Archiv ist vielfach gestaffelt in Zeitschichten angeordnet. Diese sind jedoch keineswegs in irgendwelchen Schubladen für sich aufbewahrt – sondern dynamisch miteinander vernetzt. Diese Vernetzung wird erzeugt durch bestimmte (gute oder schlechte) Gefühle oder durch eine bestimmte Atmosphäre (fröhlich hell, bedrohlich düster usw.). Das ist übrigens auch der Schlüssel, wie man bestimmte “vergessene” Erinnerungen wieder zugänglich machen kann.


Drei Gründe für meine reumütige Rückkehr zum Begriff “MultiChronie'”

(21. Jan 2021) Ich nenne das jetzt doch wieder MultiChronie, und zwar aus drei Gründen:

1. Weil sich mir jedes Mal das “MultiChronie” aufdrängt, wenn ich zu diesem Begriff etwas schreiben oder recherchieren will. Das ist wohl durch vielfache Verwendung tief in mir eingebrannt.

2. Mit dem – sprachlich eigentlich “falschen” – Zusammenfügen eines Begriffsteils aus dem Lateinischen (multi) und dem Griechischen (chronos → Chronie) charakterisiere ich schon im Begriff die Paradoxie, dass da Elemente aus zwei verschiedenen und zeitlich weit auseinanderliegenden Kulturen (Zivilisationen) künstlich zusammengefügt werden – also auch zwei Zeitebenen. Die griechische Welt war zuerst da und hat die römische sehr beeinflusst, wurde dann aber von dem immer mächtiger werdenden Römischen Reich abgelöst.

3. Es erinnert mich wahrscheinlich vor allem an den Multitron – den von mir so phantasierten und benannten Energiespeicher in meinem Roman Sternvogel:

War es Absicht – oder war es eine ungewollte Handlung? Später wusste Dayen es nicht mehr zu sagen. Mit fünf raschen unüberlegten Griffen stellte er die Schaltung für ein neues Sprungfeld zusammen. Für eine unbekannte Greggnor-Schleuse, deren eines Portal noch im irdischen Erfahrungsbereich lag, durch deren zweites Portal jedoch noch nie ein Schiff ausgetreten war. Das Steuergehirn fand in seinen Gedächtnisbänken keinerlei äquivalenten Wert („Sind die Werte richtig, Pilot?“) und verwendete deshalb die angegebenen Zahlen, ohne sie durch irgendwelche zeitliche oder räumliche Koeffizienten zu verändern. Sofort baute es mit Unterstützung der Speicher und des Multitrons die erforderliche Energiesphäre auf.

Und noch etwas: Es zeigt sich inzwischen, dass die “MultiChronie” so etwas wie ein dritter “Faden” meines Blogs (und somit meines Denkens) wird: Nach dem “Roten Faden = Schreiben” und dem “Blauen Faden = Science-Fiction” nun also der gelbe Faden = “MultiChronie der Geschehnisse”.
Das drängt sich schon deshalb auf, weil MultiChronie wohl DAS Charakteristikum der Science-Fiction ist (also meines Blauen Fadens)!

Quellen
Clarke, Arthur C.: 2001 – A Space Odyssee. (London 1968 – nach Kurzgeschichten von 1948, 1950 etc.).
Kubrick, Stanley (Regie) 2001 – Odyssee im Weltraum (nach dem Roman und unter Mitarbeit am Drehbuch von Arthur C. Clarke). Great Britain 1968. Auf Blu-ray in der von Christopher Nolan restaurierten Neufassung von 2020.
Scheidt, Jürgen vom: Sternvogel. Minden 1962 (Bewin).

Nur so nebenbei und ganz am Schluss: So ein Quellennachweis ist doch auch ganz schön multichron: Er reicht in diesem Fall von 1948 (Clarkes erste Story) bis 2020 (Nolans Restaurierung des Kubrick-Films von 1968).

(Aktualisiert: 21. Jan 2021/23:00 Uhr / Posted: 15. Jan 2021)

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“… und hatten die Pest an Bord”

Das sang man schon in den 30er Jahren:
“Wir lagen vor Madagaskar
Und hatten die Pest an Bord…”

Ich dachte immer, das wäre von Bert Brecht und sei Teil der Drei-Groschen-Oper. So kann man sich täuschen. Die Wikipedia meint: “Es wird dem Komponisten und Texter Just Scheu zugeschrieben; als Entstehungsjahr gilt 1934.” Also auch nicht ganz sicher verortet.
Jedenfalls ist das ein Lied, das mir aus der Jugend vertraut ist – und das nun wieder hochgeblubbert ist aus Gedächtnis-Tiefen – warum wohl?

