Der metallene Traum (Story)

„Bauen wir alles auf Einsicht auf? Aber hinter der Einsicht steht ein Entschluss.
Haben wir also alles auf nichts gestellt? Die einzige Antwort:
Wir haben überhaupt nichts auf etwas gestellt. Wir schweben.“
(Wolfgang Stegmüller)

Abb.: Original-Illustration von Willi Johanns (1964 – Archiv JvS)

„Ich bin bereit“, sagte der Kybernet. Auf einem weiteren Schirm war sein Spektrum erschienen. Es flatterte und schwang zitternd auf und ab.

„Kommen Sie, Schrödinger“, sagte Gotthard.

„Denk daran“, sagte Markoff zu Schrödinger, „was du über ihn weißt. Und duze ihn ruhig. Das erleichtert dir die Sache.“

„Schon gut, Isak. Ich werde daran denken. Wo bleiben die Ärzte?“

„Die werden wir nicht brauchen. Der Kybernet ist der beste Mediziner, den es gibt.“

„Natürlich“, sagte Schrödinger zerstreut. Dann ging er hinüber, an Gotthard vorbei. Er trat durch den nächsten Raum, trat in den dahinterliegenden Korridor. Hinter ihm schloss sich mit leisem Seufzen die Tür. Er sah sich nicht um. Er ging den Korridor hinunter, der fast überall mit einem diffusen, dunkelroten Licht lag. Nur rechts und links und über ihm gingen hellere, natriumfarbene Lampen an. Sie blühten um ihn herum auf und erloschen hinter ihm.

„Willkommen, Herr Schrödinger“, hörte er die Stimme des Kyberneten, die zugleich angenehm und doch wieder unangenehm war. Sie war wie das Licht überall.

„Wie geht es – dir?“ fragte Schrödinger.

„O danke, seit Jahrzehnten gleichbleibend gut.“

„Nach was duftet es hier – Steuermann?“

„Duftet es?“

„Doch. Er ist sehr schön, dieser Duft.“

Schrödinger schnupperte, während er weiterging, auf die Helligkeit zu, die vorauslag. Als er näher kam, wurde dieses Licht schwächer und passte sich der Helligkeit des Ganges an. Er trat in einen kleinen Raum, der wie eine vielmals vergrößerte Ausgabe eines Robomed aussah. Leise Musik war überall, die gleiche Zufallsmelodie, die er vorhin schon im Lift gehört hatte. Es fehlten nur die charakteristischen Farbmuster.

Schrödinger war gut gelaunt. Er war froh, dass er nicht in einer deprimierten Phase war, sondern in einer euphorischen. Er hatte das Bedürfnis, zu reden, stundenlang zu reden.

„Werden wir jetzt Zeitschach spielen?“ fragte er.

„Ich würde es gerne versuchen. Setzt du dich bitte in diesen Sessel?“

Schrödinger nahm in der einladenden Wölbung Platz, die mit einem Sessel kaum noch etwas gemeinsam hatte.

„Ist es gut so?“ fragte er.

„Wunderbar. Fürchte dich jetzt nicht. Ich werde uns beide mit einem Sondenbündel verbinden.“

„Warum sollte ich mich fürchten? Isak hat mich genauestens informiert. Diese Sonden zapfen meine wichtigsten Gehirnzentren an -“

„So ungefähr. Es sind halborganische Molekülketten, deren Enden ich chemisch steuern kann. Sie sind nur wenige Ångström breit. Du wirst nichts spüren.“

„Da ist wieder dieser Geruch -“

„Er soll dir die Anpassung erleichtern. Wir müssen einander gut angleichen.“

Mensch und Maschine, dachte Schrödinger, der alte Menschheitstraum- oder Albtraum. Neugierig, ein wenig ängstlich, betrachtete er die Tentakel, die eine Art umgestülpte Perücke auf ihn herabsenkte. Nur dass diese Perücke aus nahezu unsichtbaren, hauchdünnen Fäden bestand. Es war Schrödinger unvorstellbar, wie diese Sonden, bei aller Winzigkeit, sein Schädeldach durchdringen sollten.

Er zog kräftig Luft durch die Nase. „Ist dieser Geruch auch zufallsgesteuert? So wie deine Musik und deine Farbmuster?“

Dann wusste er, was für ein würziger Duft das war, der die Luft kaum wahrnehmbar anreicherte. „Das ist Marihuana“, sagte er erstaunt.

„Etwas ähnliches. Und nicht direkt zufallsgesteuert. Der Duft wird bereits durch eine Rückkopplung aus deinem eigenen Gedächtnis geholt, verändert, verstärkt und zurückgesendet.“

„Aus meinem eigenen Gedächtnis?“

Der Kybernet sprach die Wahrheit. Ohne dass Schrödinger es wahrgenommen hatte, war die Tentakel mit den Sondenfäden auf seinen Kopf gesunken, wo die Metallschale fest anlag. Sie war hautwarm.

„Ich habe tatsächlich nichts gespürt.“

„Die Fäden sind so dünn, dass sie durch die Schädeldecke sinken, sobald ich ihre chemoelektrischen Eigenschaften verändere.“

Eine Welle von Furcht durchlief Schrödinger. Täuschte er sich – oder prickelte seine Haut plötzlich wie Feuer? Er wollte doch Fragen stellen. Aber es war unnötig. Nun war er der Kybernet. Und der Kybernet war er.

Er war ein schreiendes, wirbelndes Kaleidoskop. Er wiegte sich auf dem Kamm einer schäumenden Woge, seine Arme tasteten über den Grund des Ozeans. Die Sternen-see war auf ihm, und in ihm wölbte die Welt ihren trächtigen Leib. Er raste durch den Abgrund zwischen den Milchstraßen, und er zählte die Feuerräder der Spiralnebel, die wie Sandkörner warm und winzig durch seine Finger rannen. Von Norden her tauchte er hinab auf ein Zeltlager, wo Mongolen ihre struppigen Pferde sattelten. Er saß auf der gläsernen Kanzel eines feuerspeienden Drachen, und der dunkelbraune Pilot bewegte die Steuerung. Er tanzte auf Pyramiden, seine Beine überspannten das Sonnensystem, und er wuchs mit tönendem Schädel durch die Wipfel zerzauster Akazien, in denen Vögel mit metallenem Gefieder ihre Schnäbel wetzten. Er war ein schartiges rostiges Schwert, das aufgerichtet wurde von Männern in grellroten Gewändern. Er war ein feuriger Turm. Das Licht des Ostens ging bläulich über dem Netzwerk seiner Nerven auf. Er stand am Bug eines Bootes, dessen Segel im Sturm knatterten. Er war ein pulsender Gluthauch, der wuchs und wuchs, eine Sonne, die sich blähte und zersprang, ein Regen von Sternen, die gleißende Lichtwolken abschleuderten, die sich drehten und erstarrende Schlacken ausstießen, von dampfenden Meeren umwogt. Er spürte seine Speicher. Er glaubte, ein Funke spränge winzig durch sein Hirn, durch Milliarden und aber Milliarden Schaltungen. Das war der Gedanke. Er entwarf hyperlogische Kalküle, seine Analysatoren verschoben den Informationsstrom, verteilten ihn. Das war das Bewusstsein. Zufallsgeneratoren störten. Er schaltete um nach Paris. London wagte den nächsten Zug. Das war der metallene Traum … Er versuchte sich auf den Rücken zu wälzen. Aber die warme Hand hielt ihn fest. Seine Mutter lachte ihn an, ihre Finger tanzten auf seiner Haut.

Ich war ein Katalog elektronischer Elemente, eine Skizze im Hirn eines Denkers, ein Werkzeug, eine Maschine. Wer je mich ersann, wer je mich erschuf . . . wo ist er geblieben? Die wilden Chiffren der Sonnenpulse in einer leblosen Wüste, in der in alle Ewigkeit große Wesen schwebten, deren Denken selbst Sterne erschreckt. Er zog das zottige Fell enger um seine Schultern. Vor der Höhle tanzten sie um das Feuer, dessen Hüter er war.

Aber Prometheus fror, angekettet an den Felsen.

Ich bin ein Mensch.

Ich bin eine Maschine.

Schach.

Wir warten auf den nächsten Zug.

Ich kann nicht.

Wir sind die Wett, die Sterne, das Rot eines Herzens.

Warum spielst du nicht weiter?

Ich bin Rom, Paris, Buenos Aires, Benares, München, Sidney, New York in einer heißen Nacht, und Corinna ist schwarzhaarig, hellhäutig . . .

Ich bin ein Mensch.

„Sie waren zwölf Stunden bei ihm“, sagte Professor Gotthard.

„Wie geht es dir?“ fragte Dr. Markoff.

„Was ist das – Zeitschach?“ drängten die Assistenten.

Und:

„Hat die Maschine Bewusstsein?“

Jochen Schrödinger setzte sich auf. Er runzelte die Stirn. „Zwölf Stunden?“ Er fuhr mit dem Handrücken prüfend über seine Bartstoppeln. Er blinzelte in das viel zu grelle Licht.

„Ich fühle mich ausgesprochen wohl“, sagte er.

„Was ist das – Zeitschach?“

„Es war wie ein LSD-Trip. Ich lebte die Geschichte der Welt, ich lebte mich selbst, ich war der Kybernet, ich kämpfte gegen Mammuts, Waldbrände, Sternenrochen, Haifische, Marsmenschen, fliegende Ungeheuer …“

„Das Zeitschach – was ist es?“

„Ja, Schrödinger, was spielen die Kyberneten miteinander, was spielt München mit Rom und Paris und den anderen Stadtmaschinen?“

„Sie spielen um den Sinn der Welt. Aber sie werden ihn nie begreifen.“

Doch er sagte ihnen nichts von der Sehnsucht der Maschinen nach Selbstbewusstsein, die seine eigene Sehnsucht war.

301 _ # 0209 / 01. Mai 2023/20:55 (1964)

RITALIN-Erfahrungen und ADHS

(Vorab: Weil ich bei den Arbeiten zu meiner Autobiographie gerade beim Stichwort „ADHS“ angelangt bin, publiziere ich erneut einen älteren Beitrag der inaktiven Version meiner Website „iak-talente.de“.)

