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Frisch in die Welt geworfen

Was man beim Stöbern im Familienarchiv so alles entdeckt: Das folgende Foto zeigt mich mit Mutter und Vater. Was ist daran so Besonderes – dass man es in einem Blog der Welt präsentieren muss?
Solche Fotos gibt es doch von jedem Kind!

J-ein. Aus zweierlei Gründen:
° Dieses Bild wurde kurz nach meiner Geburt am 07. Februar 1940 aufgenommen. Da befand sich Deutschland seit einem halben Jahr (01. September Überfall auf Polen) in einem Krieg, in den bald so ziemlich alle Ländern der übrigen Welt hineingezogen wurden – daher die Bezeichnung Zweiter Weltkrieg (der Erste Weltkrieg war dagegen ein relativ lokaler Konflikt). Da kam nicht jeder Neugeborene in den Genuss eines Fototermins.
° Wäre ich kein Bub gewesen (und damit der “Stammhalter”, wie das im Erbgut-besessenen Dritten Reich und in wohl jeder patriarchalen Gesellschaft hieß), sondern “nur” ein Mädchen, dann hätte mein Vater kaum Heimaturlaub bekommen. Der befand sich nämlich gerade im Auftrag eines Psychopathen namens A. H. und seiner Mörderbande irgendwo im Krieg in Europa.

Diese Karriere meines Vaters als “Angehöriger der deutschen Wehrmacht” habe ich in seinem Nachlass gefunden (s. unten). Zusammen mit den kargen anderen Informationen über seine Zeit vor dem Krieg (Kennenlernen meiner Eltern 1936 in Riezlern) und nach dem Krieg (erste Arbeitsmöglichkeiten irgendwo in Deutschland) kann man auch mit viel Phantasie nur ahnen, in welche Welt ich da hineingeboren wurde – und wie es meiner jungen Mutter zumute gewesen sein mag, deren Mann als Soldat ständig in Lebensgefahr war (und deren Bruder Karl und sogar ihr Vater ja ebenfalls “im Krieg” waren) – und welcher der Krieg durch die zunehmend heftiger Bombardierungen auch von Leipzig immer näher ans eigene Leben rückte und an das ihres ersten Kindes?
Und wie mag sich das wohl auf diesen neugeborenen Säugling ausgewirkt haben?

Friedliche Idylle am 07. Feb 1940 in Leipzig: Vater , Mutter, Kind (von r. n. l..) – man beachte die Uniform (Archiv JvS)

Schon die Uniform, die mein Vater auf diesem so friedlichen Bild trägt, deutet etwas ganz anderes an: Da ist jemand für einige Tage von mörderischem Kampfgetümmel in die Heimat zurückgekehrt. Es lohnt sich, diese gar nicht “heile” Welt aus seiner Sicht, in nüchternem Stenogrammstil anzudeuten: Da marschierte jemand durch halb Europa – ich will gar nicht wissen, was er dabei alles erlebt und erlitten – und anderen an Leid zugefügt hat. Darüber wurde nie gesprochen, von wenigen Andeutungen abgesehen.

(Helmut vom Scheidt) Kurzfassung meines Lebenslaufes seit 1936

Weihnachten u. Sylvester 1936 in Riezlern/Walsertal.
Briefwechsel mit meiner Frau 01.-31.03 v. 02.04.1937-27.06.1938
Hochzeit: 02.07.1938. Hochzeitsreise v. 02.07. – Ende Juli 1938 nach Westerland-Kopenhagen-Bremerhaven. Hier Besichtigung der Dampfer “Bremen” u. “Columbus” (meine Weltreise 1929).
Wohnung in Leipzig-Gohlis, Wangerooger Weg 6a.
August 1938: 14-tägige Einberufung zur Le.Flakabt.73 in Leipzig-Schönau.
Sept./Okt. 1938 = 7 Wochen Sudetenland. (Entlassung: 22.10.1938)
01. September 1939) Beginn des 2. Weltkrieges.
1. Urlaub anl. Jürgens Geburt (07.02.1940).
Frühjahr 1940: Holland – Belgien – Frankreich – Rumänien – Bulgarien – Griechenland* – Kreta** (bis – 1944) –Wien – Berlin – Einsatz in Holland mit der 2. Fallschirmjägerdivision, die neu zus.gestellt, in Oldenburg?
(Abstecher nach Leipzig, Weinbesorgung, über Quedlinburg zurück zum Einsatz in Holland). Gefangenschaft im Ruhrkessel. Mönchengladbach als Dolmetscher bei den Amis mit Josef (Sepp) Wirth.