Ein andres historisch-literarisches Beispiel: Dieser Tage* wird aus aktuellem Anlass gerne an den Roman Die Pest von Albert Camus (aus dem Jahr 1952) erinnert. Camus hatte bei besagter Pest-Epidemie in der algerischen Hafenstadt Oran keine eigenen Erlebnisse mit so einer bedrohlichen Epidemie im Sinn, verwendete wohl die medizinischen Aspekte der Krankheit eher als Metapher für die politische und gesellschaftliche Krankheit des Zweiten Weltkriegs. Aber das „Logbuch der Pest in Oran“ in Form der Aufzeichnungen des Arztes Rieux ist der rote Faden, der sich durch den Roman zieht. Er ist die Figur, in welche der Autor Camus hineinschlüpft.

* Ich schrieb das am 13. April 2020 in mein CAN-Tagebuch – in dem dann allerdings nicht viel mehr notiert wurde. Corona überflutete den Alltag auch in den Medien viel zu sehr, als das ich noch große Lust gehabt hätte, dazu meine eigenen Gedanken und Erfahrungen zu speichern. Ist aber eigentlich Unsinn: Jeder Mensch erlebt so etwas auf seine ganze eigene, nur in seinem privaten Kosmos registrierte und gespeicherte Weise. Wenn das gut aufbereitet wird – kann ein gutes Buch daraus werden. Oder das Kapitel eines Buches – oder vielleicht auch nur ein Absatz irgendwo da drin (was mir eher vorschwebt).

Der Klassiker aus dem Jahr 1952 (Düsseldorf 1960 – Rauch-Verlag)

Nur nebenbei: Sie haben wenig davon, wenn Sie Camus´ Roman lesen, um etwas Hilfreiches für Ihren Umgang mit dem Corona-Virus zu erfahren. Da taugt die tägliche Lektüre der Süddeutschen Zeitung als Lebenshilfe weit mehr.)

Weit eindrucksvoller ist in seiner karg-archaischen Wucht Ingmar Bergmanns Film Das siebente Siegel, obwohl sich das auf Ereignisse der Kreuzritterzeit bezieht, also Jahrhunderte zurück. Aber die Pest (oder andere Pandemien wie die Spanische Grippe) sind immer wieder sehr präsent, wenn es eine aktuelle Variante dieser Heimsuchungen gibt – so wie in unserer Gegenwart 2020/21 das Covid-19-Virus mit alle sein lieben Verwandten, die nun überall des Terrain “Menschheit” erobern wollen.

Immer wieder gegenwärtig: Die Vergangenheit

Auch ein gutes Beispiel für das, was ich PolyChronie nenne: die gleichzeitige Präsenz von verschiedenen Zeitschichten wie der Gegenwart und den 1950er Jahren und dem Mittelalter mit seinen Kreuzzügen. Und der Krieg ist auch immer wieder präsent, das nur nebenbei: die Kreuzritter war ebenso in kriegerischer Mission unterwegs wie die französische Armee in der aufbegehrenden Kolonie Algerien. Fragt sich, was die größere “Pest” ist – die virengemachte oder die menschengemachte.

Der zeitlose Film zur aktellen “Pest” – (Ingmar Bergman 1957)

Quellen
Camus, Albert: Die Pest. (1952). Düsseldorf 1960 (Karl Rauch Verlag).
Bergman, Ingmar (Regie): Schweden 1957. Blu-ray.

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War meine Mutter eine Nazisse?

Bei meinem Vater bin ich mir da ganz sicher: Er war ein Nazi. Zumindest während des Dritten Reiches. Ein sehr “glühender Nazi” sogar, der Hitler wie einen Messias verehrte. In der Autobiographie seines besten Freundes Eduard Biedermann(der diese 1972 etwa in Chile veröffentlichte) kann man nachlesen, was die jungen Männer damals empfanden. Die wollten – so wie später die 68er vom linken Rand des Spektrums her- den “Muff von tausend Jahren” beiseite fegen, Kaiserreich und Offizierkaste und Junkerklüngel und überhaupt diesen ganzen alten Kram –
– nur um für “tausend Jahre” ihr eigenes Reich zu errichten, in dem sie endlich das Sagen hatten. Und worin dann alles (!) unendlich viel schlimmer wurde als es im Kaiserreich in seiner hässlichsten Zeit jemals war, trotz seinem größenwahnsinnigen und eitlen Hochadel.

Aber meine Mutter?