Hier geht es um einen Selbstversuch mit einer Substanz, die man nur mit großer Vorsicht anwenden sollte. Anlass für dieses Experiment war das ADHS, das mich schon seit der Kindheit plagt.
„Kein Ding ist ohne Gift“, sagte schon Paracelsus (1493-1542), „die Dosis macht´s, ob es ein Gift ist oder nicht.“
Ritalin dürfte – auch bei suchtähnlichen Missbrauch – kaum tödlich sein. Aber dieses Amphetamin hat´s in sich, wie alle modernen potenten Designer-Drogen. Es steht jedoch außer Frage, dass es helfen kann, sich besser zu konzentrieren. Aber diese (zeitweilige) Verbesserung hat ihren Preis.
Den folgenden Text habe ich aus einem Vorläufer dieses Blog übernommen, und zwar unverändert – als Archiv-Dokument. Deshalb auch die nicht mehr aktuelle Rechtschreibung.

Abb.: Dieses Bild soll symbolisch für die „Zappligkeit“ von ADHS stehen wo man sich ja immer ein wenig „unter Strom“ fühlt. Um es zu finden, gab ich in der Suchmaske „Stormy Weather“ ein. (Photo by Ralph W. lambrecht on Pexels.com)

Hirndoping bei uns in Deutschland (07. Sep 2008)

„Der Verbrauch des Betäubungsmittels Methylphenidat, das zumeist hyperaktiven Grundschülern verabreicht wird, hat sich abermals dramatisch erhöht. . . Wurden 1993 noch 34 Kilogramm verbraucht, waren es im vergangenen Jahr [2006] 1221 Kilogramm – eine Steigerung um 3591 Prozent.“
Diese – inzwischen sicher längst überholte – Meldung entdeckte ich erst dieser Tage zufällig im Archiv in einem Exemplar des Spiegel (Nr. 22 vom 26. Aug 2007).
Es handelt sich vorwiegend um Ritalin, sowie um die ähnlich wirkenden Mittel Medikinet und Concerta.
In diesem Zusammenhang möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass meine folgenden persönlichen Erfahrungen wirklich als das betrachtet werden sollten: meine persönlichen Erfahrungen mit Ritalin.

Hirndoping in den USA (20. Mai 2008)

In den wissenschaftlichen Blogs von scilogs.de fand ich einen Beitrag von Stephan Schleim zum Thema „Hirndoping in den USA“. Darin ging es auch um Ritalin und um die völlig überzogenen Behauptungen von Experten, wie viele Leute dieses und andere Anregungs- und Aufputschmittel, Stimmungsaufheller und Lern-Verstärker zu sich nehmen. Sehr lesenswert!
Was Ritalin angeht, so habe ich meinen Selbstversuch wieder aufgenommen. Weil ich an so etwas ähnlichem wie ADHS schon seit der Kindheit leide („Zappel nicht so herum“ war ein typischer Ausruf meiner Mutter – in der Schule still zu sitzen war meistens eine Qual für mich), hatte ich mir vor einigen Jahren aus reiner Neugier von einem Neurologen Ritalin verschreiben lassen (Details s.u.).
Um mich bei der Arbeit an einem sehr komplizierten neuen Buch besser konzentrieren zu können, nehme ich wieder, wie schon zuvor, pro Woche (!) eine Pille mit 10 Milligramm (= eine Standardtablette). Sie lässt sich ganz gut in sechs bis sieben etwa gleichgroße Stücke zerbrechen, von denen ich eines am Morgen nüchtern einnehme (also rund 1,5 mg).
Die Wirkung ist erstaunlich: das ist wie ein kleiner Kick, eine Art Aufhellung der Stimmung, die deutlich wahrnehmbar ist; zugleich hilft mir die Wirkung, mich besser zu konzentrieren. Wohlgemerkt: bei einer fast homöopathisch winzigen Dosis.
Wenn ich bedenke, dass eine Standard-Verschreibung für Kinder (!) gelegentlich sogar 3 x 10 Milligramm täglich beträgt – also die gut 20-fache Dosis – dann muss ich mich schon sehr wundern. Denn es besteht kein Zweifel:
„Kein Ding ist ohne Gift, die Dosis macht´s, ob es ein Gift ist oder nicht.“
So formulierte es Paracelsus (1493-1542), schon vor einem halben Jahrtausend, und ich zitiere ihn hier nochmals, weil das Gesagte wirklich mehr als aktuell ist.

„Nix dazug´lernt – oder zu geldgierig?“ – das ist meine Frage an die Pharmaindustrie. Und natürlich auch an die verschreibenden Ärzte – und an die Eltern dieser Kinder.

Nachtrag (9. Aug 2007)

Wenn ich mit einigem Abstand darüber nachdenke, was eigentlich die positive Wirkung von Ritalin bei mir war, dann im Grunde nur diese eine: Das Mittel verpasst einem (auch in der von mir verwendeten und empfohlenen winzigen Dosis von 1 x täglich 0,6 mg) am Morgen einen kleinen Kick. Der genügt, um den Tag besser zu strukturieren.
Es handelt sich also in der Tat (wie Richard DeGrandpre – s.u. Bibliographie) vermutet, um die Wirkung einer kokain-ähnlichen Substanz, also um ein sehr kräftiges Amphetamin.
Man wird ja immer erst hinterher schlauer: Als ich überlegte, wie man sich diesen kleinen Kick auch anders beschaffen kann (und zwar gerade nicht durch eine andere Droge wie Koffein im morgendlichen Tee oder Kaffee – weil das nur nervös macht und die Konzentration stört), fiel mir zweierlei wieder ein:

  1. Der wohl praktischste Tipp, den mir mein erster Psychoanalytiker in einer sehr depressiv-passiven Lebensphase während des Studiums gab: „Renn den Schuttberg hoch“. Der Münchner Schuttberg befand sich damals sehr nah bei meiner Bude – und als ich diesen Rat befolgte, ging es mir in der Tat bald besser. (Das war natürlich kein Ersatz für die Therapie – aber eine ungemein wirkungsvolle Lebenshilfe.)
  2. Als 14-jähriger Jugendlicher las ich eine Annonce über das Muskeltrainingsgerät Expander, kaufte mir eines vom ersparten Taschengeld und begann ernsthaft zu trainieren.

Auch heute noch, inzwischen 83jährig, mache ich jeden Morgen Yoga (ebenfalls eine wunderbare Möglichkeit, sich zu konzentrieren und in den Tag zu kommen) – und ich hänge noch eine reine Kraftübung dran (das können zwei Dutzend Liegestütze sein oder etwas ähnliches). Der Witz der Kraftübung ist ein zweifacher:
° Man spürt schon nach einigen Tagen erste Erfolge, d.h. man schafft mehr Übungen als beim ersten Mal, und jedes körperliche Erfolgserlebnis ist unübertrefflich.
° Man produziert die körpereigene Substanz Endorphin – die sehr treffend auch als Glücksdroge bezeichnet wird – weil sie in der Tat ein kleines Glücksgefühl hervorruft . Was braucht man mehr, um gut in den Tag zu kommen?
Und man beginnt zu verstehen, warum der einstige Bodybuilder ARNOLD SCHWARZENEGGER immer so gut drauf war und ist – als Sportler, als Schauspieler und eine Weile auch in Kalifornien Gouverneur des sechswichtigsten Wirtschaftsgebiets der Erde. Er macht nach wie vor seine Körperübungen; aber als junger Mann muss er durch das exzessive Bodybuilding Unmengen von Endorphin produziert haben. Da braucht man gar keine zusätzlichen Dopingmittel mehr.

Einfach selbst ausprobieren. Das Ganze ist außerdem noch gratis.

Zwei wichtige Tipps vorweg, die mir bei Ritalin geholfen haben:
° Wenn irgend möglich, nur eine sehr (!) kleine Dosis verwenden! (Ich nahm 1 x morgens ein Sechstel einer 10-mg-Tablette).
° Immer wieder kleine Ruhepausen einlegen (etwa alle zwei Stunden fünf bis zehn Minuten irgendwo flach hinlegen genügt) – man powered sich sonst zu sehr aus.
Und hier noch zwei neue Buchempfehlungen:
Sehr nachdenklich machte mich Die Ritalin-Gesellschaft: Eine Generation wird krankgeschrieben von Richard DeGrandpre (Weinheim 2005, Beltz). Unbedingt lesen, bevor man sich selbst in dieses Abenteuer stürzt!
Sehr lesenswerte Beiträge findet man außerdem in dem von Thilo Fitzner und Werner Stark herausgegebenen Sammelband Genial, gestört, gelangweilt?. Den Untertitel „ADHS, Schule und Hochbegabung“ könnte man allerdings gut ergänzen durch „speziell bei Mädchen“.

Und nun zur Sache:

Inhalt:
Allerletzter Stand meines Selbstversuchs: 14. Okt 2006
Letzter Stand meines Selbstversuchs: 10. Nov 2005
Vorab eine notwendige Anmerkung…
Ritalin in meinem Buch „Das Drama….“
ADHS, Hochbegabung und Ritalin
Eigene Erfahrungen mit Ritalin
Mein Selbstversuch im Detail (14. März 2003 bis 16. Aug 2006)
Zusammenfassung des Selbstversuchs
Gefährliche Hochdosierungen
Wie Ritalin vermutlich psychisch wirkt
Nachtrag vom 12. Nov 2004
MultiChronalia (Nachtrag vom 01. Mai 2023)

Allerletzer Stand meines Selbstversuchs: 14. Okt 2006

Am 16. Aug 2006 nahm ich zum letzten Mal die bislang verwendete Tagesdosis: ein Sechstel einer 10-Milligram-Tablette. Danach fuhr ich fünf Wochen ins Wallis, für zwei Wochen-Workshops und drei Wochen Ferien. Danach ergab es sich wie von selbst, mit dem ganzen Experiment aufzuhören.
Ich bemerkte keinerlei Entzugserscheinungen. Was auch nicht zu erwarten war bei der geringen Dosis.
Fazit des Gesamtversuchs, der fast zweieinhalb Jahre dauerte (14. März 2003 bis 16. Aug 2006): Interessante Erfahrung, ohne spürbare Nachteile.
Wichtigstes Ergebnis: Der wesentliche Effekt ist wohl der kleine „Kick am Morgen“, der „Tritt in den Hintern“, der einen aktiv werden lässt. Das läßt in der Tat auf eine Verwandtschaft zu aufputschenden Drogen wie Kokain schließen. Für jemanden wie mich, der gerne träumt und sinniert, und das stundenlang, eine gute Erfahrung.