Rehau Rückkehr im Juli 1945.

* Details, die oben fehlen und von mir (JvS) ergänzt wurden (rot markierter Bereich = Kriegseinsätze):
1940 in Holland ertrank Vater beinahe, als er in einem Bombentrichter sprang, um bei einem Angriff Deckung zu suchen.
1943 etwa in Heraklion/Kreta wurde bei der Explosion eines bombardierten Munitionsschiffes ein etwa drei Meter langes Teil des Schiffsrumpfes über dem Bett meines Vaters in die Wand von dessen Zimmer geschleudert – wo er zum Glück nicht anwesend war.
1944 nachts bei Athen schwerer Anfall: Wegen Verdunkelung keine Beleuchtung des LKW, auf dem Vater u.a. Soldaten saßen – Zusammenstoß mit unbeleuchtetem Güterzug – Vater war einer der wenigen Überlebenden, wurde auf ein Feld geschleudert, zunächst Verdacht auch “gebrochenes Rückgrat” mit Todesrisiko – zum Glück nur starke Prellungen.
** Als Feldwebel Sprachenlehrer Englisch und Französisch für die Kompanie.

Was machen Soldaten, wenn sie nicht Krieg führen? Sie bilden sich weiter: Mein Vater als Lehrer für Französisch und Englisch (Kreta 1942)

Und nun noch ein Stück Kriegsrealität: Mein Vater am Steuerknüppel eines Flugzeugs. Das Bild ist jedoch nur ein “Souvenir” (Selfie, würde man heute sagen). Er war zwar bei den Fallschirmjägern (das waren alle auf Kreta stationierten deutschen Soldaten mehr oder minder, weil die Insel von Fallschirmjägern erobert worden war.) Er war aber kein Pilot. Seine wichtigste Aufgabe bei diesem Heimaturlaubsflug, von dem er später nicht ohne Stolz und Augenzwinkern (ja, “eine Kriegsfahrt, die ist lustig…”) erzählte, war es, einige Kanister mit wertvollem Olivenöl zu schmuggeln (was streng verboten war).
Davon diente ein Kanister der Bestechung des Bodenpersonals in Heraklion, einen bekam sicher die Besatzung des Flugzeugs und einen weiteren das Bodenpersonal am Leipziger Flughafen oder wo auch immer die Maschine in Deutschland niederging. Ein oder zwei Kanister gelangten schließlich bis nach Rehau, wo die dort in der Bahnhofstraße 15 wohnenden Familien sich über diese Mangelware sehr gefreut haben werden.

Selfie aus dem Jahr 1943: Gut, wenn man einige Kanister Olivenöl dabei hat. (Archiv JvS)

Mein Vater und das Schreiben

Ich werde das andernorts näher ausführen. Jedenfalls hat mein Vater mir nicht nur die ersten englischen Vokabeln beigebracht (1947 auf Sylt), sondern mich auch 1954 zum Führen eines Tagebuchs angeregt. Er selbst schrieb Tagebuch – das ging aber während des Kriegs verloren; viele Briefe aus dieser Zeit sind jedoch erhalten. Die Tagebücher seines Großvaters (ab 1886) Ferdinand Naumann schätzte er sehr – er vererbte sie an mich.
Meine Vater ist also u.a. auch Initiator meines Schreibens, wenn man so will (was nicht ganz so konfliktfrei verlief, wie es hier steht.)