Gut, sie war im “Bund deutscher Mädel (BdM)” und genoss wie ihre Schwester Elisabeth die neuen Freiheiten, die die Nazis den jungen Mädchen und Frauen zugestanden. Elisabeth war über den BdM sogar bayerische Landessportmeisterin im Kurzstreckenlauf. In der Kaiserzeit hätte das “Hertels Mariechen” sicher nicht nach Riezlern im Kleinwalsertal gehen und ihrer Schwester helfen können, diese Pension zu betreiben. Wo sie dann im Winter 1936/37 meinen Vater kennenlernte, der dort zum Schifahren urlaubte. So kam dieser Zufall zustande, dem ich meine Existenz verdanke – brave drei Jahre später.

Oh ja, die Nazis förderten die jungen Frauen – wenngleich mit der kaum verhohlenen Absicht, aus ihnen möglichst rasch kräftige Mütter von Soldaten zu machen, die man als Kanonenfutter überall hinschicken konnte – Sobald die Katze erst mal aus dem Sack und Hitler so richtig an der Macht war.

So richtig habe ich nie hinter dieses freundliche, liebevoll zugewandte Gesicht schauen können. Da war manchmal eine gewisse Kühle.

Aber meine Mutter (1914-1973) war auf jeden Fall “tüchtig” – wie all die Frauen, die das damals sein mussten und den “Laden geschmissen” haben, während ihre Männer irgendwo draußen in Europa mordend und plündernd und sengend umherzogen. Bis spätestens im Mai 1945 der Spuk vorbei war.

Und der kleine Junge, also ich – was mag der sich da wohl gedacht haben an der Hand von “Mutti”? Vielleicht hat er gerade gefragt: “Wann kommt denn der Papa heim?” – “Der ist auf Kreta um kommt bald wieder zu uns-” Oder so ähnlich. (1943 war das noch um einiges blauäugig hoffnungsvoll zu früh).

Nein, so ein begeisterter weiblicher Nazi war meine Mutter nie. Solche Begeisterung hätte zu ihrem eher zurückhaltenden Wesen gar nicht gepasst. Da war sie ganz anders als ihr Mann, mein Vater.

Doch davon ein andermal mehr.

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“-eil -itle!”

Versteht man das heute auf Anhieb? Im Dritten Reich hätte jeder sofort gespannt, dass dies nicht “Heil Kräuter” heißen soll, sondern “Heil Hitler”. Warum ist mir das heute so wichtig, dass ich diesem unseligen Massenmord-Anstifter so viel Platz in meinem Blog einräume?
Ganz einfach: Er wurde mir – gerade über diesen obligatorischen Gruß – gewissermaßen von Geburt an akustisch eingepflanzt. Später sah ich ihn in jeder Wohnung in der Küche oder im Wohnzimmer an der Wand hängen, diesen “A H”, den man mit “H H*” grüßte – gar nicht gezwungenermaßen in den meisten Fällen, sondern mit echter Begeisterung. Bei den meisten jedenfalls. (Nicht bei denen allerdings, die darunter gelitten haben und mit diesem Nazi-Gebrüll ermordet wurden.)

* Dass heute noch jemand wie dieser rechtsextreme Vegan-Koch und Querdenker Attila Hildmann die Initialen “AH” verwendet – bloßer Zufall? Die beliebte, aber in Deutschland nicht mehr gut angesehene Autokennziffer “HH” für “Hansestadt Hamburg” wird von Neonazis gerne als eine Art Verehrung für ihren braunen Meister A H zu “Heil Hitler” umfunktioniert.)

Welcher Arm denn nun – der rechte oder der linke? Und dann ein strammes “-eil -itle!” (Archiv JvS – Rehau 1941)

Meine Mutter hat mir jedenfalls einmal, nicht ohne Stolz, erzählt, einer meiner ersten Sätze (der allererste Satz?), den ich sprach, sie die Erwiderung des Grußes gewesen, den ich im Kinderwagen von entgegenkommenden Bürgern immer wieder zu hören bekam, den ich aber noch nicht verstand und nur automatisch nachplappernd wie ein Papagei so erwiderte: “-eil -itle”.

Heilsamer Exorzismus?

Vielleicht funktioniert dieses hier im Blog Aufschreiben und Veröffentlichen wie ein heilsamer Exorzismus? Um diese uralte nazibraune Scheiße jetzt endlich mal wirklich loszuwerden, gegen die ich schon seit meiner Jugend ankämpfe?!

