Frisch in die Welt geworfen

Was man beim Stöbern im Familienarchiv so alles entdeckt: Das folgende Foto zeigt mich mit Mutter und Vater. Was ist daran so Besonderes – dass man es in einem Blog der Welt präsentieren muss?
Solche Fotos gibt es doch von jedem Kind!

J-ein. Aus zweierlei Gründen:
° Dieses Bild wurde kurz nach meiner Geburt am 07. Februar 1940 aufgenommen. Da befand sich Deutschland seit einem halben Jahr (01. September Überfall auf Polen) in einem Krieg, in den bald so ziemlich alle Ländern der übrigen Welt hineingezogen wurden – daher die Bezeichnung Zweiter Weltkrieg (der Erste Weltkrieg war dagegen ein relativ lokaler Konflikt). Da kam nicht jeder Neugeborene in den Genuss eines Fototermins.
° Wäre ich kein Bub gewesen (und damit der „Stammhalter“, wie das im Erbgut-besessenen Dritten Reich und in wohl jeder patriarchalen Gesellschaft hieß), sondern „nur“ ein Mädchen, dann hätte mein Vater kaum Heimaturlaub bekommen. Der befand sich nämlich gerade im Auftrag eines Psychopathen namens A. H. und seiner Mörderbande irgendwo im Krieg in Europa.

Diese Karriere meines Vaters als „Angehöriger der deutschen Wehrmacht“ habe ich in seinem Nachlass gefunden (s. unten). Zusammen mit den kargen anderen Informationen über seine Zeit vor dem Krieg (Kennenlernen meiner Eltern 1936 in Riezlern) und nach dem Krieg (erste Arbeitsmöglichkeiten irgendwo in Deutschland) kann man auch mit viel Phantasie nur ahnen, in welche Welt ich da hineingeboren wurde – und wie es meiner jungen Mutter zumute gewesen sein mag, deren Mann als Soldat ständig in Lebensgefahr war (und deren Bruder Karl und sogar ihr Vater ja ebenfalls „im Krieg“ waren) – und welcher der Krieg durch die zunehmend heftiger Bombardierungen auch von Leipzig immer näher ans eigene Leben rückte und an das ihres ersten Kindes?
Und wie mag sich das wohl auf diesen neugeborenen Säugling ausgewirkt haben?

Friedliche Idylle am 07. Feb 1940 in Leipzig: Vater , Mutter, Kind (von r. n. l..) – man beachte die Uniform (Archiv JvS)

Schon die Uniform, die mein Vater auf diesem so friedlichen Bild trägt, deutet etwas ganz anderes an: Da ist jemand für einige Tage von mörderischem Kampfgetümmel in die Heimat zurückgekehrt. Es lohnt sich, diese gar nicht „heile“ Welt aus seiner Sicht, in nüchternem Stenogrammstil anzudeuten: Da marschierte jemand durch halb Europa – ich will gar nicht wissen, was er dabei alles erlebt und erlitten – und anderen an Leid zugefügt hat. Darüber wurde nie gesprochen, von wenigen Andeutungen abgesehen.

(Helmut vom Scheidt) Kurzfassung meines Lebenslaufes seit 1936

Weihnachten u. Sylvester 1936 in Riezlern/Walsertal.
Briefwechsel mit meiner Frau 01.-31.03 v. 02.04.1937-27.06.1938
Hochzeit: 02.07.1938. Hochzeitsreise v. 02.07. – Ende Juli 1938 nach Westerland-Kopenhagen-Bremerhaven. Hier Besichtigung der Dampfer „Bremen” u. „Columbus“ (meine Weltreise 1929).
Wohnung in Leipzig-Gohlis, Wangerooger Weg 6a.

August 1938: 14-tägige Einberufung zur Le.Flakabt.73 in Leipzig-Schönau.
Sept./Okt. 1938 = 7 Wochen Sudetenland. (Entlassung: 22.10.1938)
01. September 1939) Beginn des 2. Weltkrieges.

1. Urlaub anl. Jürgens Geburt (07.02.1940).
Frühjahr 1940: Holland – Belgien – Frankreich – Rumänien – Bulgarien – Griechenland* – Kreta** (bis – 1944) –Wien – Berlin – Einsatz in Holland mit der 2. Fallschirmjägerdivision, die neu zus.gestellt, in Oldenburg?
(Abstecher nach Leipzig, Weinbesorgung, über Quedlinburg zurück zum Einsatz in Holland). Gefangenschaft im Ruhrkessel. Mönchengladbach als Dolmetscher bei den Amis mit Josef (Sepp) Wirth.

Rehau Rückkehr im Juli 1945.

* Details, die oben fehlen und von mir (JvS) ergänzt wurden (rot markierter Bereich = Kriegseinsätze):
1940 in Holland ertrank Vater beinahe, als er in einem Bombentrichter sprang, um bei einem Angriff Deckung zu suchen.
1943 wurde in Heraklion/Kreta bei der Explosion eines bombardierten Munitionsschiffes ein etwa drei Meter langes Teil des Schiffsrumpfes über dem Bett meines Vaters in die Wand von dessen Zimmer geschleudert – wo er zum Glück nicht anwesend war.
1944 nachts bei Athen schwerer Anfall: Wegen Verdunkelung keine Beleuchtung des LKW, auf dem Vater u.a. Soldaten saßen – Zusammenstoß mit unbeleuchtetem Güterzug – Vater war einer der wenigen Überlebenden, wurde auf ein Feld geschleudert, zunächst Verdacht auch „gebrochenes Rückgrat“ mit Todesrisiko – zum Glück nur starke Prellungen.
** Als Feldwebel Sprachenlehrer Englisch und Französisch für die Kompanie (s. unten Foto).

Was machen Soldaten, wenn sie nicht Krieg führen? Sie bilden sich weiter: Mein Vater als Lehrer für Französisch und Englisch Kreta 1942 (Archiv JvS)

Und nun noch ein Stück Kriegsrealität: Mein Vater am Steuerknüppel eines Flugzeugs. Das nächste Bild ist jedoch nur ein „Souvenir“ (Selfie, würde man heute sagen). Er war zwar bei den Fallschirmjägern (das waren alle auf Kreta stationierten deutschen Soldaten mehr oder minder, weil die Insel von Fallschirmjägern erobert worden war). Er war aber kein Pilot. Seine wichtigste Aufgabe bei diesem Heimaturlaubsflug, von dem er später nicht ohne Stolz und Augenzwinkern („eine Kriegsfahrt, die ist lustig…“) erzählte, war es, einige Kanister mit wertvollem Olivenöl zu schmuggeln (was streng verboten war).
Davon diente ein Kanister der Bestechung des Bodenpersonals in Heraklion, einen bekam sicher die Besatzung des Flugzeugs und einen weiteren das Bodenpersonal am Leipziger Flughafen oder wo auch immer die Maschine in Deutschland niederging. Ein oder zwei Kanister gelangten schließlich bis nach Rehau, wo die dort in der Bahnhofstraße 15 wohnenden Familien sich über diese Mangelware sehr gefreut haben werden.

Selfie aus dem Jahr 1943: Gut, wenn man einige Kanister Olivenöl dabei hat. (Archiv JvS)

Mein Vater und das Schreiben

Ich werde das andernorts näher ausführen. Jedenfalls hat mein Vater mir nicht nur die ersten englischen Vokabeln beigebracht (1947 auf Sylt), sondern mich auch 1954 zum Führen eines Tagebuchs angeregt. Er selbst schrieb ebenfalls Tagebuch – das ging aber während des Kriegs verloren; viele Briefe aus dieser Zeit sind jedoch erhalten. Die Tagebücher seines Großvaters (ab 1886) Ferdinand Naumann schätzte er sehr – er vererbte sie an mich.
Meine Vater ist also u.a. auch Initiator meines Schreibens, wenn man so will (was nicht ganz so konfliktfrei verlief, wie es hier steht.)

MultiChronalia
1936-1939 (Vorkriegszeit) 1940-1945 (Krieg) – 1946 (Nachkriegszeit)
1992 etwa: Vater Helmut vom Scheidt* notiert seine Lebensdaten.
2021 – erinnernde Gegenwart: ich recherchiere und schreibe diesen Blog-Eintrag.

* 01.03.1907 in Hagen, gest. 27.01.1995 in Marthashofen bei Fürstenfeldbruck im Pflegeheim – 88 Jahre

MultiChronie oder Mehrzeitlichkeit

MultiChronie – das ist mein* neuer Begriff (lateinisch schlau: Neologismus) für ein Phänomen, das jeder Mensch kennt – und selten jemand sich in seiner großen Bedeutung für das menschliche Leben bewusst macht: Dass wir eigentlich immer in – mindestens – zwei Zeitebenen leben und handeln. Beispiel:

Ich habe eben mit jemandem telefoniert und schreibe mir nach Beendigung des Gesprächs kurz den Inhalt auf, um ihn nicht zu vergessen. Die beiden Zeitebenen hierbei:
° In der Gegenwart (Beispiel: Jetzt um 19:07 Uhr) notiere ich mir den Inhalt des Telefonats
° das ich fünf Minuten zuvor geführt habe (von 18:55 bis 19:02 Uhr).

* Wenn man den Begriff „MultiChronie“ googelt, findet man magere zehn Einträge – das ist sehr selten. Aber immerhin, der Begriff existiert im Internet. Es ist damit jedoch etwas anderes gemeint als wie ich den Terminus verstehe. Und es fehlt das – für mich – charakteristische Binnenversalie – das große „C“, gewissermaßen mein Markenzeichen (oder meine Marotte, wie man auch sagen könnte).

Auch dieser Begriff hat bei mir eine – gewissermaßen multichrone – Geschichte: Ursprünglich (erstmals 1992) nannte ich das Phänomen der Gleichzeitigkeit, das mir irgendwann einmal aufgefallen war, MultiChronie (die Binnenversalie war von Anfang an dabei, um auf das doch etwas Exotische des Begriffs hinzuweisen). Irgendwann merkte ich dann, dass das sprachlich nicht korrekt ist: „multi“ ist ein lateinischer Begriff – „chronos“ ein griechischer. Also ersetzte ich brav das „multi“ durch ein mir korrekter erscheinendes griechisches „poly“ (was ja ebenfalls „viel“ heißt).
Doch als ich heute diesen Beitrag schrieb, kehrte ich reumütig zum „MultiChronie“ zurück. Den dreifachen Grund dafür erläutere ich unten, am Schluss dieses Beitrags.