MultiChronie
1936-1939 (Vorkriegszeit) 1940-1945 (Krieg) – 1946 (Nachkriegszeit)
1992 etwa: Vater Helmut vom Scheidt* notiert seine Lebensdaten.
2021 – erinnernde Gegenwart: ich recherchiere und schreibe diesen Blog-Eintrag.

* 01.03.1907 in Hagen, gest. 27.01.1995 in Marthashofen bei Fürstenfeldbruck im Pflegeheim – 88 Jahre

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War meine Mutter eine Nazisse?

Bei meinem Vater bin ich mir da ganz sicher: Er war ein Nazi. Zumindest während des Dritten Reiches. Ein sehr “glühender Nazi” sogar, der Hitler wie einen Messias verehrte. In der Autobiographie seines besten Freundes Eduard Biedermann(der diese 1972 etwa in Chile veröffentlichte) kann man nachlesen, was die jungen Männer damals empfanden. Die wollten – so wie später die 68er vom linken Rand des Spektrums her- den “Muff von tausend Jahren” beiseite fegen, Kaiserreich und Offizierkaste und Junkerklüngel und überhaupt diesen ganzen alten Kram –
– nur um für “tausend Jahre” ihr eigenes Reich zu errichten, in dem sie endlich das Sagen hatten. Und worin dann alles (!) unendlich viel schlimmer wurde als es im Kaiserreich in seiner hässlichsten Zeit jemals war, trotz seinem größenwahnsinnigen und eitlen Hochadel.

Aber meine Mutter?

Gut, sie war im “Bund deutscher Mädel (BdM)” und genoss wie ihre Schwester Elisabeth die neuen Freiheiten, die die Nazis den jungen Mädchen und Frauen zugestanden. Elisabeth war über den BdM sogar bayerische Landessportmeisterin im Kurzstreckenlauf. In der Kaiserzeit hätte das “Hertels Mariechen” sicher nicht nach Riezlern im Kleinwalsertal gehen und ihrer Schwester helfen können, diese Pension zu betreiben. Wo sie dann im Winter 1936/37 meinen Vater kennenlernte, der dort zum Schifahren urlaubte. So kam dieser Zufall zustande, dem ich meine Existenz verdanke – brave drei Jahre später.

Oh ja, die Nazis förderten die jungen Frauen – wenngleich mit der kaum verhohlenen Absicht, aus ihnen möglichst rasch kräftige Mütter von Soldaten zu machen, die man als Kanonenfutter überall hinschicken konnte – Sobald die Katze erst mal aus dem Sack und Hitler so richtig an der Macht war.

So richtig habe ich nie hinter dieses freundliche, liebevoll zugewandte Gesicht schauen können. Da war manchmal eine gewisse Kühle.

Aber meine Mutter (1914-1973) war auf jeden Fall “tüchtig” – wie all die Frauen, die das damals sein mussten und den “Laden geschmissen” haben, während ihre Männer irgendwo draußen in Europa mordend und plündernd und sengend umherzogen. Bis spätestens im Mai 1945 der Spuk vorbei war.

Und der kleine Junge, also ich – was mag der sich da wohl gedacht haben an der Hand von “Mutti”? Vielleicht hat er gerade gefragt: “Wann kommt denn der Papa heim?” – “Der ist auf Kreta um kommt bald wieder zu uns-” Oder so ähnlich. (1943 war das noch um einiges blauäugig hoffnungsvoll zu früh).

Nein, so ein begeisterter weiblicher Nazi war meine Mutter nie. Solche Begeisterung hätte zu ihrem eher zurückhaltenden Wesen gar nicht gepasst. Da war sie ganz anders als ihr Mann, mein Vater.

Doch davon ein andermal mehr.

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“-eil -itle!”