Oder haben all diese Leute vielleicht in Wahrheit gedacht, dass AH krank sei und ein “Heil Hitler” ihm wie ein Stoßgebet helfen könnte, gesund zu werden? Geholfen hat das jedenfalls endlose zwölf bzw. “tausend” Jahre nichts. Und wenn ich alle paar Abende eines dieser “Dokumente” aus der Nazi-Zeit sehe (rasch weiterzappend, weil mich dieses manische Gegeifere abstößt), dann denke ich: Muss man diesem Monster und seinen Mörderbanden denn wirklich so viel Platz einräumen – seinen geschichtsblinden Nachbetern zur Freude? Aufklärung, Aufarbeitung, entlarvendes Erinnern – schön und gut. Die Massenmedien haben diese Auftrag. Aber die Länge und Wichtigkeit, die da den schlimmsten Erscheinungen deutscher “Zivilisation” eingeräumt wird – ist sie nicht nur ein ständiges Freudenfest für “seine” Verehrer am rechten Rand?


Drückeberger-Gässchen ohne “H H”

Mein einer Großvater war zwar ein Militarist, der sich zweimal für die “deutsche Sache” in einem Weltkrieg “geschlagen” hat (und deshalb habe ich in diesem Blog noch manches Hühnchen mit ihm zu rupfen) – aber wenn der Major und Architekt (in dieser Reihenfolge, bitte) Karl Hertel sen. in München geschäftlich zu tun hatte und dazu in die Altstadt musste
° und dabei am Odeonsplatz eigentlich die SS-Ehrenwache vor der Feldherrnhalle zum Gedenken an den Hitlerputsch von 1927 mit nach oben gestoßenen rechten Arm und einem zackigen “Heil Hitler” hätte grüßen müssen,
° machte er lieber, wie so mancher nazi-kritischer Münchner den Umweg durch die Viscardi-Gasse hinter der Feldherrnhalle, welche die Einheimischen deshalb “Drückeberger-Gässchen” nannten.

Denn er verabscheute diesen “Anstreicher” aus Braunau. Was ihn seltamerweise nicht hinderte, meine Nazi-Vater (in jenen braunen Tagen) als Schwiegersohn zu schätzen – und als Major und Regiments-Kommandeur der Deutschen Wehrmacht in der besetzten Ukraine zu tun, was sein oberster Kriegsherr ihm dort zu tun befahl (wovon ich zum Glück keinerlei Ahnung habe – aber mir so manches denken kann und muss).

“-eil -itle” – oder “Heilt Hitler”?

Er war nicht zu heilen, dieser Fürst der Finsternis – ach was: “Fürst”. Er war ein –

Forget it!

Schade um jede Minute, die ich an ihn verschwende, der Sehnsucht manches Kabarettisten zum Trotz. Liebe heile ich mein Inneres Kind von diesen Antisemiten, indem ich ihnen die Worte eines jüdischen Arztes und Psychologen entgegenhalte, der empfahl: “Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten”.

Es geht vor allem um das Durcharbeiten. Um das Aufarbeiten. Und dann um das Loslassen.

Quelle
Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (1914). In: Ges. Werke Bd. X.

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Trommler in den Tag

Das fing schon früh an – die Lust am Bearbeiten eines Schlagzeugs – oder eben einer kleinen Trommel, wie man sie einem Kind gibt. Ein Schlagzeug hatte ich auch einmal – als Student – angeregt durch einen Studienkollegen und Freund in der Münchner Jazzer-Szene: Dieter Henneberg von der legendären Riverboat Seven. Aber wie bei der Gitarre fehlt mir der richtige Antrieb zum fleißigen Üben – und nur so ein wenig Herumdilletieren macht keinen richtigen Spaß. Rasch verkaufte ich die “Schießbude” (wie die Jazzer das gerne nennen) weiter.

Kein Oskar Matzerath´scher Blechtrommler – aber einer, der schon als Dreijähriger gerne mit der Hitlerjugend marschiert wäre (Archiv JvS – Rehau 1943


Hinter der Hitlerjugend hermarschieren – das wär´s gewesen

Ich muss so drei Jahre alt gewesen sein (also ungefähr so alt wie oben auf dem Foto), als an unserem Haus vorbei die Hitlerjugend marschierte, ein Spielmannszug vorneweg musizierend. Ich nichts wie runter auf die Straße und hinterher – bis vor zum Lichtspieltheater (wo man mich aber nicht reinließ – schade – ich wäre so gerne mit den Pimpfen ins Kino gegangen).
Damals muss irgendwie der Trommel-Impuls in mich reingefahren sein. Oder war es doch schon das ADHS, das mich zum Zappelphilipp machte und für den das Trommeln mit den Fingern eine große Erleichterung = Triebabfuhr war und immer noch ist (mein Vater hat auch alle Welt mit seiner “nervösen Trommelei” genervt, wie meine Mutter das abschätzig bezeichnete – später meine Frau Ruth bei mir).