Am Anfang war Musik?

Und so könnte man graphisch sichtbar machen, was gemeint ist: Mehrere, manchmal sogar viele Schickten (von Zeitlichkeit) übereinander – und beim Betrachten „von außen“, gewissermaßen, gleichzeitig präsent. Es passt, dass ich diese Zeichnung ursprünglich „Am Anfang war Musik“ betitelt habe. Denn ist nicht Musik von eben solcher „Vielschichtigkeit in der Gleichzeitigkeit“ gekennzeichnet: Mehrere Instrumente spielen zur selben Zeit, zum Beispiel bei einer Jazz-Jamsession wie „Olé“ des John Coltrane Quartetts, oder in einem Symphonieorchester bei der Aufführung von „Mahlers Siebter“. In der indischen Musik dominiert zwar die Sitar oder die Sheenai – aber der sich steigernde Rhythmus der Tablas und der stetig raunende basso continuo der Tamboura sind wichtige weitere „Stimmen“. (Die einsamen einzelnen Stimme irgendwo,. die ein Lied trällert, ist etwas ganz anderes.)

Vielleicht sieht es in den „neuronalen Netzen“ des Gehirns ähnlich aus? wer weiß.)

MultiChronie der Zeitschichten (JvS 12. Sep 1967: Wachsmalkreiden und Tusche: „Am Anfang war Musik“)

(Schöner Zufall, dass ich diese Zeichnung vor nunmehr 53 Jahren hingekritzelt habe, einfach so aus Lust am Malen, ohne mir viel dabei zu denken – zum Beispiel, dass mein ZukunftsSelbst sie am 21. Januar 2021 gut zur Illustration des Themas MultiChronie verwenden würde.)

Es sind auch drei und mehr Ebenen gleichzeitig möglich

Füge ich zu obigem Beispiel noch hinzu, dass ich mich beim Notieren des Telefonats daran erinnere, dass ich mit meiner Gesprächspartnerin vor einigen Jahren ein sehr schönes Erlebnis bei einem gemeinsamen Abendessen hatte – kommt bereits eine dritte Ebene ins Spiel.
Das kann man noch toppen durch eine weitere Ergänzung: Ich notiere mir, dass ich diese Frau gleich noch einmal anrufen sollte, um sie ins Theater einzuladen. Vor meinem geistigen Auge male ich mir sogar aus, wie dieser Abend verlaufen könnte – in der Zukunft.
Damit sind wir schon bei Zeitschicht fünf. In einem Roman mit vielen Rück- und Vorblenden kann dies dann leicht so ähnlich aussehen wie oben in der Graphik.

Beim Lesen eines Romans – oder beim Mitfiebern in einem spannenden Film – wechseln wir immer wieder die Zeitebene – durch Rückblenden, parallele Erzählstränge, Vorblenden (die das Ergebnis eines Vorgangs ausmalen). Ich vermute sogar, dass eine solche Vielzeitigkeit und entsprechende Vielschichtigkeit die gute Qualität eines literarischen Kunstwerks ausmacht. In der Musik ist dies scheinbar nicht möglich, weil ja Melodie und Rhythmus vorantreiben – aber bringt nicht jede Wiederholung eines Themas, eines Refrains, eine vorangehende Zeitebene ins Spiel – steht nicht Mehrstimmigkeit eines Orchesterstücks auch für „verschiedene Zeitebenen“, vor allem wenn verschiedene Tempi andere Akzente setzten?

Markenkern der Science-Fiction – und dieses Blogs

Solche Mehrzeitlichkeit ist gewissermaßen der „Markenkern“ der Science-Fiction: Jemand schreibt
° in der Gegenwart
° über Ereignisse der Zukunft
° die vielleicht mit Überlegungen über die Auswirklungen künftiger Ereignisse (Krieg? Klimawandel) auf noch spätere Generationen und somit Jahre) verknüpft werden.

Stanley Kubricks Verfilmung von Arthur C. Clarkes Roman ist ein weiteres anschauliches Beispiel: Clarke hat diesen Roman
° irgendwann in den 1940er Jahren als Idee phantasiert,
° 1948 die (später in den Roman integrierte) Kurzgeschichte über den Monolithen veröffentlicht (The Sentinel),
° 1950 eine weitere Story „Begegnung im Morgengrauen“ konzipiert plus einige weitere Kurzgeschichten, die er
1965? zu einem Roman zusammenfügte. Nach diesem konzipierte Kubrick zusammen mit CClarke Mitte der 60er Jahre das Drehbuch für den
° am 02. April 1968 erwtmals gezeigten Film.
° Diesen sah ich wohl gleich am ersten Tag (Ehrensache für einen SF-Freund!) in der deutschen Version, also dem 11. September 1968 im Arri-Kino in München.
° Dieser Tage (Januar 2021) habe ich mir die restaurierte Fassung auf Blu-ray gekauft und angeschaut. Und fand den Film wie damals ziemlich langfädig – aber doch auch irgendwie faszinierend wegen seines „vast scope„, also der gewaltigen Spannweite seiner Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit – und eben auch wegen der im Film in eindrucksvollen Szenen aneinandergereihten MultiChronie:
° Das beginnt in der Urzeit der Menschheit, in drei weit aus einander liegenden Etappen,
° springt in der berühmten Szene in die Zukunft das Jahres, das den Film seinen Titel gab: (2001): als ein hochgeworfener Knochen aus der Urzeit zu einem im Erdorbit anfliegenden Space Shuttle wird, das die Raumstation ansteuert.
° Kurz darauf landet der Protagonist Dr. Heywood Floyd auf dem Mond, wo man im Krater Clavius einen weiteren schwarzen Monolithen gefunden hat.
° Nächste Zeitschicht ist der Flug von Captain Bowman und seines Begleiters (der ein Opfer des „verrückt“ werdenden Computers HAL wird) zum Jupiter – wo man einen dritten Monolithen entdeckt, welcher
° einen weiteren Sprung noch später „Beyond the Infinite“ auf einer total fremden Welt initiiert – in einer spektakulären Reise (und Kamerafahrt) durch die psychedelischen Farbspektren eines Wurmlochs oder was immer das ist.
° Aber die Schlussszene machte eine gigantische zeitliche Volte rückwärts: Bowman mutiert zum alten Mann – der gleichzeig (multichron also) sich selbst (?) als neugeborenen Säugling erblickt.

Erst als ich diesen Beitrag formulierte, wurde mir klar: Genau das, diese MultiChronie, ist so etwas wie ein Charakteristikum das Blog. Es geht mir eigentlich immer darum, eigenes Erleben (Autobiographie) mit aktuellen Geschehnissen in einen weiter gefassten Zusammenhang zu bringen – nicht selten ausgelöst durch einen tagesaktuellen Artikel in der Zeitung oder eine Doko im Fernsehen – oder durch das Betrschten einer Blu-ray wie Das siebente Siegel, das mich mit der Pest des Mittelalters ebenso in Kontakt bringt wie mit der Seuche, die Albert Camus in Oran in seinem Roman Die Pest beschreibt – oder natürlich mit der aktuell wütenden Corona-Pandemie.


Autobiographisches: MultiChronalia

Eigenes Erleben (sicher von meiner langen Beschäftigung mit SF geprägt):
Obwohl ich mich heute schon mitten im Jahr 2021 befinde, „fühlt“ sich diese Gegenwart manchmal so seltsam an, als befinde sie sich weit weit vor mir in der Zukunft – irgendwie aus der Perspektive des Jugendlichen von 1957, der gerade in der Arbeit an seinem ersten utopischen Roman steckt, der in wirklich ferner Zukunft spielt: im Jahr 7.812.
Es gibt in diesem utopischen Abenteuer jedoch auch eine Rückblende, in der Ereignisse viele tausend Jahre zuvor berichtet werden: Der Untergang von Atlantis (vor angeblich 12.000 Jahren).

Damals, 1957, war jedenfalls das „Jahr 2000“ ein weit entfernter Zeitpunkt, der meine Phantasie sehr beschäftigt hat. Noch weiter darüber hinaus zu denken, zum Beispiel an ein Jahr mit den Ziffern 2021, war nicht vorstellbar. Dann schon wirklich weit weg ins Phantastische (und damit zugleich völlig Unverbindliche) – eben ins Jahr „7812“.

Anderes Beispiel: NN beschreibt das Zimmer, in dem er sich aktuell befindet – als plötzlich vor seinem geistigen Auge sein früheres Zimmer auftaucht, in dem er vor 30 Jahren als Student gewohnt hat.


Schreiben ist eigentlich immer multichron

Eigentlich schreiben wir immer multichron, also auf zwei Ebenen mindestens. Denn schreiben heißt immer: Sich schreibend erinnern. Unser Gedächtnis-Archiv ist vielfach gestaffelt in Zeitschichten angeordnet. Diese sind jedoch keineswegs in irgendwelchen Schubladen für sich aufbewahrt – sondern dynamisch miteinander vernetzt. Diese Vernetzung wird erzeugt durch bestimmte (gute oder schlechte) Gefühle oder durch eine bestimmte Atmosphäre (fröhlich hell, bedrohlich düster usw.). Das ist übrigens auch der Schlüssel, wie man bestimmte „vergessene“ Erinnerungen wieder zugänglich machen kann.


Drei Gründe für meine reumütige Rückkehr zum Begriff „MultiChronie'“

(21. Jan 2021) Ich nenne das jetzt doch wieder MultiChronie, und zwar aus drei Gründen:

1. Weil sich mir jedes Mal das „MultiChronie“ aufdrängt, wenn ich zu diesem Begriff etwas schreiben oder recherchieren will. Das ist wohl durch vielfache Verwendung tief in mir eingebrannt.

2. Mit dem – sprachlich eigentlich „falschen“ – Zusammenfügen eines Begriffsteils aus dem Lateinischen (multi) und dem Griechischen (chronos → Chronie) charakterisiere ich schon im Begriff die Paradoxie, dass da Elemente aus zwei verschiedenen und zeitlich weit auseinanderliegenden Kulturen (Zivilisationen) künstlich zusammengefügt werden – also auch zwei Zeitebenen. Die griechische Welt war zuerst da und hat die römische sehr beeinflusst, wurde dann aber von dem immer mächtiger werdenden Römischen Reich abgelöst.