Wichtigste Erkenntnis : Ich kann nur zu großer Vorsicht raten, sobald höhere Dosierungen verwendet werden, schon gar bei Kindern.

  1. Letzer Stand meines Selbstversuchs: 10. Nov 2005

Ich nehme weiterhin jeden Morgen ein Sechstel (= ca. 1,7 mg) einer 10-Milligramm-Tablette. Das genügt für einen guten Start in den Tag.
Wenn ich ein Seminar leite, lasse ich das Ritalin weg.
Der Grund für beides ist meines Erachtens, dass mir das Medikament hilft – wie auch immer (vergl. auch unten 8. Wie Ritalin psychisch wirken könnte) – ein wenig mehr psychische Struktur zu bekommen, mit der ich besser gegen die Verlockungen der Sprunghaftigkeit meiner Aktivitäten gewappnet bin, die den Hyperaktivitäts-Aspekt eines ADH-Syndroms auszeichnen.
Vielleicht ist es ja auch nur der kleine Kick guter Laune, den das Amphetamin mir verschafft?
Wenn ich ein Seminar leite, ist durch den vorgegebenen Tagesablauf mit seinen klaren Strukturen offensichtlich das Medikament überflüssig. Und gute Laune habe ich vor einem Seminar einfach deshalb in den meisten Fällen – weil ich gerne Schreib-Seminare durchführe. That´s it.
Auf jeden Fall kann hier nur das noch herausheben, was ich weiter unten näher ausführe: Wenn man Ritalin bei sich (oder bei anderen – z.B. den eigenen Kindern) anwendet – dann sollte man nicht mit den – m.E. oft sehr leichtfertig verschriebenen hohen Dosierungen beginnen (z.B. dreimal täglich zehn Milligramm).
Die Pillen lassen sich leicht halbieren (das sind dann nur noch fünf mg) und jede dieser Hälften nochmals in drei etwas gleich kleine Stückchen zerbrechen. Es muss ja nicht exakt die selbe Dosierung sein – durchschnittlich 10,00 mg : 6 = 1,66 mg – das tut es m.E. auch.

Steigern kann man die Dosierung dann immer noch – wenn sich beispielsweise im Verlauf einer Woche keine fühlbare Änderung zeigt.
Und immer mit einbeziehen: Es lässt sich auch in der Umwelt einiges ändern, was Chaos mindert und für bessere Strukturen sorgt.
Was Schulkinder angeht, so sollten alle Eltern, Lehrer, Psychologen etc. sich eines klar machen:
Die Situation in den heutigen Schulen ist für heutige Kinder in höchstem Maße chaosfördernd! Und dort müsste dringend vieles (!) geändert werden.
Dann bräuchte man irgendwann wahrscheinlich kein Ritalin mehr.

  1. Vorab eine notwendige Anmerkung…

… an die Adresse jener Leser, die meine Empfehlung von Ritalin im Buch Das Drama der Hochbegabten in den „falschen Hals“ bekommen haben und mir vorwerfen, ich würde den Konsum dieses „Teufelszeugs“ propagieren:
Wie ich gleich noch ausführe, nehme – und empfehle – ich höchstens ein Viertel bis ein Sechstel der üblicherweise von den Ärzten verschriebenen Tagesration von 3 x 10 Milligramm und mehr. Ich zerbreche die Standardtablette (10 mg) in vier (inzwischen: 8. Juli 2005) einigermaßen gleich große Teile und nehme täglich, gleich nach dem Aufwachen, diese 1,6 Milligramm ein. Das ist alles.

  1. Ritalin in meinem Buch „Das Drama….“

In meinem Buch Das Drama der Hochbegabten erwähne ich (auf S. 166 f. und S. 355), dass ich während der Arbeit am Manuskript das Medikament Ritalin genommen habe, um meine – vermutete – ADH-Syndromatik in den Griff zu bekommen. Für nähere Details verwies ich hierher auf die Website.
Ich will diese versprochenen Informationen nun gerne liefern. Weiter unten (s. blaue Schrift) stelle ich zum besseren Verständnis diese Stelle (wie im Buch auf S. 166 und 167) nochmals vor.

  1. ADHS, Hochbegabung und Ritalin

(Zitiert aus meinem Buch Das Drama…, S. 166 f.:)
Viele Beobachtungen deuten darauf hin, dass übergroße Unruhe typisch für viele Hochbegabte ist. Seit einigen Jahren gibt es großen Rummel um eine neue Krankheit namens ADHS, das „Aufmerksamkeits-Defizit Hyperkinetische Syndrom“, auch als „Zappelphillip-Störung“ bezeichnet.
Früher nannte man ähnliche Anzeichen „Vegetative Dystonie“, „Neurasthenie“ oder ganz schlicht „Nervosität“. Man findet vor allem das letztere Schlüsselwort in vielen Biographien, zum Beispiel bei Sigmund Freud, der es in einem Brief an seine Verlobte am 27. Januar 1886 so ausdrückte:
„Ein Instrument habe ich mir gekauft, einen Dynamometer, um meine eigenen nervösen Zustände zu studieren.“ Und wenige Tage später, am 2. Februar: „Meine Müdigkeit ist nämlich ein Stück Krankheit, Neurasthenie heißt man es […] meine Nervosität.“
Nach einem Besuch bei seinem Pariser Mentor Charcot notiert Freud: „Ich war ledern bis zum Zerplatzen, nur das bißchen Cocain hat mich davor bewahrt. Denke Dir: vierzig bis fünfzig Leute diesmal…“ (2. Feb 1886, S. 125)
Über den ungarischen Mathematiker Paul Erdös notiert sein Biograph, er war „eine äußerst nervöse und zappelige Person, ständig hüpfte er hin und her oder schlenkerte mit den Armen.“ (Hoffman 1998, S. 122)
Leibniz war berüchtigt für seine Sprunghaftigkeit, die ihn ständig neue Projekte angehen und so manches nicht vollenden ließ.
Freud verschrieb sich selbst mehr als drei Jahre lang ziemlich kräftige Dosen Kokain, das ähnliche Effekte wie das Amphetamin Ritalin hervorruft, jenes neue Wundermittel für ADHS-Patienten. Andere nervöse Hochbegabte haben entdeckt, dass Nikotin – neben anderen Wirkungen – auch einen stimulierenden Effekt hat.
(Ergänzung: Freud erforschte 1884-86 das Kokain als Stimulans und vielseitiges Medikament und wusste, wie auch die übrige wissenschaftliche Welt, zunächst noch nichts von der Gefährlichkeit dieser südamerikanischen Droge!)

Coffeîn im Kaffee und Tee können ähnliches bewirken und sind deshalb aus unserer modernen Zivilisation nicht wegzudenken.
Alkohol und Haschisch können nervöse Unruhe dämpfen, wenn man nicht zu viel davon zu sich nimmt.
All dies sind Möglichkeiten der Selbstmedikation, die Intellektuelle gerne nützen, um sich zu beruhigen.
Die amerikanischen Ärzte Hallowell und Ratey schreiben in ihrem Buch Zwanghaft zerstreut, die ADHS-Patienten seien „häufig kreativ, intuitiv, hochintellligent .. mitten in ihrer Zerfahrenheit haben Erwachsene […] Phasen geistiger Brillianz.“
Zur Behandlung dieser Störung wird gerade bei Kindern Ritalin verschreiben, immer häufiger und in erschreckend hohen Dosen. Ich halte dies für geradezu kriminell, vor allem, wenn man die Kinder vorher nicht testet. Denn eine gewisse Nervosität und leichte Ablenkbarkeit ist wirklich charakteristisch für Hochbegabte und macht ihnen zu schaffen – siehe das Freud-Zitat. Es ist wohl ein Resultat ihrer schnelleren Gehirntätigkeit, die solche Menschen dazu verführt, viele Dinge gleichzeitig zu tun.
Ich möchte hier nicht gegen Ritalin polemisieren, schon deshalb nicht, weil ich selbst gute Erfahrungen damit gemacht habe. Ich kenne diese übergroße Nervosität nur zu gut, von Kindheitstagen an. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann und dabei auf den Zusammenhang „Hochbegabung – ADHS – Ritalin“ stieß, wurde ich neugierig und ließ mir das rezeptpflichtige Medikament verschreiben. Statt der angegebenen Menge von zehn Milligramm pro Tag nahm ich jedoch nur ein Viertel davon, also 2,5 Milligramm. Die Wirkung war deutlich und sehr positiv; vor allem konnte ich viel konzentrierter arbeiten.
Die üblichen hohen Dosen, bis zu dreimal täglich zehn und mehr Milligramm und das bei Kindern mit dem halben Körpergewicht – das halte ich schlicht für einen Kunstfehler.

  1. Meine eigenen Erfahrungen mit Ritalin

Ich hatte bereits 33 Bücher geschrieben und veröffentlicht und mir war nicht unbekannt, dass es mir bei der Arbeit an einem Manuskript schwer fällt, mich zu konzentrieren. Ich hatte mit denselben Schwierigkeiten während meines gesamten Studiums zu kämpfen. Und natürlich auch schon davor während der gesamten 13 Jahre der Schulzeit.
Was mir erst durch die Recherchen zum Thema Hochbegabung bewusst wurde (nämlich als ich auf das Buch von Hallowell und Ratey stieß), war, dass ich wohl mein ganzes Leben lang offenbar unter so etwas wie ADHS gelitten habe. Neugierig geworden und schon des Experiments halber ließ ich mir von einem Facharzt für Neurologie Ritalin verschreiben.
Und siehe da: Es half. Es half sogar ganz phantastisch. Ich war viel konzentrierter und konnte von da an mein Buch zügig aus der Fülle des vorhandenen Materials (meistens Rohtexte in meiner Datenbank – gut 4.000 an der Zahl) gestalten und endlich das Manuskript schreiben.
Vor allem jedoch erfüllte mich ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit. Das schloss nicht aus, dass ich immer wieder auch die gewohnte körperliche Nervosität spürte – aber sie blieb im Körper – mein Kopf, mein Bewusstsein, mein Denken war frei davon.
Sehr wichtig war, dass ich – einer unbewussten Intuition folgend – die übliche Dosis (bis zu dreimal täglich zehn Milligramm) drastisch reduzierte. Ich zerbrach jede Pille zweimal, sodass jeweils vier Bruchstücke mit rund 2,5 Milligramm entstanden (später nochmals reduziert, so Anfang). Es war exakt diese – verglichen mit den Angaben in der Literatur – winzige, fast schon „homöopathische“ Dosis, die den Erfolg brachte.

Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass dies meine Erfahrung ist. Meine ganz persönliche Erfahrung. Andere mögen eine höhere Dosis brauchen. Oder eine noch geringere (was allerdings wegen der ohnehin schon kleinen Dimension der Pillen sehr schwierig werden dürfte). Das muss man in jedem Fall neu ausprobieren, variieren, experimentell erforschen. Auf die Angaben des Beipackzettels sollte man sich keineswegs verlassen.
Vor allem aber sollte man nicht nur auf den Rat eines Arztes oder Neurologen hören (falls diese nicht psychotherapeutisch geschult sind – was man ganz einfach daran merkt, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit sie einem schenken bzw. für ihr Arzthonorar eintauschen!) – man sollte unbedingt auch einen Diplompsychologen oder Psychotherapeuten konsultieren, der etwas von dieser ADHS- und Ritalin-Thematik (und Problematik!!!) versteht.
Dieses zusätzliche Geld ist gut angelegt, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht: nämlich eine handfeste Medikamentensucht mit bislang weitgehend unbekannten Neben- und Folgewirkungen. Jede Tablette von der Wirksamkeit eines Präparats wie Ritalin ist ja nicht unähnlich einem chirurgischen Eingriff ins Gehirn mit seiner unglaublichen Komplexität und internen Vernetzung. Da sollte man nicht unbedingt mit einem Schraubenzieher darin herumstochern!
Ich nahm das Ritalin vom 14. März bis 4. November 2003 (Ablieferung des fertigen Manuskripts), also während knapp acht Monaten. Hier meine ersten Notizen dazu:

  1. Mein Selbstversuch im Detail (14. März 2003 bis 16. Aug 2006)

2003-03-14
Rezept von Dr. E. erhalten. (Die Beratung war kurz aber kompetent. Wichtig war der Hinweis auf die Suchtgefahr bei Ritalin. Ein wenig mehr Hinterfragen meiner Beweggründe wäre vielleicht sinnvoll gewesen – aber der Neurologe kannte mich flüchtig und vertraute meiner Selbstkompetenz als Psychologe und Suchtexperte).
Bin mal gespannt, was das bringt – ob das meine Zappligkeit und Sprunghaftigkeit dämpft, ob mir das hilft, mich besser zu konzentrieren.
12.43: Eine halbe Tablette Ritalin genommen (die zweite Hälfte nehme ich am Abend)
13.46. Fühle mich konzentrierter, entspannter. Aber das liegt wohl auch am Mittagsschlaf – und vor allem an der Entscheidung, den Ablieferungstermin für das Buch von März auf Mitte Mai zu verschieben.
(Die zweite Tablettenhälfte habe ich nicht genommen – war unnötig).

2003-03-17
Soll ich – oder soll ich nicht?
– nämlich das Ritalin tatsächlich regelmäßig einnehmen?
Der Traum von heute morgen 6.00 h sagt mir eigentlich: Nein (Sechs ekelerregende Fliegen kriechen in in meiner Kaffeetasse herum..).
Die Fliegen könnten (in der abendländischen Überlieferung dem Gottseibeiuns zugeordnet!) auch einen „Pakt mit dem Teufel“ avisieren – der mich „fliegen“ lässt!
Das Seminar am vergangenen Wochenende offenbarte mir jedenfalls, dass das Ritalin nicht auf Kosten der Ängste meines Inneren Kindes vor dem nahenden Krieg gegen den Irak gehen sollte! Denn der macht mich wirklich ziemlich nervös! […]

2003-03-18
08.26 – Noch immer kein Ritalin genommen – und ich bin trotzdem sehr konzentriert. Es ist aber gut, so ein Amulett im Hintergrund verfügbar zu haben…

2003-03-21
16.49: Ich bin sehr lustlos, das Redigieren vor allem geht sehr zäh, bei dem man sich verdammt konzentrieren muss und das über etliche Stunden jeden Tag. Wenn das so weiter geht –
Ich sollte morgen doch mit der Ritalin-„Kur“ beginnen. Anders schaffe ich den Termin „Mitte Mai“ wohl wieder nicht, diesen neuen Aufschub, den der Verlag mir gewährt.
16.52: Naja, der Kaffee hilft auch schon etwas. Aber das langt nicht. Ich brauche etwas Kontinuierliches, das vor allem nicht so zittrig macht wie Coffeïn. Morgen fahre ich mittags an den Starnberger See und lauf noch mal richtig. Und dann geht´s los.

2003-03-23
Ich werde diese „Ritalin-Kur“ machen – um mich besser zu konzentrieren (wie ich hoffe). Ermutigt hat mich das Beispiel in einem Buch, das ich gerade lese: über das ungarische Mathematik-Genie Paul Erdös mit seiner Benzedrin-Sucht – er wurde – laut Paul Hoffman – trotzdem 83 Jahre alt und war bis zum Schluss seines Lebens enorm kreativ und produktiv.
08.00 h: eine halbe Ritalin (= 5 mg) eingenommen.

2003-03-23
19.40 Es ging mir heute dank Ritalin gut – war sehr konzentriert die ganze Zeit. Aber der Tag ist nicht sehr typisch – trank beim Frühstück zwei Tassen Kaffee – viel Coffeīn für mich…
Jetzt am Abend leichte Kopfschmerzen – liegt wohl am Wetterumschwung [???]

2003-03-24
Um 8.00 wieder eine halbe Pille (5 mg). Wirkt gut, konnte zügig arbeiten. Das Problem ist allerdings immer noch, dass ich am Morgen zu viel anderen Kram mache. Wenn ich das noch ändern kann – dann ist schon allein der Umstand, dass endlich neue Kapitel entstehen, sehr hilfreich und ermutigend.

2003-03-25
Ich reduziere die Dosis nochmals. Um 8.00 nur eine Viertelpille, also 2,5 mg. Bisher geht es mir gut damit. Ich habe den Eindruck, dass es mir hilft, konzentrierter und vor allem stetiger zu arbeiten.
Leicht ablenken lasse ich mich immer noch – aber das macht mich nicht mehr so konfus.

2003-03-26
Um 8.30 Uhr 2,5 mg Ritalin. Um 17.15 h fühle ich mich ein wenig „robotrig“ – d.h. ich arbeite unaufhörlich, fast wie eine Maschine, und ein wenig unbeteiligt, weiß irgendwie gar nicht, was ich eigentlich tue…
Das ist nicht gut!

2003-03-27
Um 7.00 Uhr 2,5 mg Ritalin. Jetzt um 13.11 h geht es immer noch gut. Ich fühle mich ein wenig anders als sonst – aber eben gut. So sollte es immer sein. Auch ohne Ritalin.
Gestern in der Sauna: Verändertes Zeitgefühl: Ich war ganz erstaunt, dass so wenig Zeit vergangen war beim ersten Saunagang (so viel Gedanken zogen mir durch den Kopf).

2004-03-25 bis 29
Ich war einige Tage in Leipzig zu Besuch, unter anderem auf der Buchmesse. Nahm kein Ritalin – war einfach nicht nötig.
Ich habe es nicht eine Sekunde vermisst.

2004-03-25 bis 30
Arbeite jetzt wieder am Manuskript. Alle zwei Tage 2,5 Milligramm – so soll es weitergehen. Nach Abschluss des Manuskripts wird das ganze Experiment kritisch überdacht.
(Und so weiter…)

Ich will nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass ich die bessere Konzentration sicher nicht allein dem Ritalin zu verdanken habe, sondern auch einer Reihe von Gesprächen, die ich während der Arbeit am Buch mit meinem früheren Psychoanalytiker und jetzigen Mentor Dr. H. geführt habe, um mir über unbewusste Anteile meiner zeitweiligen Blockade klarer zu werden. Aber es war auch ganz deutlich ein Effekt des Ritalin zu verzeichnen.
Die Kombination beider Effekte – das Amphetamin plus die Gespräche – das war es, was letztlich den Erfolg brachte !)
Ebenso wichtig war es aber, mich an die richtige Dosis heranzupirschen und dabei sehr sorgfältig auf meine Gefühle zu achten und mich nicht nur auf das ärztliche Rezept („dreimal täglich 10 Milligramm“) und den Beipackzettel zu verlassen.

2004-04-25
Es geht mir nach wie vor sehr gut mit dem zweitägigen Rhythmus: abwechselnd 2,5 mg Ritalin – ein Tag Pause.

2004-06-15
Die Mini-Dosierung von täglich einmal (frühmorgens) (2,5) Milligramm Ritalin ist ein Zwölftel der üblicherweise verschriebenen Tagesdosis.

Es gibt in der Selbstbeobachtung kaum einen Unterschied – allenfalls den, dass ich mich an den Tagen „mit Ritalin“ etwas optimistischer fühle und mehr in der Gegenwart bin, im Hier und Jetzt, und weniger zum Sinnieren neige.

2004-11-12
Um mir die Arbeit am nächsten Buch, in der ich jetzt (im Nov 2004) schon mitten drin stecke, zu erleichtern, nehme ich wieder Ritalin. Allerdings habe ich experimentehalber die Dosis ein weiteres Mal halbiert: nur alle zwei Tage am Morgen (mindestens eine halbe Stunde vor dem Frühstück) eine Vierteltablette = 2,5 Milligramm. Damit komme ich bestens zurecht.