Auch das Tippen auf der Schreibmaschine muss aus dieser “Trommel-Ecke” rühren – heute auf der Tastatur meines Computers, die gar nicht hart und laut genug sein kann – Triebabfuhr für Zappelphilipps ADHS. Vielleicht bin ich deshalb zum “Schreiber” geworden – als Nachfahre der Hitlerjugend auf dem Weg ins Rehauer Kino?

Indische Tabla-Brillianz

Später lernte ich einen indischen Tablaspieler kennen, der in München studierte: Shankar Chatterjee; der schenkte mir zwei seiner Handtrommeln (Tablas genannt). Mit seinem Kollegen Sunil Banerjee (ein virtuoser Sitarspieler und vom Brotberuf Ingenieur) trat er oft in München bei Konzerten der deutsch-indischen Gesellschaft auf (wo ich eine Zeitlang Mitglied war). Zweimal gaben die beiden ein Hauskonzert bei uns in der großen Altbauwohnung in der Seestraße (1982-2011). Das eine war zur Einweihung der Wohnung – das andere zu einem speziellen Anlass – wahrscheinlich 1990 zu meinem 50. Geburtstag.
Bei meiner Indienreise 1975/76 schloss ich mich einer großen Gruppe in München lebender Inder an (was damals einen Preisnachlass für die Flugtickets ermöglichte), zu denen auch Shankar und Sunil gehörten. Auf diese Weise ereignete sich wieder einer dieser sagenhaften Zufälle meines Lebens:

Während ich (mit zwei anderen Münchnern) erst einmal Delhi erkundete, flogen die Inder weiter in ihre Heimatorte und ich verlor sie aus den Augen. Später nützte ich dann ein 14-Tage-Ticket für eine Rundreise mit dem Flugzeug. Eine Station war Kalkutta. Indien ist ja nun wirklich kein kleines überschaubares Land, wo man sich immer wieder über den Weg läuft, wie in manchen griechischen oder Schweizer (oder auch deutschen) Tourismus-Zentren. Aber in Kalkutta aus dem eben besuchten Indischen Nationalmuseum zu treten – und genau dort Shankar Chatterjee zu treffen, der gerade vorbeiläuft, um Besorgungen zu machen – das ist schon unglaublich!
Auf diese Weise bekam ich, von ihm eingeladen, die wunderbaren Gelegenheit, ihn zuhause in einem Vorort kennenzulernen – so richtig unter Einheimischen und er in einer völlig andern Rolle als Sohn einer großen Familie.

Shankar Lal (Chatterjee) mit Tablas und Sunil Kumar (Banerjee) an der Sitar (München 09. Ok 1982 – Archiv JvS)

Doch zurück zum eigenen Trommeln. Congas – das wäre es gewesen! Ich kaufte mir auch einmal ein gebrauchtes Paar. Immer wieder habe ich darauf geübt. Aber als ich endlich richtig Unterricht nehmen wollte (beim legendären Erich Ferstl), klappte es nie mit dem Termin. Und das eine Mal, als ich mich im Olympia-Park zu einem Conga-Kurs der Volkshochschule anmeldete – wurde das wieder nichts, weil der Depp von Lehrer sich so verspätete (ohne sich zu entschuldigen), dass ich seiner Künstlerallüren überdrüssig frustriert von dannen zog.

Aber irgendwie muss das viele Fingertrommeln und das Hören unzähliger Jazz-Platten und indischer Ragas mit ihren furiosen Tabla-Soli und das viele Tanzen von Boogie-Woogie und Jitterbug – und vielleicht eine gewisse musikalische Begabung – doch etwas in mir geschaffen habe, was sich als Conga-Solisten glänzen ließ. Das ergab sich einfach so während des Abschlussabends bei einer Generalversammlung des “Workshop Instituts of Living Learning (WILL)”, bei dem ich die Ausbildung zum Leiter von Gruppen mit “Themenzentrierter Interaktion” (TZI)” machte – die methodische Basis meiner Schreib-Seminare. Die Band, die den bunten Abend musikalisch belebte, machte gerade Pause. Einige Tänzer, darunter auch ich und Ruth, standen etwas gelangweilt auf der Tanzfläche herum, als es mich buchstäblich in den Finger zu jucken begann; Da standen diese Congas – also nichts wie ran. Keine Ahnung, was mir den Mut verschaffte (wahrscheinlich war es der Wein), mich an die großen Trommeln zu stellen und herumtastend darauf zu klopfen, plötzlich einen Rhythmus spürend, der nicht vom Kopf kam, sondern vom Körper, und wie von einer magischen Kraft geführt war ich ihm Flow und trommelte doch so gekonnt, dass die Tänzer sich dem anvertrauten und sich für zwei, drei Soli meiner “Musik” anvertrauten. So etwas was ist wir nie zuvor gelungen und nie wieder danach.