3. Es erinnert mich wahrscheinlich vor allem an den Multitron – den von mir so phantasierten und benannten Energiespeicher in meinem Roman Sternvogel:

War es Absicht – oder war es eine ungewollte Handlung? Später wusste Dayen es nicht mehr zu sagen. Mit fünf raschen unüberlegten Griffen stellte er die Schaltung für ein neues Sprungfeld zusammen. Für eine unbekannte Greggnor-Schleuse, deren eines Portal noch im irdischen Erfahrungsbereich lag, durch deren zweites Portal jedoch noch nie ein Schiff ausgetreten war. Das Steuergehirn fand in seinen Gedächtnisbänken keinerlei äquivalenten Wert („Sind die Werte richtig, Pilot?“) und verwendete deshalb die angegebenen Zahlen, ohne sie durch irgendwelche zeitliche oder räumliche Koeffizienten zu verändern. Sofort baute es mit Unterstützung der Speicher und des Multitrons die erforderliche Energiesphäre auf.

Und noch etwas: Es zeigt sich inzwischen, dass die „MultiChronie“ so etwas wie ein dritter „Faden“ meines Blogs (und somit meines Denkens) wird: Nach dem „Roten Faden = Schreiben“ und dem „Blauen Faden = Science-Fiction“ nun also der gelbe Faden = „MultiChronie der Geschehnisse“.
Das drängt sich schon deshalb auf, weil MultiChronie wohl DAS Charakteristikum der Science-Fiction ist (also meines Blauen Fadens)!

Quellen
Clarke, Arthur C.: 2001 – A Space Odyssee. (London 1968 – nach Kurzgeschichten von 1948, 1950 etc.).
Kubrick, Stanley (Regie) 2001 – Odyssee im Weltraum (nach dem Roman und unter Mitarbeit am Drehbuch von Arthur C. Clarke). Great Britain 1968. Auf Blu-ray in der von Christopher Nolan restaurierten Neufassung von 2020.
Scheidt, Jürgen vom: Sternvogel. Minden 1962 (Bewin).

Nur so nebenbei und ganz am Schluss: So ein Quellennachweis ist doch auch ganz schön multichron: Er reicht in diesem Fall von 1948 (Clarkes erste Story) bis 2020 (Nolans Restaurierung des Kubrick-Films von 1968).

(Aktualisiert: 21. Jan 2021/23:00 Uhr / Posted: 15. Jan 2021)

„… und hatten die Pest an Bord“

Das sang man schon in den 30er Jahren:
„Wir lagen vor Madagaskar
Und hatten die Pest an Bord…“

Ich dachte immer, das wäre von Bert Brecht und sei Teil der Drei-Groschen-Oper. So kann man sich täuschen. Die Wikipedia meint: „Es wird dem Komponisten und Texter Just Scheu zugeschrieben; als Entstehungsjahr gilt 1934.“ Also auch nicht ganz sicher verortet.
Jedenfalls ist das ein Lied, das mir aus der Jugend vertraut ist – und das nun wieder hochgeblubbert ist aus Gedächtnis-Tiefen – warum wohl?

Ein anderes historisch-literarisches Beispiel: Dieser Tage* wird aus aktuellem Anlass gerne an den Roman Die Pest von Albert Camus (aus dem Jahr 1952) erinnert. Camus hatte bei besagter Pest-Epidemie in der algerischen Hafenstadt Oran keine eigenen Erlebnisse mit so einer bedrohlichen Epidemie im Sinn, verwendete wohl die medizinischen Aspekte der Krankheit eher als Metapher für die politische und gesellschaftliche Krankheit des Zweiten Weltkriegs. Aber das „Logbuch der Pest in Oran“ in Form der Aufzeichnungen des Arztes Rieux ist der rote Faden, der sich durch den Roman zieht. Er ist die Figur, in welche der Autor Camus hineinschlüpft.

* Ich schrieb das am 13. April 2020 in mein CAN-Tagebuch – in dem dann allerdings nicht viel mehr notiert wurde. Corona überflutete den Alltag auch in den Medien viel zu sehr, als das ich noch große Lust gehabt hätte, dazu meine eigenen Gedanken und Erfahrungen zu speichern. Ist aber eigentlich Unsinn: Jeder Mensch erlebt so etwas auf seine ganze eigene, nur in seinem privaten Kosmos registrierte und gespeicherte Weise. Wenn das gut aufbereitet wird – kann ein gutes Buch daraus werden. Oder das Kapitel eines Buches – oder vielleicht auch nur ein Absatz irgendwo da drin (was mir eher vorschwebt).

Der Klassiker aus dem Jahr 1952 (Düsseldorf 1960 – Rauch-Verlag)

Nur nebenbei: Sie haben wenig davon, wenn Sie Camus´ Roman lesen, um etwas Hilfreiches für Ihren Umgang mit dem Corona-Virus zu erfahren. Da taugt die tägliche Lektüre der Süddeutschen Zeitung als Lebenshilfe weit mehr.)

Weit eindrucksvoller ist in seiner karg-archaischen Wucht Ingmar Bergmanns Film Das siebente Siegel, obwohl sich das auf Ereignisse der Kreuzritterzeit bezieht, also Jahrhunderte zurück. Aber die Pest (oder andere Pandemien wie die Spanische Grippe) sind immer wieder sehr präsent, wenn es eine aktuelle Variante dieser Heimsuchungen gibt – so wie in unserer Gegenwart 2020/21 das Covid-19-Virus mit alle sein lieben Verwandten, die nun überall des Terrain „Menschheit“ erobern wollen.

Immer wieder gegenwärtig: Die Vergangenheit

Auch ein gutes Beispiel für das, was ich PolyChronie nenne: die gleichzeitige Präsenz von verschiedenen Zeitschichten wie der Gegenwart und den 1950er Jahren und dem Mittelalter mit seinen Kreuzzügen. Und der Krieg ist auch immer wieder präsent, das nur nebenbei: die Kreuzritter war ebenso in kriegerischer Mission unterwegs wie die französische Armee in der aufbegehrenden Kolonie Algerien. Fragt sich, was die größere „Pest“ ist – die virengemachte oder die menschengemachte. Manifestationen von kollektiver Aggression waren das allemal.

Der zeitlose Film zur aktellen „Pest“ – (Ingmar Bergman 1957)

Quellen
Camus, Albert: Die Pest. (1952). Düsseldorf 1960 (Karl Rauch Verlag).
Bergman, Ingmar (Regie): Schweden 1957. Blu-ray.

068 _ aut #916 _ 2021-01-21/13:18

~Rossini oder: Ich wollte einst auch zum Film

Nach langer Zeit habe ich mir mal wieder (auf DVD) diesen herrlich sarkastischen Film angeschaut, der sich delektiert am Vorgeplänkel zu einem neuen Möchtegern-Kino-Hit: Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schläft. Eine großartige Leistung von Regisseur Helmut Dietl und Drehbuchautor Patrick Süskind.
Hinterher kamen mir allerdings so manche eigene Erfahrungen wieder ins Bewusstsein, wie es „hinter der Kamera“ zugeht. Also nicht – wie im Film – die Welt der hochbegabten* und oft auch hochneurotischen Macher (Drehbuchautor, Regisseur, Produzent, Hauptdarsteller), sondern das „Fußvolk“, ohne das die Macher ganz schön aufgeschmissen wären.

… oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (Constantin Film 1996)

Als Student habe ich so meine eigenen Erfahrungen gesammelt: als Statist und als Regieassistent. Sicher habe ich damit geliebäugelt, auch tiefer in diese Welt einzusteigen. Zum Beispiel als Drehbuch-Autor. Aber mein erster und einziger Versuch in dieser Richtung scheiterte kläglich: Das Skript zu einer Dokumentation über den (nicht nur in Indien weit verbreiteten) Glauben an die „Wiedergeburt“ misslang mir. Es misslang nicht etwa, weil ich zu wenig Ahnung vom Thema hatte (eine Rundfunkreihe und das daraus entstandene Sachbuch zeigen zumindest, dass ich mich in die Materie eingearbeitet hatte). Doch ich hatte einfach keinerlei Ahnung, wie man so ein Drehbuch macht. Das ist nämlich weit komplexer als das Drehbuch für einen Comic ( → Comix sind gar nicht komisch) oder das Skript für eine Rundfunk-Sendung (womit ich bereits viel Erfahrung hatte).


Immer wieder kreuzen sich die Wege im Cineastischen

1994 heuerte mich Martin Thau von der „Drehbuch-Werkstatt“ der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München für ein Kreativitäts-Seminar an, das den Studenten helfen sollte, Blockaden beim Verfassen von Drehbüchern zu überwinden und ihren Kreativen Prozess in Gang zu bringen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich als einen der Studenten Daniel Speck kennen, mit dessen Lebensweg sich meiner immer wieder mal kreuzte, direkt oder indirekt;
° So führte ich für seine Mutter, die Pädagogik-Professorin Angelika Speck-Hamdan, 1995 ein Schreib-Seminar mit ihren Pädagogikstudenten an der Ludwig-Maximilians-Universität durch.
° Daniel selbst war einige Mal Teilnehmer an einer unserer Schreib-Werkstätten.
° 2003 ergab sich dann die Gelegenheit, seine Erfahrungen (als inzwischen arrivierter Drehbuchautor) mit meinen Erfahrungen zusammenzubringen und eine gemeinsame „Drehbuch-Werkstatt“ anzubieten. Bei der habe ich selbst viel gelernt – nicht zuletzt über das Konzept der Heldenreise (das an Filmhochschulen längst fester Bestandteil der Ausbildung ist und seitdem auch in meinen Seminaren).
° Inzwischen ist Daniel auch erfolgreicher Romanautor (Bella Germania wurde bereits verfilmt).
° Kurz vor neuerlichen Lockdown im November 2020 hatte ich die Freude, Daniel mit Joana Osman zu einem vergnüglichen Kaffeeklatsch zusammenzubringen und beider Neuerscheinungen zu feiern: Joanas Der Boden des Himmels und Daniels zweiten Roman Piccola Sicilia (sein drittes ist ab Ende März 2021 auch auf dem Buchmarkt: Jaffa Road).


Schuster, bleib bei…

Die Welt des Films hat mich also immer wieder auch von der „ausführenden“ Seite her angezogen, nicht erst, seit ich als Kino zum Film-Enthusiasten wurde – keineswegs nur für Science-Fiction-Spektakel.
Und kann es, last but not least, Schöneres geben – als wenn der eigene Sohn Filmregisseur wird? Maurus hat diesen Weg eingeschlagen – auf seiner Website erfährt man Näheres über seine beiden abendfüllenden Spielfilme Wie Licht schmeckt (nach einem Roman von Friedrich Ani) und Einer für alle – alles im Eimer, über seine Werbefilme und seine andere Variante der Arbeit mit der Kamera: das Fotografieren → Maurus vom Scheidt.