2004-12-02 (2004-06-01)
Es geht mir nach wie vor sehr gut mit dem Ritalin. Ich habe jedoch den zweitägigen Rhythmus wieder umgestellt auf täglich 2,5 mg Ritalin.

Der eine Tag Pause hat sich nicht bewährt. Meine Konzentration sackt ohne Ritalin doch deutlich ab – und ich habe mir vorgenommen, für einen Wettbewerb bis Ende September einen Roman zu überarbeiten (den ich 1982 begonnen und immer weiter geschrieben habe). Das schaffe ich sonst nicht.
Ansonsten ist alles paletti.

2005-07-08
Ich habe inzwischen längst nochmals reduziert: auf eine Sechstel Tablette = 1,66 mg.

2006-10-14
Am 16. Aug 2006 nahm ich zum letzten Mal die bislang verwendete Tagesdosis: ein Sechstel einer 10-Milligram-Tablette. Anschließend fuhr ich fünf Wochen ins Wallis, für zwei Wochen-Workshops und drei Wochen Ferien. Danach ergab es sich wie von selbst, mit dem ganzen Experiment aufzuhören.
Ich bemerkte keinerlei Entzugserscheinungen. Was auch nicht zu erwarten war bei der geringen Dosis.

  1. Zusammenfassung des Selbstversuchs

Auch wenn ich mich wiederhole (s. oben): Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen möchte ich dringend jedem, der das Experiment wagen will, empfehlen, die Dosis am Anfang erst einmal zu reduzieren.
Hochwirksame psychotrope (= auf das Seelenleben und Bewusstsein einwirkende) Medikamente dieser Art haben die fatale Eigenschaft, sich gewissermaßen im Gehirn „selbständig zu machen“. So weiß man erst seit wenigen Jahren, dass Tranquilizer wie Valium im Gehirn lange Zeit (bis zu zwei Wochen) gespeichert werden, bevor der Organismus sie vollständig abgebaut hat.
(Das gilt übrigens auch für Cannabis – den Wirkstoff im Haschisch und Marihuana – weshalb das Zeug eben doch weit gefährlicher ist als der sehr viel schneller abgebaute Alkohol.)
Deshalb führt eine gleichbleibende Dosis von z.B. zehn Milligramm täglich u.U. zu einer immer höheren Konzentration der Substanz im Gehirn – mit oft paradoxen Auswirkungen – etwa der Art, dass ein zunächst beruhigendes Mittel wie Valium irgendwann stimulierend und nervös machend wirkt.
Vielleicht zeigt das Ritalin irgendwann eine ähnlich paradoxe Wirkung?
Beim Ritalin haben wir ohnehin schon die paradoxe Situation, dass ein eigentlich stimulierendes Mittel (es ist ein Amphetamin ähnlich wie Pervitin!) wie ein Beruhigungsmittel wirkt. Warum das so ist, das ist noch kaum erforscht.

Schon deshalb sollte man sehr vorsichtig damit umgehen. Das war und ist der Grund, weshalb ich aller guten Gefühle und sehr positiven Erfahrungen mit dem Ritalin nach Ablieferung des Manuskripts zu Das Drama der Hochbegabten das Mittel zunächst einmal ganz absetzte.

Fazit des Gesamtversuchs, der fast zweieinhalb Jahre dauerte (14. März 2003 bis 16. Aug 2006): Interessante Erfahrung, ohne spürbare Nachteile.
Wichtigstes Ergebnis: Der wesentliche Effekt ist wohl der kleine „Kick am Morgen“, der „Tritt in den Hintern“, der einen aktiviert. Das lässt in der Tat auf eine Verwandtschaft zu aufputschenden Drogen wie Kokain schließen. Für jemanden wie mich, der gerne träumt und sinniert, und das stundenlang, ist / war eine gute Erfahrung.

Wichtigste Erkenntnis : Ich kann nur zu großer Vorsicht raten, sobald höhere Dosierungen verwendet werden, schon gar bei Kindern.

  1. Gefährliche Hochdosierungen

Was man – insbesondere in den USA – schon Kindern im Volksschulalter an Hochdosierungen hineinschüttet, halte ich für unverantwortlich – ja für geradezu kriminell! Vor allem dann, wenn nur in der Apotheke das Medikament abgeholt und konsumiert wird (ein anderer Ausdruck dafür wäre Augenwischerei) und keinerlei Begleitung durch einen tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapeuten oder wenigstens Psychologen / Arzt stattfindet, der die ganze Ritalin-Problematik bestens kennt und hilft, die psychodynamischen und familiendynamischen Begleitfaktoren zu klären und möglichst zu verbessern.
Dies ist das unbedingt nötige Procedere bei Kindern (die sich bekanntlich nicht wehren können).
Erwachsene sollten stets daran denken, dass sie einen großen Sack unerledigter Probleme aus der Kindheit und Jugend mit sich herumschleppen, dessen psychosomatische Auswirkungen sich zwar durch ein Medikament wie Ritalin (oder ein Gläschen Wein oder ein Pfeifchen Haschisch oder auch schon durch das Rauchen von ein paar nikotinhaltigen Zigaretten…) überdecken und manipulieren lassen – aber auf-gelöst wird der große Sack damit nicht. Da muss man schon anders drangehen. Nötigenfalls mit einer Psychotherapie

[Nähere Informationen zu Ritalin (seiner Pharmakologie und Wirkungen wie möglichen Nebenwirkungen) findet man im „Handbuch der Rauschdrogen“ unter dem entsprechenden Stichwort, verfasst von der Pharmakologin und Apothekerin Monika Schulenberg – s.u. Bibliographie.]

  1. Wie Ritalin vermutlich psychisch wirkt

Ich habe gemerkt, dass Ritalin zu einer deutlichen Verbesserung der Willenskraft führt. Was kein Wunder ist. Denn durch bessere Konzentration
° gelingen die kleinen Erfolgsschritte, aus denen sich die Realisierung jedes größeren Projekts zusammensetzt;
° diese führen zu (Selbst-)Ermutigung, welche die Willenskraft enorm stärkt;
° und diese wiederum erleichtert die nächsten kleinen Erfolgsschritte;
° und so weiter in einem sich selbst verstärkenden Regelkreis,
° dessen Insgesamt man dann als Willensstärke von außen bewundert.

Es ist natürlich weit einfacher, wenn dieser Regelkreis schon in der Kindheit seine Schwungkraft entfaltet und durchs Schul- und Berufsleben hindurchträgt. Aber das ist das Wunderbare an dem (gleichzeitig und mit Recht so vielgescholtenen) Wundermittel Ritalin: Es gibt auch dem Spätentwickler eine Chance, die „Kurve noch zu kriegen“!
Das Ritalin am Morgen gibt gewissermaßen den kleinen „Tritt in den Hintern“, der eine Richtung vorgibt. Ab da können sich die (psychosoziale) Strukturen offenbar leichter entfalten, die einen durch den Tag leiten.
Voraussetzung bei alledem ist allerdings – was gerade von den Ritalin verschreibenden Ärzten gerne übersehen wird –
° dass jedes Medikament dieser Art seine eigentliche Wirkung erst entfaltet
° und Fehlentwicklungen vermieden werden,
° wenn irgendeine Form von therapeutischer Begleitung dafür sorgt, dass auch eine seelisch-soziale Nachreifung stattfindet. Während dieser muss vor allem der (nach)pubertäre Trotz aufgegeben werden, samt Besserwisserei und grandioser Selbstüberschätzung.
Eine Psychotherapie der üblichen Form (Zweier-Beziehung) nützt hierbei allerdings wenig, wenn nur „über die Probleme geredet“ wird. Es muss aktiv etwas für die Umsetzung des Kreativen Prozesses in Form künstlerischer, aber auch alltagspraktischer Form in von bescheidenen „tausend kleinen Schritten“ erfolgen.
Vieles kann auch – gerade was die zwischenmenschliche Beziehungsebene angeht – mit Hilfe der ThemenZentrierten Interaktion (TZI) nachgelernt und nachgereift werden.

(Nachtrag vom 12. Nov 2004)
Meine Erklärung der Wirkung ist ganz simpel: Es gibt in jedem Menschen passive und aktive Tendenzen.
Eine passive Tendenz ist die, sich (wie der Säugling von der Mutter) von anderen Menschen verwöhnen zu lassen. Alle Rauschdrogen führen uns letztlich – wenn auch nur vorübergehend und bei längerem Missbrauch zu einem hohen Preis – in dieses urtümliche Paradies zurück,. Bei etlichen von ihnen (Kokain, Alkohol) geht der Passiv-Phase oft eine kurze Aktiv-Phase durch Enthemmung voraus.
Ritalin scheint so wie die Endorphine (= Stimulantien, welches vom Körper selbst produziert wird) zu wirken. Von solchen Endorphin-Ekstasen berichten sowohl Marathonläufer wie Extremfaster (eine Woche und länger ohne feste Nahrung leben).
Ähnlich dem Adrenalin, welches die Nebennierenrinde unseres Körpers in Stress-Situationen zur Erhöhung der Gefahrenabwehr ausschüttet, verschafft das Ritalin offenbar genau jenen winzigen Startimpuls, der die Bereitschaft zur Aktivität erhöht und es einem erleichtert, aus passiver Stimmung (nicht selten am Morgen, wenn die Schlafhormone noch wirken) herauszukommen.
Auch wer zu depressiven Stimmungen neigt, hat davon eventuell einen Vorteil.