Versteht man das heute auf Anhieb? Im Dritten Reich hätte jeder sofort gespannt, dass dies nicht “Heil Kräuter” heißen soll, sondern “Heil Hitler”. Warum ist mir das heute so wichtig, dass ich diesem unseligen Massenmord-Anstifter so viel Platz in meinem Blog einräume?
Ganz einfach: Er wurde mir – gerade über diesen obligatorischen Gruß – gewissermaßen von Geburt an akustisch eingepflanzt. Später sah ich ihn in jeder Wohnung in der Küche oder im Wohnzimmer an der Wand hängen, diesen “A H”, den man mit “H H*” grüßte – gar nicht gezwungenermaßen in den meisten Fällen, sondern mit echter Begeisterung. Bei den meisten jedenfalls. (Nicht bei denen allerdings, die darunter gelitten haben und mit diesem Nazi-Gebrüll ermordet wurden.)

* Dass heute noch jemand wie dieser rechtsextreme Vegan-Koch und Querdenker Attila Hildmann die Initialen “AH” verwendet – bloßer Zufall? Die beliebte, aber in Deutschland nicht mehr gut angesehene Autokennziffer “HH” für “Hansestadt Hamburg” wird von Neonazis gerne als eine Art Verehrung für ihren braunen Meister A H zu “Heil Hitler” umfunktioniert.)

Welcher Arm denn nun – der rechte oder der linke? Und dann ein strammes “-eil -itle!” (Archiv JvS – Rehau 1941)

Meine Mutter hat mir jedenfalls einmal, nicht ohne Stolz, erzählt, einer meiner ersten Sätze (der allererste Satz?), den ich sprach, sie die Erwiderung des Grußes gewesen, den ich im Kinderwagen von entgegenkommenden Bürgern immer wieder zu hören bekam, den ich aber noch nicht verstand und nur automatisch nachplappernd wie ein Papagei so erwiderte: “-eil -itle”.

Heilsamer Exorzismus?

Vielleicht funktioniert dieses hier im Blog Aufschreiben und Veröffentlichen wie ein heilsamer Exorzismus? Um diese uralte nazibraune Scheiße jetzt endlich mal wirklich loszuwerden, gegen die ich schon seit meiner Jugend ankämpfe?!

Oder haben all diese Leute vielleicht in Wahrheit gedacht, dass AH krank sei und ein “Heil Hitler” ihm wie ein Stoßgebet helfen könnte, gesund zu werden? Geholfen hat das jedenfalls endlose zwölf bzw. “tausend” Jahre nichts. Und wenn ich alle paar Abende eines dieser “Dokumente” aus der Nazi-Zeit sehe (rasch weiterzappend, weil mich dieses manische Gegeifere abstößt), dann denke ich: Muss man diesem Monster und seinen Mörderbanden denn wirklich so viel Platz einräumen – seinen geschichtsblinden Nachbetern zur Freude? Aufklärung, Aufarbeitung, entlarvendes Erinnern – schön und gut. Die Massenmedien haben diese Auftrag. Aber die Länge und Wichtigkeit, die da den schlimmsten Erscheinungen deutscher “Zivilisation” eingeräumt wird – ist sie nicht nur ein ständiges Freudenfest für “seine” Verehrer am rechten Rand?


Drückeberger-Gässchen ohne “H H”

Mein einer Großvater war zwar ein Militarist, der sich zweimal für die “deutsche Sache” in einem Weltkrieg “geschlagen” hat (und deshalb habe ich in diesem Blog noch manches Hühnchen mit ihm zu rupfen) – aber wenn der Major und Architekt (in dieser Reihenfolge, bitte) Karl Hertel sen. in München geschäftlich zu tun hatte und dazu in die Altstadt musste
° und dabei am Odeonsplatz eigentlich die SS-Ehrenwache vor der Feldherrnhalle zum Gedenken an den Hitlerputsch von 1927 mit nach oben gestoßenen rechten Arm und einem zackigen “Heil Hitler” hätte grüßen müssen,
° machte er lieber, wie so mancher nazi-kritischer Münchner den Umweg durch die Viscardi-Gasse hinter der Feldherrnhalle, welche die Einheimischen deshalb “Drückeberger-Gässchen” nannten.