Ein Junge will in der Großstadt seinen 14. Geburtstag feiern – und trifft auf eine blinde 16jährige, die ihm zeigt, wo´s lang geht (Bayr. RF 2006)

Und so kann ich getrost bei meinem eigenen Leisten“ bleiben – nicht als Schuster (obwohl ich mich als Kind in Rehau beim Hartmann-Schuster gleich nebenan in der Werkstatt stundenlang herumgetrieben habe und viele Seiten Erinnerungen daran notieren könnte: wie das Schusterpech riecht, wie der Schusterzwirn sich anfasst und die Ahle, mit der man ihn ins Leder zieht, und wie das klingt, wenn der Schuh mit dem Hammer auf dem metallenen Leisten geschlagen wird – gibt es heute fast nicht mehr.)
Sondern als Schriftsteller für Romane und Sachbücher und Kurzgeschichten und für diesen Blog – und Leiter von Schreibseminaren.

Quellen
Dietl, Helmut (Regie): Rossini – oder: Die mörderische Frage, wer mit wem schlief. Deutschland 1997 (Constantin Film).
Osman, Joana: Am Boden des Himmels. Hamburg 2019 (Atlantik).
Scheidt, Jürgen vom: „Die Kette der Wiedergeburten“. München, Sep/Okt 1981 (6teilige Feature-Reihe für den Bayr. Rundfunk).
ders.: Wiedergeburt – Geheimnis der Jahrtausende. München 1982 (Heyne TB). Buchfassung der Funkreihe.
ders.: Wiedergeburt. TV-Treatment für TeleNorm. (München 1984-01-22)
Scheidt, Maurus vom (Regie): Wie Licht schmeckt. 2006.
ders. (Regie): Einer für alle, alles im Eimer. 2015.
ders.: Website Maurus vom Scheidt.
Speck, Daniel: Bella Germania. Frankfurt a.M. 2016 (S. Fischer).
ders.: Piccola Sicilia. Frankfurt a.M. 2018 (S. Fischer).
ders.: Jaffa Road. Frankfurt a.M. 2021 (S. Fischer).

067 _ aut #855 / 2021-01-20/20:55

Bizarre Zufälle – selbst erlebt

In der Neuausgabe meines Romans Männer gegen Raum und Zeit habe ich mir 2015 im Nachwort Gedanken über selbst erlebte Zufälle gemacht. Ich zitiere das hier, samt dem Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung. Ein kleiner Seitenblick auf ein Thema, das mich immer schon fasziniert hat und dessen Beispiele ich sammle wie ein Philatelist seine Briefmarken.

Eigentlich gehören die (sinnvoll erlebten) Zufälle ins Kapitel Religion. Denn sind es nicht letztlich solche wundersamen Ereignisse, die einen zum Grübeln über eine (göttliche) Kraft und Vorsehung bringen und zu Überzeugungen, wonach es „dort oben“ jemanden geben muss, der mein Schicksal lenkt – weil man dieses nicht erklären, sondern nur verblüfft zur Kenntnis nehmen kann?

Mein Innerer Skeptiker meint diesbezüglich allerdings, dass der Göttliche Schachspieler da viel zu tun hätte angesichts von mehr als sieben Milliarden Menschen – und zugleich immer mehrere (wie viele?) Züge vorausdenkend, damit am Schluss bei dieser Schachpartie des Lebens alles einen Sinn ergibt?
So ein Gott müsste ja nicht nur den Überblick über den Verlauf jedes einzelnen Lebens haben, sondern auch über dessen Nachwirkungen in den kommenden Jahrmilliarden bis zum Ende des Universums –

Schwer vorstellbar.

Wenn der Schachspieler allerdings nicht alle Partien spielt, sondern nur solche, die einige ausgewählte Leben betreffen, und alle anderen Partien einfach so zufällig sinnlos ablaufen?

Tja, da kommt man dann rasch ins Grübeln, was die Gerechtigkeit eines solchen Verfahrens angeht. Doch nun zu meinen Zufällen. Eine winzige Auswahl, in Zusammenhang mit Männer gegen Raum und Zeit.

„Man schreibt das Jahr 7218“

Mein Roman spielt weitgehend im Jahr 7218. Meine Firmenstammnummer beim Computerservice, der seit 40 Jahren meine Buchführung erfasst, war 8712. Und eben habe ich in meiner Bücherdatenbank die aktuelle Lektüre von Welt in Angst (State of Fear) von Michael Crichton eingetragen und dabei entdeckt, dass das andere Buch von Crichton, das ich besitze (Prey) – die Nummer 1782 trägt – auch dies ein zufälliger Zahlendreher von 7218. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten mag.

Am Anfang und am Ende der Heßstraße

Als ich den Roman 1957 schrieb, wohnte ich in München in der „Heßstraße Nr. 6“. Als ich das Nachwort verfasste (worin diese Gedanken zum Zufall stehen), wohnte ich – nach vielen anderen Wohnungen in der bayerischen Landeshauptstadt – am anderen Ende der Heßstraße, gleich um die Ecke von der „Nr. 100“.
Ein Kreis hat sich geschlossen. Zufall jedenfalls – denn die neue Wohnung habe ich ja nicht bewusst gesucht und gefunden. sie wurde – wirklich zufällig – frei und mir zugänglich, weil mein zweiter Sohn Maurus seine nicht mehr benötigte

„Raumschiff durch ein Labyrinth manövrieren“

Ich war mitten in der Redaktion der Neuausgabe meines Romans, als ich in einem Sachbuch über Gehirnforschung und verwandte Themen (Birbaumer 2014), das ich während eines Seminars in Österreich in meiner Freizeit in einem Rutsch durchlas, dieses Zitat entdeckte:

Wie schon bei der Behandlung hyperaktiver Kinder kann man das Neurofeedback zudem grafisch in Form eines Spiels gestalten, bei dem der Patient mit Hilfe seiner Hirnaktivitäten beispielsweise versuchen muss, ein Auto oder ein Raumschiff durch ein Labyrinth zu manövrieren. Auf diese Weise wird Neurofeedback nicht als Therapie, sondern wie ein Computerspiel erlebt. (S. 234, Hervorhebung durch mich, JvS)

Ob Birbaumer meinen Roman kannte? Wohl eher nicht. Reiner Zufall. Reiner Zufall auch, dass ich dies las, während (s. oben).

Eine naturwissenschaftliche Erklärung für Zufälle

Es gibt noch weit wichtigere Große Koinzidenzen (wie ich sie nenne): Zum Beispiel, dass der Erdenmond gerade so groß und so weit entfernt ist, dass er die Erdachse stabilisiert und für Jahreszeiten und Meeres-Tiden sorgt. Sonst gäbe es Windgeschwindigkeiten bis zu 400 Stundenkilometer und noch manches menschenfeindliche Ungemach mehr. Oder dass der Jupiter die Kometen einfängt, die sonst auf Terras Oberfläche donnern würden – weit häufiger, als das jetzt der Fall ist.

Nochmal um Größenordnungen unwahrscheinlicher ist die Justierung der Naturkonstanten, welche unser Universum bestimmt und so etwas wie „bewohnbare Welten“ überhaupt erst möglich macht (s. Anthropisches Prinzip). Für solche Zufälle, auch die persönlich erlebten, bietet sich eine ganz einfache naturwissenschaftliche Erklärung an, und zwar, soweit ich das erkennen kann, nur eine einzige: Die String-Theorie mit ihrer Möglichkeit paralleler Universen in einem Multiversum. Wo sich solche Universen, die extrem ähnlich sind, sehr nahekommen, könnten so etwas wie Sinn-Verdichtungsknoten entstehen (irgendwelche mysteriösen Felder), und da passiert dann ein Zufall.

Klingt nach Science-Fiction? Ist es auch. Aber wer weiß –

Oder hat jemand eine bessere Idee, die ohne einen Schachspieler-Gott auskommt?

Quellen
Birbaumer, Niels und Jörg Zittlau: Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst. Berlin 2014 (Ullstein).
Scheidt, Jürgen vom: Männer gegen Raum und Zeit. (Balwe 1958). Überarb. und ergänzte Neuaqusgabe
Frankfurt am Main 2015 (vss-Verlag Schladt), S. 283-285.

War meine Mutter eine Nazisse?

Bei meinem Vater bin ich mir da ganz sicher: Er war ein Nazi. Zumindest während des Dritten Reiches. Ein sehr „glühender Nazi“ sogar, der Hitler wie einen Messias verehrte. In der Autobiographie seines besten Freundes Eduard Biedermann(der diese 1972 etwa in Chile veröffentlichte) kann man nachlesen, was die jungen Männer damals empfanden. Die wollten – so wie später die 68er vom linken Rand des Spektrums her- den „Muff von tausend Jahren“ beiseite fegen, Kaiserreich und Offizierkaste und Junkerklüngel und überhaupt diesen ganzen alten Kram –
– nur um für „tausend Jahre“ ihr eigenes Reich zu errichten, in dem sie endlich das Sagen hatten. Und worin dann alles (!) unendlich viel schlimmer wurde als es im Kaiserreich in seiner hässlichsten Zeit jemals war, trotz seinem größenwahnsinnigen und eitlen Hochadel.

Aber meine Mutter?

Gut, sie war im „Bund deutscher Mädel (BdM)“ und genoss wie ihre Schwester Elisabeth die neuen Freiheiten, die die Nazis den jungen Mädchen und Frauen zugestanden. Elisabeth war über den BdM sogar bayerische Landessportmeisterin im Kurzstreckenlauf. In der Kaiserzeit hätte das „Hertels Mariechen“ sicher nicht nach Riezlern im Kleinwalsertal gehen und ihrer Schwester helfen können, diese Pension zu betreiben. Wo sie dann im Winter 1936/37 meinen Vater kennenlernte, der dort zum Schifahren urlaubte. So kam dieser Zufall zustande, dem ich meine Existenz verdanke – brave drei Jahre später.

Oh ja, die Nazis förderten die jungen Frauen – wenngleich mit der kaum verhohlenen Absicht, aus ihnen möglichst rasch kräftige Mütter von Soldaten zu machen, die man als Kanonenfutter überall hinschicken konnte – Sobald die Katze erst mal aus dem Sack und Hitler so richtig an der Macht war.