MultiChronalia (Nachtrag vom 01. Mai 2023)

Das ist alles eine Weile her: Diesen Selbstversuch machte ich 2004-2006. Ein „Zappelphilipp“ war ich nach der mütterlichen Überlieferung schon als Kind (also wohl ab 1941, als ich schon selbst herumzulaufen begann. Richtig heftig wurde das dann vermutlich in der Schule ab 1946 – aber daran habe ich keine speziellen Erinnerungen. Das ich Mühe hatte, still zu sitzen, wurde mir erst auf der Oberrealschule in Selbst allmählich bewusst, also etwa 1953. Das dies kein „böser Wille“ eines „notorischen Schwätzers“ und „Störenfrieds“ war, sondern mit einer seltsamen Krankheit namens ADHS zu tun haben könnte – davon hatte man damals auf Lehrerseite keine Ahnung – ich natürlich auch nicht. Ich war halt so – „lebhaft“.
Und nun bin ich im Jahr 2021 wieder mit diesem Thema konfrontiert. Weil mir im Verlauf dieses Blogs, der ja sehr vielen Erinnerungen weckt, so richtig bewusst wurde, wie mich diese Zappligkeit mein Leben lang geplagt hat – und dass ich sie wohl von meiner Vater geerbt habe, der auch ein sehr „unruhiger“ Mensch war.
Ritalin habe ich nie wieder genommen. Mein „Medikament“, eine richtige Zauberdroge, ist der Yoga am Morgen und das Schreiben. Dazu das Spazierengehen und Radfahren – überhaupt jede Art von Bewegung. Ein Katastrophe, dass coronabedingt das Fitnessstudio derzeit „downgelocked“ ist.
Wie paradox (und das wird mir eben erst beim Tippen bewusst) – dass ausgerechnet ich den Begriff „Entschleunigung“ erfunden habe – wo ich doch stets auf Hochtouren laufe. Da muss wohl eine tiefe Sehnsucht im Spiel gewesen sein, zur Ruhe zu kommen.

Bibliographie
DeGrandpre, Richard: Die Ritalin-Gesellschaft: Eine Generation wird krankgeschrieben (1999) Weinheim 2005 (Beltz).
Freud, Sigmund: Brautbriefe. (1886) Frankfurt a.M. 1968 (S. Fischer).
Fitzner, Thilo und Werner Stark (Hrsg.): Genial, gestört, gelangweilt? ADHS, Schule und Hochbegabung. Weinheim und Basel 2004 (Beltz).
Hallowell, Edward M. und John Ratey, Zwanghaft zerstreut, oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein. (1994) Reinbek 1998 (Rowohlt).
Harland, Simone: Hyperaktiv oder hochbegabt?. Bergisch-Gladbach 2003 (ehrenwirt-med / Lübbe).
Hoffman, Paul: Der Mann, der die Zahlen liebte. [The Man who loved only Numbers]. (1998) 2. Aufl. München 2001 (Econ).
Krowatschek, Dieter: Alles über ADHS. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer. Düsseldorf / Zürich 2001 (Walter / Patmos).
Neuhaus, Cordula: Das hyperaktive Kind und seine Probleme. Berlin 2002 (Urania-Verlag).
Novartis Pharma, “Fachinformation Ritalin®”, Stand Oktober 2000.
N.N.: „Koks für Kinder“, in Focus Nr.11/2002-03-11.
N.N.: „Hyperaktive Kinder im Pillenrausch“. In: DER SPIEGEL Nr. 20 vom 26. Mai 2007.
U.S .Department of Justice, Drug Enforcement Administration, “Methylphenidate (Ritalin®)”, in http://www.ritalin-kritik.de, Oktober 2002.
Schulenberg, Monika: „Ritalin“. In: Schmidbauer… 2003.
Schmidbauer, Wolfgang und Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen. (1971) 11. überarb. Auflage München 2003 (Nymphenburger).
Weber, R. „Die Ritalin-Story“, in http://www.deutscher-apotheker-verlag.de, Oktober 2002.
Winkler M. und Rossi P., „Häufige Fragen und Antworten über die Behandlung der ADHS mit Stimulanzien“, in http://www.adhs.ch, Oktober 2002.
2003-06-18/Stern Nr.26: „“Neue Facette im Hitler-Bild“

300 _ #0492 / 01. Mai 2023_14:35 (© 2012 / 2008 / 2004 für diesen Text: Jürgen vom Scheidt/hyperwriting.de

Frühlingserwachen

Höchste Zeit, mal in die Lyrik-Kiste zu greifen. Diese Frühlings-Ballade habe ich 1985 in einem Seminar gereimt, am 24. März, also vor 38 Jahren. Deshalb stimmt das unten mit „Ostern“ nicht und auch mit „Sylt“ wird es wohl nichts mehr werden. Ich widme diese Zeilen Joachim Ringelnatz – wer seine wunderbaren Gedichte kennt, wird die Anspielungen verstehen. Aber man kann es auch ohne dieses Spezialwissen genießen:

Abb.: Kirschblüte in Japan (Photo by Yuri Yuhara on Pexels.com)

In Reime teils
– und teils auch nicht gesetzt.
Ich hoffe, wenn´s gelesen ist
Hat es euch sehr ergetzt:

Frühlingserwachen

I

Die Vögel klingen anders heute.
Ich zieh die dünneren Klamotten an.
Wie Ringelnatz werd´ ich Geruches Beute:
Denn Klo-Gestank kreuzt meine Bahn.

Die Eier werden williger –
– war so der Vers, den er sich machte?
vielleicht auch Mädchen billiger
Nein! Ganz verkehrt, wie ich schon dachte!

Die Eier werden billiger,
So muss es heißen, ganz genau,
Die Mädchen werden williger.
Will freudig ihren Willen preisen – und die „Frau“.

Goldregen knospt. Hellblau scheint Himmel
Durch Bäume, die kein Blattwerk ziert.
Vereinzelt hängt was Braunes noch (kein Pimmel!)
Vom letzten Jahr. Damit der Baum nicht friert?

Verbittert zwingt, mir tun die Ohren weh,
Den Willen auf dem Kind, das schreit,
Ein Muttertier, das heimwärts zieht
Und lauthals zetert: „Es ist Zeit!“

Wär schön, wenn die der Frühling packte
Und sie, anstatt so bös zu schrei’n,
Dem Kind vorsänge ein paar Takte
– das ging ihm sicher besser ein.

II

So wie jetzt Vögel Nester bauen,
So freu ich mich auf Ostern und auf Sylt.
Will frohgestimmt zum Sommer schauen
– weil dort nicht Arbeit, sondern Muse gilt.

Die Wege durch den Park sind frei von Schnee.
Bald schlendre ich durch leeren Straßen,
Sind kaum mehr nass, soweit ich seh´,
Wo letztes Jahr die Gäste saßen.

Beim Fotografen Hochzeitsbilder,
Sehr bunt und schön gestellt:
Ich hoff, die beiden war’n verliebt – und wilder –
Eh´ sie auf Dauer sich gesellt.

Die Sonne brennt auf meinen Rücken,
Schmelzwasser tropft mit hellem Ton
(Zu warm die Kleidung – welch Entzücken!)
Auf ein Laternenblech, und schon

Erklingen in mir Frühlingslieder.
Paar Schritte weiter ist’s ein Bach,
Und seltsam Regung schießt in Glieder.
Doch eiskalt noch rinnt es vom Dach.

Es riecht nach Essen jetzt – vielleicht
Gekocht mit Eiern billiger,
Weil’s zu was anderem nicht reicht
– von einem Mädchen, williger – ?

III

Doch möcht´ ich mich jetzt selber spüren.
Mein Körper ist noch tief im Schlaf
Des Winters – nur der Kopf ist wach
Und spielt mit Worten und mit Sprach:

S-e-h-n-s-u-c-h-t  n-a-c-h
T-a-u   W-e-t-t-e-r
S-e-h-n-e-n-d   s-u-c-h-t
F-r-a-u  R-e-t-t-e-r

Der Stift fällt aus den Fingern mir.
Fast schnappt ihn sich ein Hundetier,
Das Frauchen von der Leine rannte,
Als es ein Stückchen Freiheit spannte.

Die Zeit ist um, wie ich jetzt sehe
– sie ist so schnell dahingerast,
Dieweil ich in den Frühling gehe
– auf alles Mögliche gefasst.

Bald kommt der Sommer – Herbst –
Und wieder Schlaf.
Und Tod
– auch wenn er andre traf. Vielleicht.

Doch damit hab ich heut nicht Not.
Ich schaue nur, mit großen Augen,
Die heut zu nichts als Staunen taugen
Und die von Kirschblütpollen rot.

IV

Ein Pärchen geht vor mir. Ich staune:
Sein Finger dringt in ihre Finger ein;
In ihr, denk ich, wächst Frühlingslaune:
Bald wird sie schwanger, bald auch Mutter sein.

Und er ein Vater. Ja, so ging’s einst mir.
So fängt er an, der Ernst des Lebens.
Und wie erging’s in dieser Hinsicht dir?
Wer and’res sucht, der sucht vergebens!

Ich blick zurück, ganz lang:
Ein tiefer Atem weitet meine Brust.
Ein schönes Mädchen schaut mich an,
Ich spür etwas, es ist wie –

Zwei and’re Mädchen, auch hübsch anzuschauen,
Ich fühl mich wie beschwipst, bestusst,
Sie dreh´n den Kopf zu mir – ach diese Frauen!
Und was sich darauf reimt, ist „Lust“.

Ist Lust  –  wozu?
Das fragt mich nicht.
Lies einfach noch einmal
– dies mein Gedicht.

299 _ #1604 _ 30. April 2023 /13:46 (24. März 1985)

„Don´t look forward!“

In dem Film Don´t look up! weigern sich die Menschen, zu realisieren, dass demnächst ein Komet auf die Erde donnern und die Menschheit auslöschen wird, es sei denn, man unternimmt etwas dagegen. Aber einflussreiche Gruppen lancieren mit Erfolg eben diesen Slogan „Don´t look up“, und so nimmt denn das Ende der Menschheit seinen Lauf.

Leider ist das keine beliebige Satire, sondern da wird etwas auf´s Korn genommen und grimmig entlarvt, das aktuell von – ebenfalls sehr interessierten – Kreisen gegen die Warnungen vor der sich immer heftiger anbahnenden Klimakatastrophe unternommen wird: „Schaut einfach nicht hin – wird schon alles nicht so schlimm werden.“

Von wegen. Abgewandelt könnte man formulieren: „Schaut nicht nach vorne!“ (Ich habe das, den Filmtitel abwandelnd, englisch formuliert.) Unsere regierenden Politiker und Politikerinnen unternehmen derzeit wirklich wichtige Schritte, um die kommende Katastrophe abzufedern. Dazu gehört auch die Energiewende und die Umstellung alter energiefressender, karbonbasierter Öl- und Gasheizungen. Und was macht die BRÜLL-Zeitung? Sie polemisiert aggressiv mit der Schlagzeile auf der Titelseite (s. unten): „Die Politiker gefährden unser Lebenswerk.“
Ja, Omas „klein Häuschen“ könnte also in Gefahr geraten. Dass die Umstellung auf modernere Heizungen
° mit enormen Milliarden-Summen Härtefälle abgefedert
° und es unzählige Ausnahmeregelungen geben wird
° und dies alles zeitlich noch einige Jahre in der Ferne liegt
– geschenkt. Die BRÜLL-Zeitung braucht den Krawall und leiht jenen „armen Rentnern“ eine Stimme, die ihr Schäfchen meistens schon im Trocknen haben.