(Ich muss das “nie” ein wenig relativieren – es stimmt nur für die Trommelei mit den Congas. Aber etwas ähnliches habe ich ein andermal mit einem anderen Instrument erlebt, ebenfalls bei einer WILL-Veranstaltung. Es war dunkel im Saal – Thema “Nächtlicher Dschungel” – sehr beliebt bei WILL – als mich wieder so eine geradezu magische Kraft zum Klavier bugsierte, wo ich dann zweihändig (!) Boogie-Woogie spielte – und zwar so gut, dass man sich am anderen Morgen anerkennend darüber äußerte – ohne zu wissen, dass ich das war – im Dunkeln. Boogie-Woogie – das ist vor allem Rhythmus, mit der linken, der Bass-Hand. Ich hatte als Kind drei Jahre Klavierunterricht – bis ich den genervt abbrach, weil der Lehrer, der Kantor Peter (was man sich alles merkt!) ein so unfreundlicher und pädagogisch völlig unterbelichteter Mensch war. Außerdem hatte ich ja unzählige Jazz- und Blues- und Boogie-Platten gehört, im Münchner Jazzkeller* an der Türkenstraße mir unzählige Nächte bei phantastischer Live-Musik (die Four Duke! Mal Sondock am Saxophon!) um die Ohren geschlagen und in entsprechenden Konzerte im Deutschen Museum mitgefiebert (sensationell am Schlagzeug Elvin Jones mit dem John Coltrane Quartett – oder Lionel Hampton*, der regelrecht in Ekstase auf seine Trommeln sprang, wenn er nicht gerade am Vibraphon brillierte und sang: “Hey! Ba-ba-re-bop”!”


* Nach einem Hampton-Konzert 1961 war ich so angetörnt und von Endorphinen durchpulst, dass ich mich am Stachus, wo ich auf die mitternächtlichen Trambahn meiner “Linie 8” zur Barer-/Theresienstraße wartete, plötzlich irgendwohin setzte und eine Geschichte zu notieren begann. Sie wurde später das erste Kapitel des Ketten-Romans Das unlöschbare Feuer, den ich reihum mit einigen Freunden aus der SF-Szene schrieb, abschloss und sogar als Leihbuch veröffentlichte – Danke, Lionel!

Aus meinen Conga-Erlebnissen ist die Kurzgeschichte → “Conga Joe” entstanden , die ich gerne bei Lesungen vorgetragen habe, vor allem wenn die passende Musik dabei war, wie am 02. Mai 2005 in Weiden bei “Jazz und Poesie” (mit Alfred Hertrichs Trio).

Jazz und Poesie in Weiden am 02. Mai 2005 – v.l.n.r. ? Bauer (Posaune), Wilfried Lichtenberg (Bass), Alfred Hertrich (Gitarre) und JvS (Mikro) CAMERA

Die Geschichte geht weiter

Ob es Papas Wunsch war – oder ob Gregor selbst gerne die Tabla schlug: Hier sitzt er jedenfalls 1972, gerade mal ein Jahr alt und erst seit kurzem zum Sitzen fähig, in der Wohnung in der Gerstäckerstraße (München, Grenzkolonie Trudering) und vergnügt sich. Heute spielt er lieber Cello – aber sein Sohn Nico hat endlich den Dreh und die Begeisterung und vor allem das Durchhaltevermögen gefunden und lernt richtig Schlagzeug. Eine Geschichte über drei Generationen also- und wenn ich die “nervöse Trommelei” meines Vaters als Ur-Ereignis dazunehme, sogar über vier Generationen:

Gregor, gerade mal ein Jahr alt – und gibt schon den Ton an und den Rhythmus vor (Archiv JvS – 1972).

Quellen
Grass, Günter: Die Blechtrommel. Neuwied 1959 (Luchterhand).
Hampton, Lionel: “Hey! Ba-ba-re-bop”. Auf LP HAMP’S BOOGIE WOOGIE (1942-1949).
Scheidt, Jürgen vom: “Conga Joe”. In: JvS: Blues für Fagott und zersägte Jungfrau. München 2005 (Allitera)
Upton, Munro R. (Sammelpseudonym von Jesco von Puttkamer, Jürgen vom Scheidt und fünf anderen SF-Fans): Das unlöschbare Feuer. Balve 1962 (Bewin Verlag).