So richtig habe ich nie hinter dieses freundliche, liebevoll zugewandte Gesicht schauen können. Da war manchmal eine gewisse Kühle.

Aber meine Mutter (1914-1973) war auf jeden Fall „tüchtig“ – wie all die Frauen, die das damals sein mussten und den „Laden geschmissen“ haben, während ihre Männer irgendwo draußen in Europa mordend und plündernd und sengend umherzogen. Bis spätestens im Mai 1945 der Spuk vorbei war.

Und der kleine Junge, also ich – was mag der sich da wohl gedacht haben an der Hand von „Mutti“? Vielleicht hat er gerade gefragt: „Wann kommt denn der Papa heim?“ – „Der ist auf Kreta um kommt bald wieder zu uns-“ Oder so ähnlich. (1943 war das noch um einiges blauäugig hoffnungsvoll zu früh).

Nein, so ein begeisterter weiblicher Nazi war meine Mutter nie. Solche Begeisterung hätte zu ihrem eher zurückhaltenden Wesen gar nicht gepasst. Da war sie ganz anders als ihr Mann, mein Vater.

Doch davon ein andermal mehr.

065 _ aut #314 _ 2021-01-19/18:57

_Conga Joe (Story)

Keiner nahm Notiz von ihm, außer mir natürlich. Das hätte verwundern können, weil er dieses große Ding schleppte, lang, hell und rund. Kaum hatte er es vorne bei der kleinen Bühne abgestellt, holte er noch so eine Art Dreibein, an das er das Ding dranhing. Sah aus wie eine – wie nennt man die bloß? Congo oder Tonga?

Ich habe ihn ja zunächst auch völlig übersehen. Wer in „Tommy’s Kellerloch“geht, hat es außerdem längst verlernt, sich über irgend etwas zu wundern. Das sind irgendwie alles kaputte Typen, das sieht man doch sofort: wie die da an der Theke lehnen oder an den Zweiertischchen hocken. Meistens allein. Und meistens Männer. Geschäftsleute, Vertreter, Taxifahrer, Handwerker, Beamte. Wohl auch der eine oder andere Lehrer darunter, ein Arzt, ein Apotheker. Vielleicht auch der Polizist, der gerade seine Streife beendet hat.

Ähnlich kaputt die Frauen. Grüne Witwen, die ihre Kinder der Obhut eines geldgierigen Teenagers anvertraut haben, junggebliebene Omas, grell geschminkt, auf der Flucht vor Töchtern, die nach einem nicht geldgierigen Babysitter für verwöhnte Enkel suchen. Friseusen. Die Bedienung aus dem Café nebenan, die ihren freien Tag hat. Oder eine Aushilfsbriefträgerin, die keine Lust mehr hat und eben die restliche Post hinter ein Gebüsch warf …

Photo by Luisa Fernanda Bayona on Pexels.com

Nenne sie, und du wirst sie hier in „Tommy’s Kellerloch“finden. Irgendwann. Alle diese Singles, swinging oder nicht, freiwillig oder unfreiwillig, Krypto-Singles die meisten, wie das ein Schlaumeier von Psychologe einmal genannt hat, also Leute, die eigentlich verheiratet sind, Familie haben, aber im Grunde ihres Herzens Single geblieben sind. So wie ich.

Dann dazu noch die echten, natürlich. Die Singles, die Singles geblieben sind und es auch bleiben wollen. Auf der Suche nach dem „tapferen Schneiderlein“ oder der Prinzessin, der sie die verloren gegangene goldene Kugel vor die Füße legen können, um erlöst zu flüstern: „Hier bin ich, nimm mich.“

Habe ich gesagt: kaputte Typen allesamt? Ist doch Quatsch! Alles ganz normale Leute! Stinknormale Bürger wie ich und du! Alle auf der Suche nach der einen Wahrheit. Nach dem lichten Moment, der ihnen endlich zeigt, wo es lang geht im Leben. Na, ist das wirklich so kaputt? Wenn schon jemand kaputt ist hier unten, dann die vier Typen vorne auf dem kleinen Podium, vor der Tanzfläche, am Ende dieses düsteren Kneipenschlauchs.

Hab ich düster gesagt? Emily, die Kellnerin, stellt gerade Kerzen auf die Tischchen. Der nette Junge, ein Student der Ingenieurswissenschaften, würde ich tippen – also, wie der ihr seit Wochen nachläuft, wie er sie verehrt, anbetet, sie fast auffrißt mit seinen schmachtenden Augen, vor allem ihren süßen Hintern, und wie der ihre hochgeschnürten Knackbrüste verschlingt …

Naja, klingt ein bißchen kannibalisch, oder?

Sonst ist der Studiosus viel zu schüchtern und sucht nur ihr hübsches rosiges Gesicht mit dem bonbonfarbenen Schmollmund, während es meine kaputte Phantasie ist, die das andere sucht.

Okay, okay, ich gebe es zu. Ich bin der kaputte Typ hier unten. Ich. Wer sonst.

Rechtsanwalt, Sieger in vier von zehn Fällen. Mein Monatspensum. Manchmal auch in drei von zehn. Oder in zwei. Gerade genug, um mit Familie, also meiner holden Gattin und meiner verfressen-kotzenden Teenagertochter, weiter in der Bungalow-Hölle zu schmoren, in God´s own Grüne-Witwen-Paradise. Zu wenig, um keinen dieser dämlichen Prozesse mehr führen zu müssen. Zu viel, um nur noch einmal nebenbei zu sagen „Ich geh Zigaretten holen“ und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. In eine andere Stadt. In eine andere Kneipe. Und dort einer anderen Kellnerin gierig auf den Hintern starren und auf die – stop, immer hübsch höflich bleiben, auch als kaputter Typ.

Wen haben wir denn noch hier in „Tommy’s Kellerloch“? Ach ja! Die Musiker! Sagte ich ja, glaube ich, schon. Jeden Abend spielen sie die selben sechs Nummern, mit Klavier, Baß und Gitarre. Heute ist doch tatsächlich noch eine Schießbude dabei –

Du weißt nicht, was ’ne Schießbude is? Das is ’n Schlagzeug, du Nullchecker!

Also, der an den Trommeln, das muß Knut sein, der sich als Norweger ausgibt. Knut, ’n toller Name für’n Schlagzeuger …

Die Musiker spielen schmalztriefende Barmusik, bei der ihnen selber die Füße einschlafen. Am Abend, nach dem dritten Whisky, den der verzweifelte Tommy spendiert, wachen sie allmählich auf, legen einen Zacken zu. „Schu-bi-du-bi-du“, singt der Gitarrist, muß er auch, um nicht sanft zu entschlummern beim eigenen Schrummschrumm. Klingt gar nicht schlecht, mir wird so richtig weh ums Herz.

Der Pianist läßt bei ein paar Boogie-Phrasen ahnen, wozu er etliche Jahre zuvor noch fähig gewesen ist. Die tanzenden Paare fallen auseinander und kleben sich wieder zusammen, da ändert selbst der epileptische Anfall nichts, in dem der hagere Bassist gelegentlich sein Gerät malträtiert, sodaß man Angst um die brummenden Saiten kriegen muß. Also eigentlich auch keine kaputten Typen. Nur vom Leben und ihrem Job verbrauchte, ganz stinknormale Jungs.

Sackbahnhof. Hier enden die Geleise. Alles aussteigen. Kein Anschluß unter dieser Nummer. Wenn Tommy um eins das Licht ausdreht und droht, mich doch noch in den Hintern zu treten, wenn ich mich nicht endlich auf den Weg mache …

Aber was geht Sie das an?!

Hey, da kommt aber wirklich mal ein kaputter Typ rein! Oder isses derselbe wie vorhin?

Keiner nimmt Notiz von ihm, obwohl er dieses große Ding anschleppt – hab ich das nich schon mal gesagt? Für den und seinesgleichen hat also Tommy seine Kneipe „Kellerloch“genannt. Das ist wirklich einer, der sich verstecken muß vor der Welt und vermutlich sogar vor sich selber. Kann ja gar nicht anders sein. Schleppt der unterm Arm seine Einkäufe mit in die Kneipe. Sowas läßt man doch ein Stockwerk höher im Wagen liegen. Sowas schleppt man doch nicht die Treppe in diesen Keller runter.

Hey, Moment mal, was is’n das für’n komisches Ding? Schimmert wie helles Holz, vorne was dran wie bei ’ner Trommel. Ah ja, die Tonga oder Congo …

Jetzt wanzt der sich bei den Musikern ran, hängt auch das zweite Ding in dieses Dreibein. Der Pianist runzelt die Stirn, Freddy, der Bassist rückt, wie’s scheint sehr widerwillig, noch einen halben Meter auf die Seite. Nur Dan, der seine elektrische Gitarre nicht länger malträtiert, sondern sie versunken, fast liebevoll streichelt, was über die Verstärkeranlage hallt und richtig gruslig klingt, der nickt dem Fremden freundlich zu. Sein Lächeln gilt wohl nur der Tatsache, daß hier endlich mal ein neues Gesicht auftaucht.

Habe ich Gesicht gesagt? Der Mann muß mindestens siebzig sein oder älter, so tief haben sich die Spuren des Lebens in seine Haut eingegraben. Nicht einmal meine Großmutter, Gott hab sie selig, war so runzlig, als sie mit sechsundneunzig starb.

Ich kann das Gesicht des Fremden gut sehen, weil mein Tisch mit der Rotweinflasche nahe bei der Tanzfläche steht. Ich habe eine Vorliebe für verschwitzt riechende Mädchenkörper, die beim Tanzen ihr Parfüm verwehen. Macht mich fast rasend, dieser Geruch nach frischem Girlie-Schweiß.

Der neue kaputte Typ stellt jetzt also die beiden Dinger hin, Trommeln offenbar, so hoch wie mein Tisch. Nennt man die nicht Bongos? Oder Congas? Er klopft mit langen dürren Fingern drauf rum, wie um Maß zu nehmen. Lauscht dem Pianisten, der gerade einen himmeltraurigen Blues in die Tasten rührt, aber irgendwie aufmerksamer als bisher. Sogar Freddy mit dem dicken Bauch zupft ein wenig anders an seinem verkratzten Baß ’rum, und Knut huscht ein wenig hektischer als sonst mit seinem Jazzbesen über die Trommeln und die Hihat, das kriegt jetzt ja so richtig Pep, bilde ich mir ein. Die Gitarre vom Dan schweigt immer noch. Der kaputte Typ, der Neuzugang, leckt sich versonnen über die Lippen, peilt den Ultraviolett-Strahler an der Decke an, der einige seiner Zähne in der oberen Reihe als Jacketkronen entlarvt – und einer blitzt doch glatt wie Gold!