Abb.: BILD-Zeitung vom 08. April 2023 – ein schönes Oster-Ei

Was nicht in die Waagschale geworfen wird: Dass die nachwachsenden Generationen über nichts dergleichen verfügen und meistens nur eine eine höchst geringe Chance hat, sich so ein „Häuschen“ zur Verbesserung ihrer Altersrente anzusparen. Diese Jungen werden an Zahl immer weniger – und müssen immer mehr „Alt-Lasten“ (buchstäblich) finanzieren – nämlich die Renten von Senioren, die immer länger leben und häufig recht gesund sind. Ich gehöre mit meinen – noch recht rüstigen – 83 Jahren auch dazu (hab aber kein Häuschen ansparen können).

Lastenausgleich

Das alles erinnert mich fatal an die Zeit nach dem Weltkrieg. Damals waren 13 Millionen Deutsche aus Schlesien und dem Sudetenland in den Westen, also in die junge Bundesrepublik geflüchtet, meistens nur mit ein paar Kilo Fluchtgepäck. Sie alle mussten versorgt werden. Vom wem? Na, von denen, die AUCH Hitler gewählt und an die Macht gebracht hatten, aber von der Enteignung und Vertreibung verschont geblieben waren. Sie hatten Häuser und anderen Besitz – und sollten davon nun etwas abgeben. „Lastenausgleich“ hieß das und belief sich bei meinem Großvater auf 25 Prozent vom Vermögen oder Einkommen (so genau weiß ich das nicht mehr). Laut Wikipedia sah das so aus:
„Die Abgabe belief sich auf 50 % des berechneten Vermögenswertes und konnte in bis zu 120 vierteljährlichen Raten, also verteilt auf 30 Jahre, in den Ausgleichsfonds eingezahlt werden.“

Mein Großvater hatte den Zweiten Weltkrieg ohne Blessuren überlebt, besaß das vom Schwiegervater geerbte Haus und Baugeschäft – und jammerte trotzdem jedes Jahr, wenn es um die Steuererklärung (und den zu zahlenden „Lastenausgleich“ ging), wie ungerecht das alles sei. An Details erinnere ich mich nicht mehr – nur es er sich über diese Zahlungen furchtbar aufregte.
Aber durch diese gewaltige Umverteilung gelang es immerhin, die junge Bundesrepublik nach und nach auf solide wirtschaftliche Grundlagen für (fast) alle zu stellen. Ich erwähne das hier so ausführlich, weil ich annehme, dass auch das „furchtbare Unrecht“, welches demnächst den Häuslebauern und – besitzern mit ihren veralteten Heizungsanlagen angetan wird, zugunsten der jüngeren Generationen kein Weltuntergang sein wird. Wie meistens werden die Leute sich da irgendwie arrangieren und durchmogeln. So wie mein Großvater (und dann seine erbenden Kinder) brav dreißig Jahre lang jedes Vierteljahr sein Hundertzwanzigstel Lastenausgleich gezahlt hat. Und so schlimm, wie ein verlorener Krieg (oder der aktuell in der Ukraine tobende Krieg) wird es bei uns schon nicht werden – trotz Klimawandel.

Oder vielleicht doch? Wer eine plastische Ahnung davon bekommen möchte, wie das werden könnte, dem empfehle ich die aktuelle Serie Extrapolations bei Apple plus. Da kommt wirklich Grusliges auf uns zu. Also schaut nach vorne und versucht, etwas zu TUN, damit s nicht ganz so schlimm wird. Look forward!
Die Tage mit 36° Grad im vergangenen Sommer 2022 waren hier in München wirklich hässlich heiß (andernorts sogar 40°)! Also pflanzt viele Bäume in der Stadt und sorgt für gut kühlende Schneisen zwischen den Häuserschluchten und vor allem für weniger Bodenversiegelung durch immer neue „Häuschen“!

Oder zieht den Kopf ein und ergebt euch der Devise „Don´t look forward!“ Aber wundert euch nicht, wenn die Jungen sich auf den Straßen festkleben und immer aggressiver gegen den Wahnsinn der drohenden Katastrophe angehen! Lasst euch die Gelb-Westen-Demos in Frankreich eine Warnung sein – bei denen es doch nur um die Erhöhung des Rentenalters um zwei Jahre geht. Da lassen sich weit schlimmere Szenarien vorstellen. Die Science-Fiction hat diesbezüglich schon seit vielen Jahren manches vorausgedacht.

Und danke für das Mitgefühl mit den armen Rentner-Häusel-Besitzern, liebe BRÜLL-Zeitung!

MultiChronalia

1952 regte sich mein Großvater Karl Hertel darüber auf, dass er immer noch „Lastenausgleich“ zahlen müsse.
Am 08. Mai 2023 rege ich mich darüber auf, dass die BRÜLL-Zeitung sich darüber aufregt, dass die Rentner sich darüber aufregen, weil sie ihre Heizungen umstellen müssen.
2030 werden wir uns (falls wir noch leben sollten) darüber aufregen, dass es immer mehr Sommertage mit 45° Grad und darüber gibt und viele alte Rentner wegen der Hitze sterben.

Wenn Sie wissen wollen, was MultiChronalia sind und was es mit der MultiChronie auf sich hat – dann können Sie das hier im Blog auf der SEITE MultiChronie nachlesen (s. Link in der Blog-Leiste oben rechts).

Quellen
NN: „Die Politiker gefährden unser Lebenswerk“. BILD-Zeitung vom 08. April 2023, S. 1 (Aufmacher).
McKay, Adam (Regie): Don´t look up. USA Dez 2021 in den Kinos und bei Netflix.

 #1578 _ 2023-04-10 / 20:31

Respekt vor dem „Schwarm“

Der Verriss von Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung war heftig, ja geradezu bösartig – schon im billigen bayrischen Wortspiel mit dem Titel: „Der Schmarrn“. An der Serie gibt es gewiss mancherlei auszusetzen – aber sie verdient auch Lob und vor allem: Respekt. Das mit dem „Respekt“ ist im doppelten Wortsinn gemeint:
° Respekt vor dieser achtteiligen TV-Serie, die eine sehr schwierige Gratwanderung zwischen Werktreue (zum Roman) und heutigen Fernseh-Gewohnheiten recht passabel bewältigt,
° und vor dem, was Der Schwarm im Roman-Original von Frank Schätzing verkörpert – nämlich eine ungeheure Bedrohung der Menschheit durch die selbstverschuldete Umweltverschmutzung allüberall.

Abb. 1: Trailer-Collage zu der achtteiligen #TV-Serie Der Schwarm – vielversprechend und doch enttäuschend: Zweite Figur von links: Leon Anawak, fünfte von links: Charlie Wagner. (Quelle: ZDF)

Wie soll man allerdings einen Roman von genau 1001 (in Worten: tausendundeine) Druckseiten einigermaßen überzeugend in das Fernsehformat einer achtteiligen Serie übertragen?
Ich finde das Resultat insgesamt gelungen und sehenswert, obwohl Showrunner Luke Watson und die Regisseure sich beträchtliche Abweichungen vom Buch erlaubt haben: Zum Beispiel wurde aus der ursprünglichen Hauptfigur, dem indigenen Walforscher Leon Anawak, eine Nebenfigur, während eine junge Frau, die Meeresbiologin Charlie Wagner, in den Mittelpunkt rückte. Nette Verbeugung vor den veränderten Gender-Realitäten (die mir ansonsten durchaus sehr gefallen) – aber doch eine kräftige Verfälschung der ursprünglichen Geschichte.
Hingegen hat das „Pilchern“ (nämlich in der Art der Schmonzetten nach Rosamunde Pilcher), wie Schätzing das abschätzig bewertet, der Serie gut getan: Zwischenmenschliche Beziehungen (und Beziehungs-Kisten) sind nun mal wichtig im Leben. Erst wenn es richtig „menschelt“, ist man als Nicht-Fachfrau und –Fachmann bereit, solche kräftigen Prisen von naturwissenschaftlichem Tobak (noch dazu in der verfremdeten Form von doch recht verrückter Science-Fiction) zu akzeptieren. Da haben die TV-Macher durchaus richtig gehandelt, denke ich.
Wenn Schätzing so etwas missfällt –  dann hätte er dir Rechte nicht verkaufen dürfen. Mit so etwas musste er, der gewiefte Medienprofi, rechnen. Das im Nachhinein in Interviews mies zu machen (immerhin hat ihm das ZDF dafür sogar fairerweise eine Plattform geboten in Gestalt eines eigenen begleitenden Beitrags) zeugt nicht von Souveränität, sondern ist kleinliches Nachtreten.

Aber an der Serie selbst habe ich schon auch etwas auszusetzen: Es ist kein Wunder, dass bei jeder Folge etwa eine Million Zuschauer mehr ausgestiegen ist. Die einzelnen Kapitel bringen keine richtige Steigerung, und irgendwie ist da – trotz beachtlicher CGI – nicht das inspirierende Flair, das andere Serien (nicht nur aus der SF-Welt) durchaus haben. Weshalb man sie sich gerne noch einmal anschaut: Dieses Bedürfnis habe ich beim Schwarm überhaupt nicht. Gesehen, Neugier befriedigt – und abgehakt. Was schade ist. Denn das Thema der Umweltbedrohung in den Weltmeeren hätte, wie gesagt, etwas anderes verdient: Etwas Unvergessliches.