Kettenroman von JvS, Jesco von Puttkamer etc – ausgelöst von einem Konzert mit Lionel Hampton) (1962 – Bewin-Verlag)
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Besser – oder schlechter?

Viele Menschen der Gegenwart halten es dort nicht aus. Sie sehnen sich
° nach einer Zukunft, in der alles besser sein wird – oder fürchten sich vor kommenden Zeiten, in den alles nur “noch schlimmer” sein wird als heute (nicht nur Leser von Science-Fiction mit ihren positiven Utopien oder negativen Dystopien),
° oder sie wollen in einer ersehnten Vergangenheit leben, in der alles besser war.

Woody Allen hat das wunderbar durchgespielt in seinem Film Midnight in Paris. Da sehnt sich der junge amerikanische Drehbuchautor Gil Pender (der viel lieber Romane schreiben würde) nach den “Roaring Twenties” in Paris – wird auf zauberhafte Weise dorthin versetzt, trifft die von ihm verehrten Autorenvorbilder Ernest Hemingway, Zelda und Scott Fitzgerald, Cole Porter (der gerade seinen Song “Lets Fall in Love” vorstellt), die betörende Tänzerin Mistinguette mit ihrem Bananenschurztanz, die aufstrebenden Maler Pablo Picasso und Salvador Dali – und eine junge Frau (Geliebte von Picasso und Modigliani). Diese Frau verzehrt sich aber in Sehnsucht nach der weiter zurückliegenden Belle Epoque. Als Gil Pender mit ihr in einem weiteren Fantasy-Sprung zurück in eben diese Belle Epoque gerät – treffen sie dort im Moulin Rouge natürlich den Maler Toulouse-Lautrec und Paul Gaugin (der sich wiederum noch weiter zurückwünscht, in die Renaissance mit ihren Vorbildern Tizian und Rembrandt).

Gil Pender schlendert durch das Paris der Gegenwart – und sehnt sich nach den Roaring Twenties (Film – Woody Allen, Midnight in Paris)

Die “bessere” Vergangenheit gibt es nicht

Beides ist Unsinn. Die Vergangenheit war in keiner Hinsicht jemals besser als die heutige Zeit. Man gehe nur einmal mit Zahnschmerzen zum Zahnarzt um die Jahrhundertwende – ohne Turbinenbohrer und Schmerzspritze (ein Abkömmling des Novocain, das wiederum erstmals 1886 als pures Kokain von Sigmund Freud am Auge angewandt wurde – die Geburtsstunde der “lokalen Betäubung).
Und die Zukunft wird wohl niemals das “Paradies” sein, das die heute Unzufriedenen entweder in eine verklärte Vergangenheit projizieren (Belle Epoque, Goldenes Zeitalter, Atlantis) oder nach vorne in einer oft recht kitschige Idylle. Letzteres könnte aber eher eine digital überwachte Variante à la 1984 (von George Orwell) werden – Version Großer Bruder Chinas Kommunistische Partei – oder Version Datenabsauger Facebook und Amazon. Oder auch völlig anders.

In einer Hängemappe, die ich vor vielen Jahren angelegt habe, sammle ich unter dem Titel “Was wurde besser – was wurde schlechter” Beispiel für beide Varianten. Und davon gibt es viele. Wohl nur wenige Menschen haben genügend umfangreiche Vergleichsmaßstäbe –
° weil sie zu jung sind und deshalb nur wenige Jahre persönlich kennen (und das noch dazu in recht engen lokalen Gegebenheiten, auch wenn man im Urlaub schon in aller möglichen Herren Länder war)
° oder schlicht zu ungebildet.

Eine recht heilsame Übung ist es, bestimmte Lebensbereiche aus einer übergeordenten Perspektive quasi “von oben” oder “von außen” zu betrachten und dabei in “50-Jahre-Schritte” der Entwicklung einzuteilen., Zum Beispiel:

° Wie sah die Medizin der Seuchenbekämpfung vor 50 – vor 100 – vor 150 Jahren aus (davor verschwimmt schon alles konturenlos, weil es zu wenige Aufzeichnungen gibt oder man selbst zu wenig weiß.) Und wie ist das damit verglichen heute in Zeiten einer grimmigen Pandemie?

° Wie war das Wetter (in Europa – Deutschland – Bayern – München) vor 50 – 100 – 150 Jahren (davor gibt es kaum verlässliche Aufzeichnungen). Weihnachten 2020 gab es in München an Weihnachten keinen Schnee. 1970 mit ziemlich Sicherheit schon. Und 1920? Ganz sicher.