Kenn ich von meiner Frau, wenn die sich mal mit mir hierher zum Tanzen verirrt. Hey! Hab ich gerade meine Frau erwähnt, Wendy? Da kommt sie doch glatt zur Tür herein, mit ihrer Freundin Milly. Die beiden haben einen gezwitschert, das sehe ich doch sogar aus dieser Entfernung, an ihrem Gang. Ich seh’s an den wiegenden Hüften, so locker vom Hocker. Da kommen noch mehr Leute: zwei Pärchen, sie können gar nicht schnell genug auf die Tanzfläche stürzen.

Was macht dieser Typ mit den Congas? Ich muß was verpaßt haben. Wie lange klopft der schon auf seinen Dingern rum? Gar nicht übel. Der Blues ist längst zu Ende, der Pianist spielt was Schnelles. Einfach so, einen Boogie-Woogie. Als hätte er nie was anderes gespielt. Und sein Gesicht strömt so was Kohlrabenschwarzes aus, wie das von Meade Lux Lewis oder Pete Johnson, die in meiner Jugend die Tanzsäle verrückt gemacht haben. Es juckt richtig in den Füßen! Was die können, kann ich schon lange. Ich winke meiner Frau, und die kommt tatsächlich rüber, dieses verrückte, verschwitzte, nein, dieses verschmitzte Lächeln im Gesicht, mit dem sie mich damals eingefangen hat. Sie meint zwar immer, ich hätte damals ihr den Kopf verdreht beim Tanzen. Aber das stimmt nicht. Es war dieses Lächeln, ihr süßes Lächeln. Und dann natürlich ihr feiner animalischer Geruch, so nach dem dritten Tanz, vermengt mit dem Duft, den sie sich ganz dezent hinter die Ohrläppchen tupfte, nur für mich – hoffe ich.

Tatsächlich, sie kommt Schritt um Schritt näher, genau im Takt der Congas, halbes Tempo, damit sie nicht über die eigenen Füße stolpert. Sie will doch nicht mit mir … doch, sie will! Wir tanzen! Um mich herum dreht sich die Welt.

Immer mehr Leute stehen auf, die Singles finden sich zu Paaren, jeder Deckel findet seinen Topf, so sagt man doch. Sogar der bulldoggige Tommy hat seinen Wirte-Grimm irgendwo hinter der Theke abgelegt und wiegt den massigen Oberkörper im Rhythmus der Musik.

Der Boogie ist aus, wir haben ihn nur mit halbem Tempo getanzt, aber immer noch schnell genug – was in der alten Maschine alles noch drin steckt, die man so lieblos Körper nennt! Wendy schmiegt sich an mich, verträumt wie ein Teenager, der heute zum ersten Mal ausgeführt wird. Das kann ja heiter werden. Drüben der verkniffene Zahnarzt, den ich hier immer nur alleine saufen sehe, der hat doch weiß Gott mit sich selbst getanzt. Und jetzt macht er sich an Milly ran. Unglaublich!

Er sieht völlig gelöst aus, als hätte er eine schwierige Kiefersanierung beendet. Naja, ich bin bösartig, ich weiß.

Die Tanzfläche füllt sich mehr und mehr. Aber all diese kaputten Typen hier unten? Denen ist nicht über den Weg zu trauen.

Nur weil Conga-Joe – ich nenn ihn jetzt mal einfach so – seine Trommeln schlägt  … jetzt geht’s schon wieder los, irgendwas Afrikanisches, hört sich jedenfalls so an. Mir soll’s recht sein, die alte Maschine hat noch ungeahnte Reserven, da läßt sich noch manches Tänzchen auf’s Parkett legen …

Oh, schade, jetzt ist’s wohl aus. Der Fremde packt die Dinger unter den Arm und schleppt sie die Treppe hoch, eins nach dem andern. Tonga Conga. Bißchen müde ist er wohl auch, wie wir alle hier unten.

Hey – komm bald wieder, Conga-Joe!

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: „Conga Joe“. In:  In: JvS: Blues für Fagott und zersägte Jungfrau. München 2005 (Allitera).
PS: Ich habe immer mit der Einführung der „Neuen Deutschen Rechtschreibung“ gehadert, weil ich (und nicht nur ich) sie so überflüssig fand wie einen Kropf am Hals. Und weil man alle älteren Texte wie diesen hier auf Vordermann bringen muss – also diese „daß“ zum Beispiel, welche die Korrektur-Software als falsch moniert.
Diesmal hab ich es nicht geändert – weil es ein „Klassiker“ ist; für mich jedenfalls. Da fummelt man nicht im Nachhinein an der Rechtschreibung herum.

°Der Schnitt (Novelle)

Cand.med. Alexander Würgassen in Bedrängnis
Mit einem herzhaften Luftröhrenschnitt rettet der verliebte Assistenzarzt der Tochter des Klinik-Chefs das Leben.

(Eine triviale Schmonzette., könnte man sagen – aber vielleicht auch mehr? Jedenfalls ein Schreib-Experiment, um nachzuspüren, was in Lore-Romanen und anderen Sparten der „seichten Unterhaltungsliteratur“ abgeht. Wobei ich der kühnen Meinung bin: „Gute Literatur ist das, was den Lesern gut tut – und damit auch dem Autor.“
Darüber kann man streiten – darf aber gerne so zitiert werden.
Leider kann ich hier nur den Anfang der Geschichte präsentieren – sie ist zu lang. Vielleicht gibt es die komplette Erzählung demnächst als E-Book.)

Inhalt:
Ein entsetzlicher Albtraum
„… dafür will ich einen Kuss, Herr Doktor!“
Das geheime Versteck im Klinikgarten
Rauschgift in der Alpen-Panoramaklinik?
Kokain-Halluzinationen
Ein leises Schwirren und Sausen
Finale im neuen OP
Leser träumen anders

Ich bin kein toller Zeichner – aber man sieht, worum es geht (Edding Marker 19. Jan 2021 _ Archiv JvS)

Ein entsetzlicher Albtraum

 „Welch ein Elend“, seufzte Würgassen, und es wäre für einen außenstehenden Beobachter schwer auszumachen gewesen, ob er sich damit meinte oder die fremde Frau, die da vor ihm im Bett lag. 
Aber da gab es keinen außenstehenden Beobachter. Nur ihn gab es, den Mann. Und sie, die Frau. 
Dass dies prophetische Worte sein sollten, ahnte noch nicht einmal er selber. 
Der junge, gutaussehende Assistenzarzt schlug die Bettdecke der Patientin vorsichtig zurück. Gesammelt betrachtete er einige Minuten den wohlgeformten Körper, dessen fieberheiße Konturen sich unter dem Nachthemd deutlich, überdeutlich abzeichneten. Sein prüfender Blick ruhte zunächst auf ihrem schweißnassen Gesicht, diesem Geschenk des Himmels für jeden Mann, der für Schönheit empfänglich war – und cand. med. Alexander Würgassen war dafür empfänglich, oh, wie er es war! 
Er schob das linke Lid zurück, leuchtete mit der winzigen Stablampe hinein. Erleichtert atmete er auf; noch pulste das Leben in ihr. Über die Stupsnase und das energische, selbst in der Fieberhölle noch trotzig vorgeschobene Kinn mit dem allerliebsten Grübchen genau in der Mitte, wanderte sein Blick weiter, den schlanken Schwanenhals hinab zu den beiden Schlüsselbeingruben, bis seine Augen die beiden wohlgeformten, selbst in der bewusstlosen Rückenlage noch deutlich sich aufwölbenden Brüste streichelten. 

Für Augenblicke kämpfte der männliche, sieggewohnte Verführer in ihm mit dem verantwortungsbewussten Arzt, der zu werden er im Begriffe stand. Der Arzt siegte, tief seufzend und mitfühlend am Leid der schönen unbekannten Kranken, legte Würgassen zwei Finger, Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten, unter die linke Brust, wo er mit einer gewissen Berechtigung das Herz der Schlafenden vermuten durfte. Wie er in einem der früheren Semester einmal zu seinem Erstaunen erfahren hatte, gab es einen gewissen Prozentsatz Menschen, weniger als einen von hundert, bei denen das Herz auf der anderen Seite schlug, eine erstaunliche Sonderleistung der Natur. 
Eingedenk dieser Tatsache, vor allem aber weil er links den Herzschlag nicht gleich fand, tastete er auch die vermutete Stelle unter der rechten Brust gleich mit ab. Nein, da war auch nichts. 
Irritiert tastete er zurück zur anderen Seite, wobei sein Blick unwillkürlich die beiden allerliebsten Brustwarzen der Frau berührte. Wie mochten die wohl aussehen, wie sich gar anfühlen, wenn sie erregt war. Aber tadelnd schüttelte der Arzt in ihm den Kopf und verscheuchte solche begehrlichen Gedanken. Stattdessen nahm er vorsichtig das linke Handgelenk der Kranken und versuchte, wenigstens den Puls zu tasten. 
Wenn er auch den nicht fand, war es höchste Eisenbahn, dass er die Kollegen von der Anästhesie alarmierte. 
Aber nein, da war der Puls, kaum fühlbar, aber er war da. Automatisch zählte er, während er den Sekundenzeiger seiner altmodischen Armbanduhr beobachtete, ein Geschenk seiner Verlobten. Noch ein letzter Blick auf den schönen Körper, der einen endlosen Moment an dem dunklen Dreieck unterhalb der Leibesmitte hängen blieb. 
In diesem Augenblick entrang sich dem Mund der Fremden ein tiefer Seufzer, Atem füllte ihren Brustkorb, der sich weitete, und sie schlug die Augen auf. Noch nie in seinem 25jährigen Leben hatte Alexander Würgassen in solche leuchtend blauen Augen geschaut. Sie waren von einer abgründigen Tiefe wie zwei Ozeane – Aber mit dem Ausdruck dieser Augen stimmte etwas nicht! 