Denn er verabscheute diesen “Anstreicher” aus Braunau. Was ihn seltamerweise nicht hinderte, meine Nazi-Vater (in jenen braunen Tagen) als Schwiegersohn zu schätzen – und als Major und Regiments-Kommandeur der Deutschen Wehrmacht in der besetzten Ukraine zu tun, was sein oberster Kriegsherr ihm dort zu tun befahl (wovon ich zum Glück keinerlei Ahnung habe – aber mir so manches denken kann und muss).

“-eil -itle” – oder “Heilt Hitler”?

Er war nicht zu heilen, dieser Fürst der Finsternis – ach was: “Fürst”. Er war ein –

Forget it!

Schade um jede Minute, die ich an ihn verschwende, der Sehnsucht manches Kabarettisten zum Trotz. Liebe heile ich mein Inneres Kind von diesen Antisemiten, indem ich ihnen die Worte eines jüdischen Arztes und Psychologen entgegenhalte, der empfahl: “Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten”.

Es geht vor allem um das Durcharbeiten. Um das Aufarbeiten. Und dann um das Loslassen.

Quelle
Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (1914). In: Ges. Werke Bd. X.

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Trommler in den Tag

Das fing schon früh an – die Lust am Bearbeiten eines Schlagzeugs – oder eben einer kleinen Trommel, wie man sie einem Kind gibt. Ein Schlagzeug hatte ich auch einmal – als Student – angeregt durch einen Studienkollegen und Freund in der Münchner Jazzer-Szene: Dieter Henneberg von der legendären Riverboat Seven. Aber wie bei der Gitarre fehlt mir der richtige Antrieb zum fleißigen Üben – und nur so ein wenig Herumdilletieren macht keinen richtigen Spaß. Rasch verkaufte ich die “Schießbude” (wie die Jazzer das gerne nennen) weiter.

Kein Oskar Matzerath´scher Blechtrommler – aber einer, der schon als Dreijähriger gerne mit der Hitlerjugend marschiert wäre (Archiv JvS – Rehau 1943


Hinter der Hitlerjugend hermarschieren – das wär´s gewesen

Ich muss so drei Jahre alt gewesen sein (also ungefähr so alt wie oben auf dem Foto), als an unserem Haus vorbei die Hitlerjugend marschierte, ein Spielmannszug vorneweg musizierend. Ich nichts wie runter auf die Straße und hinterher – bis vor zum Lichtspieltheater (wo man mich aber nicht reinließ – schade – ich wäre so gerne mit den Pimpfen ins Kino gegangen).
Damals muss irgendwie der Trommel-Impuls in mich reingefahren sein. Oder war es doch schon das ADHS, das mich zum Zappelphilipp machte und für den das Trommeln mit den Fingern eine große Erleichterung = Triebabfuhr war und immer noch ist (mein Vater hat auch alle Welt mit seiner “nervösen Trommelei” genervt, wie meine Mutter das abschätzig bezeichnete – später meine Frau Ruth bei mir).

Auch das Tippen auf der Schreibmaschine muss aus dieser “Trommel-Ecke” rühren – heute auf der Tastatur meines Computers, die gar nicht hart und laut genug sein kann – Triebabfuhr für Zappelphilipps ADHS. Vielleicht bin ich deshalb zum “Schreiber” geworden – als Nachfahre der Hitlerjugend auf dem Weg ins Rehauer Kino?

Indische Tabla-Brillianz

Später lernte ich einen indischen Tablaspieler kennen, der in München studierte: Shankar Chatterjee; der schenkte mir zwei seiner Handtrommeln (Tablas genannt). Mit seinem Kollegen Sunil Banerjee (ein virtuoser Sitarspieler und vom Brotberuf Ingenieur) trat er oft in München bei Konzerten der deutsch-indischen Gesellschaft auf (wo ich eine Zeitlang Mitglied war). Zweimal gaben die beiden ein Hauskonzert bei uns in der großen Altbauwohnung in der Seestraße (1982-2011). Das eine war zur Einweihung der Wohnung – das andere zu einem speziellen Anlass – wahrscheinlich 1990 zu meinem 50. Geburtstag.
Bei meiner Indienreise 1975/76 schloss ich mich einer großen Gruppe in München lebender Inder an (was damals einen Preisnachlass für die Flugtickets ermöglichte), zu denen auch Shankar und Sunil gehörten. Auf diese Weise ereignete sich wieder einer dieser sagenhaften Zufälle meines Lebens:

Während ich (mit zwei anderen Münchnern) erst einmal Delhi erkundete, flogen die Inder weiter in ihre Heimatorte und ich verlor sie aus den Augen. Später nützte ich dann ein 14-Tage-Ticket für eine Rundreise mit dem Flugzeug. Eine Station war Kalkutta. Indien ist ja nun wirklich kein kleines überschaubares Land, wo man sich immer wieder über den Weg läuft, wie in manchen griechischen oder Schweizer (oder auch deutschen) Tourismus-Zentren. Aber in Kalkutta aus dem eben besuchten Indischen Nationalmuseum zu treten – und genau dort Shankar Chatterjee zu treffen, der gerade vorbeiläuft, um Besorgungen zu machen – das ist schon unglaublich!
Auf diese Weise bekam ich, von ihm eingeladen, die wunderbaren Gelegenheit, ihn zuhause in einem Vorort kennenzulernen – so richtig unter Einheimischen und er in einer völlig andern Rolle als Sohn einer großen Familie.

Shankar Lal (Chatterjee) mit Tablas und Sunil Kumar (Banerjee) an der Sitar (München 09. Ok 1982 – Archiv JvS)

Doch zurück zum eigenen Trommeln. Congas – das wäre es gewesen! Ich kaufte mir auch einmal ein gebrauchtes Paar. Immer wieder habe ich darauf geübt. Aber als ich endlich richtig Unterricht nehmen wollte (beim legendären Erich Ferstl), klappte es nie mit dem Termin. Und das eine Mal, als ich mich im Olympia-Park zu einem Conga-Kurs der Volkshochschule anmeldete – wurde das wieder nichts, weil der Depp von Lehrer sich so verspätete (ohne sich zu entschuldigen), dass ich seiner Künstlerallüren überdrüssig frustriert von dannen zog.

Aber irgendwie muss das viele Fingertrommeln und das Hören unzähliger Jazz-Platten und indischer Ragas mit ihren furiosen Tabla-Soli und das viele Tanzen von Boogie-Woogie und Jitterbug – und vielleicht eine gewisse musikalische Begabung – doch etwas in mir geschaffen habe, was sich als Conga-Solisten glänzen ließ. Das ergab sich einfach so während des Abschlussabends bei einer Generalversammlung des “Workshop Instituts of Living Learning (WILL)”, bei dem ich die Ausbildung zum Leiter von Gruppen mit “Themenzentrierter Interaktion” (TZI)” machte – die methodische Basis meiner Schreib-Seminare. Die Band, die den bunten Abend musikalisch belebte, machte gerade Pause. Einige Tänzer, darunter auch ich und Ruth, standen etwas gelangweilt auf der Tanzfläche herum, als es mich buchstäblich in den Finger zu jucken begann; Da standen diese Congas – also nichts wie ran. Keine Ahnung, was mir den Mut verschaffte (wahrscheinlich war es der Wein), mich an die großen Trommeln zu stellen und herumtastend darauf zu klopfen, plötzlich einen Rhythmus spürend, der nicht vom Kopf kam, sondern vom Körper, und wie von einer magischen Kraft geführt war ich ihm Flow und trommelte doch so gekonnt, dass die Tänzer sich dem anvertrauten und sich für zwei, drei Soli meiner “Musik” anvertrauten. So etwas was ist wir nie zuvor gelungen und nie wieder danach.