° Und was war mit der Justiz? Wird heute noch gefoltert – und wo? Wie war das vor 50 Jahren – vor 100 Jahren – im Mittelalter? Wie sind die Gefängnisse in Deutschland, in Frankreich, in den USA – und für wen?

° Wie hoch ist der Anteil der Bevölkerung an Bewohnern von Großstädten – Kleinstädten – Dörfern (“auf dem Land”) – heute – vor 50 – vor 100 – vor 500 Jahren?

Ein geschulter und kritischer Blick zurück offenbart ganz andere Zustände

So manchen “Zahn” zieht einem die Lektüre zweiter Bücher, die sich die Vergangenheit und deren Veränderungen zur Gegenwart genauer anschauen: Hans Rosling in seiner bahnbrechenden (wenngleich auch heftig umstrittenen) Vergleichsstudie Factfulness. Und Giudo Mingels (mit einem Team des Spiegel-Magazins) in den drei Bänden von Früher war alles schlechter – einer Serie mit rund 150 Beispielen aus allen Lebensbereichen, welche sehr drastisch die Veränderung der Zeitläufte aufblättern, mit eindrucksvollen Verlaufsgrafiken – so etwas wie ein praktische Anwendung von Roslings aufklärendem Rundumumschlag sind.

Die provozierende Spiegel-Serie “Früher war alles schlechter” (dva – Stuttgart 1917)

Aber: Sicher ist vieles besser geworden. Aber ebenso sicher nicht alles: Die Atzomkriegsgefahr der 1950er Jahre besteht nach wie vor – Hiroshima und Nagasaki könnten nur schreckliche Vorboten einer noch viel entsetzlicheren Zukunft ein, in deren Varianten die SF geradezu gebadet hat. Die Klimaveränderung ist inzwischen eine Tatsache, die wirklich nur total unwissende Ignoranten leugnen können. Aber vielleicht gelingt der Turnaround? So etwas wie die AfD und andere rechtspopulistische bis rechtextreme Strömungen hat noch vor zehn Jahren kaum jemand auf dem Radar gehabt.
Den geradezu halsbrecherischen Sprung in die Digitalisierung und so viele andere Veränderungen in allen (!) Lebensbereichen hat noch vor genau einem Jahr, also vor Corona – niemand auch nur im Traum geahnt.
Was wird daraus in 50, 100, 150 Jahren geworden sein? Wie sah das 1970 aus? Oder 1920? (Digitalisierung? Globalisierung? Klimawandel? Umweltverschmutzung? – was könnte das sein?)

Quellen
Allen, Woody (Regie): Midnight in Paris. USA 2010.
Mingels, Guido: Früher war alles schlechter. München 2017 (DVA & Spiegel-Buchverlag). Band 1.
Rosling, Hans et al: Factfulness. Berlin 2018 (Ullstein).

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Atlantis Labyrinthiade Vergangenheit

Atlantis und die Labyrinthiade

Sollte der sagenhafte Kontinent jemals wirklich existiert haben, so ging er – Platon zufolge – vor etwas 12.000 Jahren unter.
Die Labyrinth-Sage wurde viel später von Plutarch aufgezeichnet, etwa um 400.

Eine britische Fernseh-Serie der BBC vermantscht beides munter miteinander:
° Ein junger Mann aus der Gegenwart (etwa 2013 also) sucht nach seinem Vater, der mit einem Tauchboot auf der Suche nach dem mythischen Atlantis verschollen ist.
° Dabei landet er in einer anderen Zeit in einer fremden (sehr griechisch-antiken) Kultur, in der er sich mit so ziemlich allen Figuren und Ereignissen der Labyrinth-Sage auseinandersetzen muss: Von der Liebe zur Prinzessin Ariadne über den mächtigen Herrscher Minos bis zum Kampf mit dem Minotauros-Ungeheuer in einem unterirdischen Labyrinth – wo ihn der “Faden” der Prinzessin rettet.

Titelbild einer britischen TV-Serie (Great Britain 2013 – BBC)

Das Fantasy-Abenteuer ist gut gemacht. Es handelt geschätzt um 2.000 v.Chr. Rasante action – aber die typische TV-Kinderkacke. Die gesamte Vorlage der griechischen Mythologie wurde brutalstmöglich verhackstückt. Dazu jede Menge Etikettenschwindel: Dieses “Atlantis” ist eindeutig die Insel Kreta, was einfach behauptet wird. Gleich in der 1. Episode kommt das Labyrinth vor und der “Ariadnefaden” (er ist nicht rot).

Auch → Atlantis allüberall

Quelle
Travis, Peter (Regie): Atlantis: Staffel 1 der BBC-Serie (BBC). Blu-ray – Great Britain 2013-2015.