Würgassen merkte es sofort, während seine Hände rasch, und etwas schuldbewusst die Bettdecke behutsam zurückschlugen. Da war kein Bewusstsein in diesen Augen, die durch ihn hindurchschauten, als sei er Luft. Es sah aus, als blicke sie in die Unendlichkeit. Was sie dort wahrnahm, musste Teil eines entsetzlichen Albtraums sein, denn sie schrie laut, aber kaum verständlich einen Satz, der klang wie „Nein, bitte nicht!“; dann warf sie ihren Kopf ein paar Mal wild hin und her, dass ihre langen blonden Haare ihr Gesicht und das Kopfkissen peitschten, um sich endlich zusammenzukrümmen und einzurollen wie ein Neugeborenes in der Kälte seines ersten Tages. 

Ob er nicht doch besser die Kollegen rief? Aber noch immer zögerte Würgassen. Er war erst seit einigen Tagen in der Privatklinik von Prof. Meyer-Nebbich und wollte nicht gleich durch Unerfahrenheit auffallen. Er ging zur Vorderseite des fahrbaren Bettes, wo der Krankenbericht mit der Fieberkurve hing. Die letzten Messwerte hingen bedenklich nahe der  40-Grad-Grenze. Es reizte ihn, das Fieberthermometer rektal einzuführen und den neuesten Wert festzustellen; aber er wollte nicht der Nachtschwester ins Handwerk pfuschen, einem hübschen Karbolmäuschen, mit dem er es sich besser nicht schon in der ersten Nacht verdarb. 
Der Name der Patientin bestand, höchst ungewöhnlich, nur aus einem Kürzel mit zwei Großbuchstaben: L. B.
Würgassen konnte damit nichts anfangen, obwohl die ungewöhnliche Abkürzung ihn an irgendetwas sehr Vertrautes erinnerte. Wahrscheinlich war es eine der prominenten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, für deren diskrete Behandlung die Privatklinik von Meyer-Nebbich bekannt war. 
Aber der alte Geizkragen, der im Geld schwimmen musste, bezahlte seine Assistenzärzte genauso mies wie die staatlichen und städtischen Krankenhäuser, erinnerte sich Würgassen beim Hinausgehen verärgert. Selbst diese verdammten Nachtwachen besserten trotz der unmenschlichen Schinderei seine kargen Bezüge nur wenig auf, sodass er seiner frühzeitig gealterten Mutter und den acht Geschwistern zuhause auf dem Bauernhof längst nicht das ersetzen konnte, was mit dem tragisch frühen Tod des Vaters weggefallen war. 

Hatte er „verdammte Nachtwache“ gedacht? Würgassen schaute noch einmal hinüber zu der Bewusstlosen. Nein, wer immer sie war – so einem schönen Geschöpf das Leiden zu lindern, das war keine Verdammnis, ganz im Gegenteil. Aber wer war sie? 
Vielleicht wusste Leni, die Nachtschwester, was diese ominösen Initialen L. B. bedeuteten? Doch egal, er hatte schon einen Namen für sie: Dornröschen würde er sie von nun an nennen, nur für sich. Es war wie ein Geheimnis, das er hinter der nun verschlossenen Tür ließ und zugleich auch in seinem Herzen mit sich nahm. Leni, die in Stationsbad Bettschüsseln und Irrigatoren säuberte, strahlte ihn an, als er durch die Tür mit der Mattglasscheibe trat: „L. B.?“ sagte sie, „in welchem Zimmer?“ Aber ehe er die Nummer antworten konnte, lachte sie schon hell auf und sagte vergnügt: „Das ist die -“ 

Aber sie sprach nicht zu Ende, machte stattdessen ein betont ernstes Gesicht und sagte mit leiser, verschwörerischer Stimme: „Ich darf’s eigentlich nicht sagen, ich weiß es eigentlich auch gar nicht, es ist nämlich ein streng gehütetes Geheimnis. Wenn es mir nicht meine Freundin gestern verraten hätte, die in der Registratur vom Professor arbeitet -“ 
Sie unterbrach sich, stellte die Bettflasche zurück, die sie gerade gereinigt hatte, trocknete ihr Hände ab und stellte sich ganz nahe vor ihn hin, höchstens einen Meter entfernt, so dass er ihren Körper deutlich riechen konnte, eine interessante Mischung aus Arbeitsschweiß, Eau de Toilette (wahrscheinlich sowas wie Dschungel oder Bartuse de Fior) und etwas undefinierbar Drittes und zutiefst Weibliches. 

„… dafür will ich einen Kuß, Herr Doktor!“ 

 Würgassen ahnte, was dieser Geruch ihm verhieß und in welche Falle er da laufen würde. Aber zum einen war er neugierig, das Geheimnis der schönen Unbekannten zu entschlüsseln, zum anderen spürte er noch deutlich die Erregung, in welche ihr Anblick ihn, unter aller ärztlich-kühlen Zurückhaltung versetzt hatte. Und hier stand vor ihm die knackige Leni, ihren vibrierenden willigen Körper nur zu eindeutig ihm entgegengereckt. Naja, dachte er, diese Nachtwachen sind oft eine verdammt langweilige Angelegenheit und Kostverächter bin ich auch keiner, schon gar nicht, wenn das junge Gemüse so viele schöne Vitamine verspricht. Rasch noch ein Blick zur Anzeigetafel mit den Zimmernummern; aber da flackerte kein roter Notschrei, der ihnen das zärtliche Aneinanderreiben versalzen würde. 
„Also“, sagte er heiser, wobei er gleichzeitig das Locken in ihren braunen Augen genoss und die Locken ihres kurgeschnittenen Haars, galt es doch ihm und seiner Männlichkeit, „wer ist L. B.?“ Und was ist der Preis für des Rätsels Lösung?“ Es galt, die Spielregeln einzuhalten und nicht allzu plump aufs Ziel loszusteuern. Der Weg ist das Ziel – hatte das nicht ein chinesischer Philosoph gesagt? 
Und worauf traf das mehr zu als auf die Liebe – naja, wenn ich sehe, wie sich’s unter deiner Schwesternbluse spannt, dann würde ich eher an Sex denken, nein: an Erotik. 

„Es ist Liana Buttani, die berühmte Wagner-Sängerin“, kam es von ihrem dezent bemalten Mund (mehr Farbe hatte der alte Griesgram Meyer-Nebbich nicht durchgehen lassen, auch nachts nicht, da schon gar nicht). „Und dafür will ich einen Kuss, Herr Doktor!“
Noch hab‘ ich den Titel nicht, wollte er erwidern. Aber er unterließ es, zog sie stattdessen rasch an sich und öffnete ihren Mund mit seiner Zunge, das heißt, er wollte das tun, aber ihre Lippen waren längst aufgegangen wie eine Blume in der Morgensonne und ebenso selbstverständlich hatten sich die Lider über ihren Augen geschlossen. Welch eine Genießerin, dachte er anerkennend. Dann suchten seine Finger auf ihrem Rücken die Öffnung des Kittels, öffneten Knöpfe, tasteten nach der Schließe des BH, den alle Schwestern tragen mussten, auch dies eine Vorschrift des Klinik-Chefs. 

Leni machte sich für einen Moment der Schicklichkeit ganz steif, drängte sich aber gleichzeitig noch enger an ihn. Ihr Mund riß sich kurz los. „Möchten Sie – möchtest du nicht wissen, was der Buttani fehlt?“ 

(Forts. folgt – irgendwann.)

061 _ aut #312 _ 2021-01-19/14:22

Triage? Das bestimme ich!

Selbst mit Impfung (der ich zustimme) gibt es keine Garantie, dass man eine Infizierung mit Covid-19 unbeschadet übersteht. Deshalb bestimme ich in meiner Patienten-Verfügung, dass ich keine künstliche Beatmung und Ernährung haben möchte, wenn dies nötig sein sollte.
Ich will auch keinen „lebensrettenden Luftröhrenschnitt“.

Das soll dem behandelnden Arzt die Entscheidung (Triage*) erleichtern, wenn die Betten auf den Intensivstationen knapp werden – und das werden sie, weil es so viele rücksichtslose Idioten gibt („Querdenker“ nennen sie sich – obwohl das einmal ein Ehrentitel für originelle und kreative Menschen war), die sich entgegen den sinnvollen Empfehlungen und Vorschriften der Mediziner und der Politiker verhalten – oder sich einer Impfung verweigern.

* Triage – das wird abgeleitet von der Notwendigkeit, im Kampfgetümmel eines Krieges rasch eine medizinische Entscheidung zu treffen. Das Wort wird zwar abgeleitet von französisch triage für Auswahl, Sortieren, Sichten‘ zum Verb trier (sortieren, aussuchen) – aber man kann auch von „tri“ = „drei“ ableiten – nämlich in welchen dieser drei Bereiche man Verwundete einliefert: leicht verletzt (rasch wieder kampfbereit) – schwer verletzt (aber mit Aussicht auf Heilung) – ohne Aussicht auf Genesung, also dem Tod geweiht und deshalb nicht weiter zu versorgen, von Schmerzlinderung abgesehen.
Die Triage ist höchst aktuell, wenn es während der Pandemie zu viele Schwerkranke gibt und nicht genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen. Auf alle Fälle der Horror schlechthin für alle Beteiligten.

Speziell den Impfgegnern empfehle ich – nein, ich fordere von Ihnen: Tragt in eure Patientenverfügung ein, dass ihr keine „künstliche Beatmung“ wollt!

Letzteres kann man wohl kaum in Form eines Gesetzes fassen – aber man kann es aus allgemein menschlichen Gründen verlangen, entsprechend der volkstümlichen Abwandlung des Kant´schen Imperativs: „Was du nicht willst, dass man dir tu – das füg auch keinem andren zu.“

Ich bin achtzig Jahre alt und gehöre damit zur höchsten Risikostufe. Aber ich habe ein gutes Leben gelebt und bin damit zufrieden – kann also jederzeit abtreten (obwohl ich gerne noch einige wichtige Projekte abschließen möchte). Ich habe auch keinerlei Vorerkrankungen an Lunge, Herz und Leber, rauche nicht und konsumiere keinen Alkohol, bewege mich viel und bin dementsprechend gelassen.
Aber sollte ich infolge einer Infektion mit einer der Varianten des Corona-Virus (oder mit einer heute noch unbekannten Virusinfektionen, die noch viel schlimmer ist – das ist ja keine Science-Fiction) doch in eine lebensgefährliche Situation kommen, wo Intensivstation und künstliche Beatmung anstehen – dann möchte ich dies ausdrücklich nicht. Ich möchte stattdessen eine „erlösende Spritze“ (Überdosis Morphium oder ähnliches).