(Ich muss das “nie” ein wenig relativieren – es stimmt nur für die Trommelei mit den Congas. Aber etwas ähnliches habe ich ein andermal mit einem anderen Instrument erlebt, ebenfalls bei einer WILL-Veranstaltung. Es war dunkel im Saal – Thema “Nächtlicher Dschungel” – sehr beliebt bei WILL – als mich wieder so eine geradezu magische Kraft zum Klavier bugsierte, wo ich dann zweihändig (!) Boogie-Woogie spielte – und zwar so gut, dass man sich am anderen Morgen anerkennend darüber äußerte – ohne zu wissen, dass ich das war – im Dunkeln. Boogie-Woogie – das ist vor allem Rhythmus, mit der linken, der Bass-Hand. Ich hatte als Kind drei Jahre Klavierunterricht – bis ich den genervt abbrach, weil der Lehrer, der Kantor Peter (was man sich alles merkt!) ein so unfreundlicher und pädagogisch völlig unterbelichteter Mensch war. Außerdem hatte ich ja unzählige Jazz- und Blues- und Boogie-Platten gehört, im Münchner Jazzkeller* an der Türkenstraße mir unzählige Nächte bei phantastischer Live-Musik (die Four Duke! Mal Sondock am Saxophon!) um die Ohren geschlagen und in entsprechenden Konzerte im Deutschen Museum mitgefiebert (sensationell am Schlagzeug Elvin Jones mit dem John Coltrane Quartett – oder Lionel Hampton*, der regelrecht in Ekstase auf seine Trommeln sprang, wenn er nicht gerade am Vibraphon brillierte und sang: “Hey! Ba-ba-re-bop”!”


* Nach einem Hampton-Konzert 1961 war ich so angetörnt und von Endorphinen durchpulst, dass ich mich am Stachus, wo ich auf die mitternächtlichen Trambahn meiner “Linie 8” zur Barer-/Theresienstraße wartete, plötzlich irgendwohin setzte und eine Geschichte zu notieren begann. Sie wurde später das erste Kapitel des Ketten-Romans Das unlöschbare Feuer, den ich reihum mit einigen Freunden aus der SF-Szene schrieb, abschloss und sogar als Leihbuch veröffentlichte – Danke, Lionel!

Aus meinen Conga-Erlebnissen ist die Kurzgeschichte → “Conga Joe” entstanden , die ich gerne bei Lesungen vorgetragen habe, vor allem wenn die passende Musik dabei war, wie am 02. Mai 2005 in Weiden bei “Jazz und Poesie” (mit Alfred Hertrichs Trio).

Jazz und Poesie in Weiden am 02. Mai 2005 – v.l.n.r. ? Bauer (Posaune), Wilfried Lichtenberg (Bass), Alfred Hertrich (Gitarre) und JvS (Mikro) CAMERA

Die Geschichte geht weiter

Ob es Papas Wunsch war – oder ob Gregor selbst gerne die Tabla schlug: Hier sitzt er jedenfalls 1972, gerade mal ein Jahr alt und erst seit kurzem zum Sitzen fähig, in der Wohnung in der Gerstäckerstraße (München, Grenzkolonie Trudering) und vergnügt sich. Heute spielt er lieber Cello – aber sein Sohn Nico hat endlich den Dreh und die Begeisterung und vor allem das Durchhaltevermögen gefunden und lernt richtig Schlagzeug. Eine Geschichte über drei Generationen also- und wenn ich die “nervöse Trommelei” meines Vaters als Ur-Ereignis dazunehme, sogar über vier Generationen:

Gregor, gerade mal ein Jahr alt – und gibt schon den Ton an und den Rhythmus vor (Archiv JvS – 1972).

Quellen
Grass, Günter: Die Blechtrommel. Neuwied 1959 (Luchterhand).
Hampton, Lionel: “Hey! Ba-ba-re-bop”. Auf LP HAMP’S BOOGIE WOOGIE (1942-1949).
Scheidt, Jürgen vom: “Conga Joe”. In: JvS: Blues für Fagott und zersägte Jungfrau. München 2005 (Allitera)
Upton, Munro R. (Sammelpseudonym von Jesco von Puttkamer, Jürgen vom Scheidt und fünf anderen SF-Fans): Das unlöschbare Feuer. Balve 1962 (Bewin Verlag).


Kettenroman von JvS, Jesco von Puttkamer etc – ausgelöst von einem Konzert mit Lionel Hampton) (1962 – Bewin-Verlag)