Perspektivenwechsel

Man kann das Problem aber auch von einer ironischen Seite aus betrachten. Ich bin kein toller Zeichner – für eine Karikatur langt es noch:

Cut! Der lebensrettende Luftröhrenschnitt? (Edding 3000 – JvS 19. Jan 2021)

Makabrer Zufall: 1987 schrieb ich eine Novelle über einen verliebten Assistenzarzt, der in einer ähnlichen Situation der Tochter des Klinikchefs das Leben rettet – mit einem beherzten Schnitt in die Luftröhre. Das ist mir gleich zwei separate Beiträge wert:
→ Atemnot und → Der Schnitt (Anfang der Novelle)

Nachgetreten
Schade, das es keine unentdeckten Kontinente (oder große Inseln) mehr auf unserem Planeten gibt – so wie dereinst Australien, das die Briten zur Sträflingskolonie für ihre missratenen Landsleute verwandelten. Die Antarktis ist denn nun doch zu unwirtlich, um dort all die Impfgegner, Corona-Leugner, Aluhut-Träger und Verschwörungs-Phantasten zu isolieren – und die Leugner des Klimawandels gleich noch dazu.
Auf den Mond schießen, buchstäblich – das wäre die Lösung. Ist aber derzeit technisch leider unmöglich. Vielleicht kann ein Science-Fiction-Autor daraus einen spannenden Plot für einen Zukunftsroman machen?

Nachgedacht
Als Psychologe ist mir natürlich bewusst, dass es so etwas wie „die Impfgegner“ und „die Verschwörungstheoretiker“ gar nicht gibt. Dass das keine amorphe Masse mit gleichen Un-Qualitäten ist – sondern dass das unzählige Individuen sind, von denen jedes seine / ihre ganz spezielle Persönlichkeit mit ganz speziellen Macken und Ängsten und Sorgen hat, die da jetzt an eine „Meinung“ drangehängt werden – in der Regel artikuliert von „Fahnenträgern“, die ihr ganz eigenes Süppchen kochen und – als Soziopathen – die anderen manipulieren.

Quellen
Mühlauer, Alexander: „City of Desaster“. In: SZ #11 vom 15. Jan 2021, S. 03 (Seite Drei).
Scheidt, Jürgen vom: Der Schnitt. CH-Bürchen August 1987 (Manuskript).

060 _ aut #411 _ 2021-01-19 / 02:08

Asanas und kontrollierter Atem: Yoga am morgen…

… vertreibt Spannung und Sorgen. Nach der Schreib-Session (MorgenNotizen) gleich nach dem Aufwachen und dem „Early Morning Tea“ die Matte ausrollen, die Augen schließen, konzentrieren, auf den Atem achten.
Und los geht´s. Erst einige Übungen im Stehen. Dann runter auf den Boden. Auf dem Bauch die Kobra. Anschließend Rückenlage. Schön geruhsam (entschleunigt!) durch Dehnen und Strecken möglichst viele Bereiche des Körpers durcharbeiten.

Mein allererster Yoga-Lehrer (ab 1972) schrieb ein auch heute noch sehr lesenswertes Buch (leider längst vergriffen: Die Kunst sich selbst zu verjüngen). Max Kirschner (1900-1991) hatte Landwirtschaft gelernt, war für eine holländische Firma Tabakpflanzer in Indonesien gewesen, während des Kriegs in Nordindien in einem Internierungslager gefangen (zusammen mit Heinrich Harrer, der den jungen Dalai Lama so beeindruckt hatte – die Welt ist klein).

Die Engländer (damals noch die „Herren“ Indiens) gaben ihm den Auftrag, in Simla eine Milchfarm mit tausend (!) Kühen zu managen. Das schaffte er auch – aber der Stress ließ ihn krank werden. Ein indischer Offizier zeigte ihm einige Yoga-Übungen, mit denen er sich zu seinem großen Staunen gut regenerieren konnte. Nach dem Krieg, aus Gefangenschaft entlassen und aus der Verantwortung für die Milchfarm, war er in Deutschland zunächst arbeitslos – wer brauchte da in München schon einen Tabakpflanzer oder Kuh-Manager!
Aber hatte er da in Indien nicht diese tolle Methode namens Yoga kennengelernt, die ihm selbst so gut geholfen hatte? Kreativ und chancensuchend wie er war, begann er, anderen Leuten „seinen Yoga“ zu zeigen. Daraus wurde dann sein neuer Beruf: Yoga-Lehrer. So habe ich ihn, schon ein rüstiger alter Mann mit 72, aber topfit, während eines Yoga-Kongresses kennengelernt, bei dem ich ein Vortrag hielt (es war wohl „Tiefenpsychologie und Yoga“ – s. Mangoldt 1971).

Mak Kirschners Yoga-Buch (Wiesbaden 1958 – agis-Verlag)

Zurück in München dachte ich, dieser Mann könnte die Lösung für meine Rückenprobleme sein. Und das war er auch. Etliche Jahre nahm ich Unterricht bei ihm (und später auch bei anderen Lehrern). 1975/76 kamen noch die Erfahrungen mit einigen Sitzungen bei indischen Yogis dazu (u.a. der persönliche spirituelle Führer von Indira Gandhi – ein narzisstischer Schönling und Blender – aber da wawar auch ein sehr eindrucksvoller Yogi im Ashram von Pondicherry, eigentlich der Gärtner des Ashrams – aber ein wirklich weiser alter Guru).

Aus alledem entstanden eigene Yoga-Kurse (u. a. für den Kreisjugendring München und die Sport-Hochschule der Universität). Es war immer schon meine Devise und Erfahrung, dass man über ein Gebiet am meisten lernt – indem man es unterrichtet (ein Minimum an Vorerfahrung vorausgesetzt). Es folgte nach der Indienreise mein eigenes Buch: Yoga für Europäer, dazu einige Beiträge in einem Reader (Mangoldt 1971).

Als ich später für den Bayrischen Rundfunk als freier Mitarbeiter immer neue Partner für Interviews suchte, war Max Kirschner einer meiner ersten Ansprechpartner – bei seiner Biographie!

Ergebnisse eigener Yoga-Erfahrungen und meiner Indienreise (München 1976 – Kindler)

Nicht nur Friede Freude Eierkuchen

Wenn man das hier so liest, kommt man vielleicht auf die Idee, dass Yoga die Super-duper-Lösung für alle Probleme ist. Von wegen! Ich habe mal eine Frau gekannt, die als Yogalehrerin viel praktische Erfahrung mit dieser Methode hatte; auch wie man diese Übungen für sich selbst einsetzen kann. Nur hatte sie eben zu viele ihrer Probleme „weggejogt„, statt die damit verbundenen Konflikte anzugehen und zu lösen. Eines Tages klappte das Verdrängen nicht mehr, sie bekam einen ungeheuren Wutanfall und musste sich in therapeutische Behandlung begeben. –

Der Yoga hat eine dreifache Wirkung
° Er beruhigt den Körper
° und ist zugleich ein gutes Diagnostikum für dessen Zustand.
° Und er entschleunigt das Gemüt.

Wenn ich dieser Tage am Morgen meine Asanas und mein Atemübung mache, weiß ich bei fast allen dieser rund 30 Übungen, von wem ich sie gelernt habe:
° Von einem Schweizer namens Walser die dreistufige (!) Atmung (Lungenspitzenatmung – mit den Fingerspitzen dabei die Schulterblätter berühren / Zwerchfellatmung – Hände an die Flanken legen / Bauchatmung – Hände in der Nabelgegend beim Solarplexus).
° Von Herrn Hildebrandt den Sonnengruß.
° Von Andrea „Marwa“ von Waldenfels u.a. eine tantrische Meditation (die ich hier nicht näher beschreiben will).
° Von Max Kirschner, last but not least, die Kobra, den Bogen, den Pflug und many many more – und vor allem eine wunderbare Tiefenentspannung zum Abschluss jeder Sitzung bzw. Liegung. Ich bin mir sicher, dass dies meine erste bewusste Erfahrung von Entschleunigung war. Danke, Max Kirschner!

Eine Asana, die man als Europäer keinesfalls üben sollte: Den Kopfstand. Der ähnliche Schulterstand ist völlig ausreichend als „Perspektivenwechsel“ und medizinisch okay (und auch viel leichter durchführbar). Wenn man (ich hatte einst das zweifelhafte Vergnügen) einen durchtrainierten Yogi wie B.K.S. Iyengar auf der Bühne vorturnen sieht, übersieht man bei dieser artistischen Vorführung nicht nur, dass der Mann den ganzen Tag nichts anderes macht – und dass er vor allem, wie die meisten Inder, eher zierlich und leichtgewichtig ist – verglichen mit uns doch etwas massiveren Europäern. Wenn einer wie er den Kopfstand macht, herrscht da längst nicht so ein höllischer Druck auf die Halswirbelsäule wie bei unsereinem.
Leider gilt der Kopfstand als die Yoga-Übung schlechthin, weil man da gewissermaßen „die Welt aus einer anderen Perspektive sieht“ – eben auf den Kopf gestellt. Bullshit! kann ich da nur sagen. Man sollte bei alle diesen Übungen immer darauf achten, dass sie einem gut tun. Ein wenig „stumpfer“ Schmerz bei einer ungewohnten Dehnübung ist völlig okay – stechenden Schmerz gilt es zu vermeiden – da stimmt dann etwas nicht.

Und ja: Yoga ist wirklich die „Kunst des Jungbleibens und des Selbstverjüngung“ – wahrscheinlich die einzige, die wirklich etwas taugt!

Quellen
Kirschner, Max: Die Kunst sich selbst zu verjüngen. Wiesbaden 1958 (agis).
ders (Interview: JvS): „Yoga für den westlichen Menschen“. München 03. Nov 1978 (Sendung im Nachtstudio des Bayr. Rundfunk).
ders (Interview: JvS): „Entwicklungshilfe praktisch betrachtet“. München 29. Juni 1979 (Sendung im Nachtstudio des Bayr. Rundfunk).
ders (Interview: JvS): „Kultur in der Krise“. München 05. Juni 1981 (Sendung im Nachtstudio des Bayr. -Rundfunk).
Mangoldt, Ursula von: Yoga heute. Weilheim 1971 (O.W. Barth).
Scheidt, Jürgen vom: „Tiefenpsychologie und Yoga“ – in: Mangoldt 1971.
ders.: „Rauschdrogen und Yoga“ -in: Mangoldt 1971.
ders.: Yoga für Europäer. München1976 (Kindler Paperback).