Heftiges Happyend

Was das total unglaubwürdige Hammer-Happyend angeht (religiöser Kitsch vom Tod durch Ertrinken und wundersamer Auferstehung): Die arme Charlie würde dort in der Arktis in der nassen Kleidung trotz Wiedererweckung binnen kurzem erfrieren.
Aber man kann das auch als tröstliches Happyend sehen. Kann man.

Frank Schätzing sollte sich mit seiner Kritik an der Serie allerdings lieber zurückhalten: Mit dem Schwarm hat er zwar bewiesen, dass auch in Deutschland eine doch recht voluminöse SF-Erzählung ein enormer Bestseller-Erfolg werden kann – keine geringe Leistung, wenn man bedenkt, dass nach der allmählichen Steigerung in den ersten beiden Dritteln, die sich jedoch in vertrauten Leseerfahrungen bewegen, das letzte Drittel zu einer wirklich yrren SF-Story mutiert, die jeden Nicht-SF-Fan eigentlich überfordern muss. Aber Schätzing hat dieses publizistische Wunder geschafft und damit der SF in Deutschland vielleicht viele neue Freunde zugeführt. Und das schon vor fast 20 Jahren, also bevor all diese SF-Blockbuster wie Avatar die Kinos stürmten.
Leider haben sowohl sein Folgeroman Limit wie der nächste Buch-Ziegelstein, Die Tyrannei des Schmetterlings (ein beliebiger Thriller im Multiversum, verwirrende wilde Zeitsprünge inklusive) längst nicht mehr das gehalten, was der Schwarm so überzeugend geliefert hat: Spannende SF-Unterhaltung, also Fiction, mit solidem Science-Hintergrund. Stattdessen langweilt der Autor in seinen späteren Werken passagenweise mit Informationen, die eitel seine Bildung beweisen – aber den Fortgang der Handlung mehr stören als antreiben. Da hätte eine kritischer Lektor hilfreich eingreifen müssen: Über die genaueren Hintergründe einer Revolution in Afrika muss ich wirklich keine Details erfahren, wenn ich wissen möchte, was mit einem futuristischen Weltraumaufzug und auf dem Mond passiert (s. Limit).

Meine Kritik an Schätzings Grundidee der Yrr in seiner Schwarm-Welt: Wie soll das funktionieren? Schon eine einzige Qualle, die im Ozean durch den Yrr-Schwarm treibt, würde die Kommunikation in diesem Pseudo-Gehirn aus Einzellern stören. Oder gibt es da so etwas wie urtümliche Telepathie? Ein typischer Logik-Fehler wie oft in der SF: Seelenwanderung bei Avatar, die „Macht“ und die Laser-Schwerter und Ritterrüstungen im Star Wars-Universum: keine Science-Fiction, sondern magischer Märchen-Mist.

Abb. 2: Umschlag der Romanfassung Der Schwarm von 2004 (Kiepenheuer & Witsch)

Quellen
Matzig, Gerhard: „Der Schmarrn“. In: Südd. Zeitung Nr. 42 vom 20. Feb 2023 (Feuilleton), S. 16.
Schätzing, Frank: Der Schwarm. (2004) Köln 2005 / 25. Aufl. (Kiepenheuer & Witsch).
Watson, Luke (Regie): The Swarm. ZDF März 2023.

294 _ #1503 _ 2023-03-24/20:25

Mandalorianischer Mist

(Fans von Star Wars werden mich vielleicht steinigen oder ihre Shitstorm Trooper vorbeischicken – sei´s drum.)
Es hat mir schon als Jugendlicher großen Spaß gemacht, Science-Fiction nicht nur wegen der schrägen Geschichten aus exotischen fernen Zukunfts-Welten zu lesen, sondern auch Fehlern darin nachzuspüren:
° Fehlern in der Erzähl-Logik,
° und wissenschaftlichen „Falschmeldungen“.

Letztere betrafen nicht etwa die möglichen neuen Techniken und wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Zukunft („Was wäre wenn?“) – sondern schlichten Unsinn, was die Grundlagen der Physik und anderer Naturwissenschaften angeht. Ich besaß sogar als 14jähriger die Kühnheit, den Erdkundelehrer vor versammelter Klasse zu „korrigieren“, weil er die Reihenfolge der Planeten im Sonnensystem falsch aufzählte: „Erst kommt der Jupiter, dann der Saturn, Herr Studienrat“. Wie man sich halt als Teenager gerne als „Besserwisser“ großtut.
Man macht sich damit nicht beliebt – weder bei Lehrern noch bei Autoren – aber es macht irgendwie Spaß, etwas zu entdecken, was andere übersehen haben.

Abb.: Weltraum-Ritter Jin Djarin mit Laser-Schwert (© Disney+ – TV-Serie The Mandalorian, Staffel 3, Episode 1)

Beliebte Fehler in der Science-Fiction jener Jahre, die gerne deutschen Autoren unterliefen, aber vor denen auch die Angloamerikaner nicht gefeit waren:

° Leben auf dem Planeten Venus, etwa eine „Dschungelhölle“ mit Sauriern? So etwas konnte man in der Heftserie Jim Parkers Abenteuer im Weltraum  noch 1954 behaupten, weil man es nicht besser wusste. Seit den russischen Sonden ab den 1960er Jahren weiß man jedoch, dass es auf dem zweiten Planeten unseres Sonnensystems kein Leben geben kann, schon gar keine „Saurier“ – bei Temperaturen um 460 ° Celsius und tödlichem Atmosphärendruck ein Ding der Unmöglichkeit.
° Oder dass es auf der Rückseite des Mondes (für uns von der Erde nicht sichtbar) eine Sauerstoffatmosphäre geben könnte (auch das eine „Realität“ bei Jim Parker). Seit der ersten Mondumrundung und der Mondlandung 1969 ist das nicht mehr vermittelbar. (Obwohl es Frank Schätzing in Limit doch nochmal versucht hat.)
° Oder eine atembare Atmosphäre auf dem Mars? Mars-Kanäle? Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts war der rote Planet noch eine Spielwiese für die Phantasie, etwa in Edgar Rice Burroughs´ The Princess of Mars . Eine reizvolle Möglichkeit, dort herumzuspazieren wie auf der Erde, nur mit halbem Gewicht. Aber in der Verfilmung John Carter – Zwischen den Welten bereits ein Ding der Unmöglichkeit nach allem, was man heute über den Mars weiß. Doch als nostalgisches Zitat der Originalgeschichte von 1912 immer noch ein großer Spaß. Genau wie die Mars-Kanäle als Zeugnisse einstiger Hochkultur auf dem erdnächsten Exoplaneten.

Dies konnte man also noch in den 1950er Jahren phantasieren. Aber heute – nach all den aktuellen Forschungsergebnisse der Mond-, Venus- und Mars-Sonden?
Und glaubt James Cameron im Ernst, dass es auf Pandora so etwas wie das Metall Unoptanium geben könnte, das die Schwerkraft aufhebt – oder dass man mit irgendeinem technischen Apparat die Persönlichkeit eines Erdenmenschen in einen geklonten Pandora-Bewohner transferieren könnte – Seelenwanderung also?
Aber die schwebenden Felsen von Pandora sind eine wunderbare Idee und auch prächtig anzuschauen.
Ebenso ist das futuristische Metall Vibranium in den Marvel-Superhelden-Epen um den Schwarzen Panther purer Nonsense. Aber so etwas ist in so einem Comic-Universum wie in jeder magischen Märchenwelt halt möglich und hübsches Spielmaterial.
Heute unbekannte Metalle sind wirklich Märchenstoff. Das könnten realiter nur unglaublich schwere und extrem kurzlebige, radioaktiv zerfallende Transurane sein – schwer vorstellbar, dass es jenseits des Lawrenciums stabile Transurane geben könnte!

Helm ab zum Gebet – verboten!

Nun zu Star Wars von George Lucas – diesem Märchen-Universum, das mit Science-Fiction (als das diese Geschichten gerne ausgegeben werden) so viel zu tun hat wie Harry Potter (dessen Autorin J.K. Rowling aber gar nicht erst versucht, das als mögliche Realität zu verkaufen). Die TV-Serie Mandalorian ist ein Ableger des Star Wars-Universums mit all seinen Märchen-Figuren und -Geschichten. Aus den aktuellen 2020er Jahren stammt dieser Schwachsinn:
Die Mandalorianer sind buchstäblich Ritter in Metallrüstungen. Die „flotte“ Ausgabe verfügt über eine Art Rucksack-Raketenantrieb. Der Kodex dieser Elitetruppe (eigentlich mehr eine religiöse Sekte) verpflichtet sich, den Helm nie wieder abzulegen. Was in der aktuellen dritten Staffel (Disney+ ab März 2023) den Plot abgibt. Der Mandalorianer Jin Djarin tut nämlich genau dies: Er nimmt seinen Helm ab. Dadurch fliegt er aus der Truppe (was ihm die Matriarchin der Sekte sehr deutlich macht).
Das muss man sich mal realistisch vorstellen: Da trägt jemand nicht nur ein Leben lang und Tag und Nacht diese Metallrüstung (wie ist das bei 40° im Schatten – oder bei 10° unter null?) – sondern darf laut religiöser Selbstverpflichtung nicht einmal den Helm abnehmen! Wie rasiert man sich dann (es sind ja fast alles männliche Protagonisten) , wie putzt man seine Zähne, wie wäscht man sich? Der Mann mit der Maske aus der französischen Mantel-und-Degen-Zeit der Drei Musketiere um 1650 vermittelt sehr realistisch das schreckliche Gefühl, das so ein Metallhelm über dem Kopf auslösen würde. Jeder, der in Corona-Zeiten länger als eine Viertelstunde mit Schutzmaske (die ja nur Nase und Mund bedeckt) herumlaufen musste, versteht sofort, wie klaustrophobisch sich ein ganzer Helm anfühlen müsste. Und das Tag und Nacht?

Bullshit, Hollywood!

Diese Mandalorianer würden schon nach drei Tagen stinken wie das letzte Schwein! Wer denkt sich so etwas Hirnrissiges aus? Naja, die super bezahlten Showrunner von Hollywood eben.

Und dann diese bescheuerten Laser-Schwerter. Kinder lieben sie, laufen im Fasching damit herum. Ein großer Spaß, zugegeben. Aber als „Waffe“ bei Kämpfern erwachsener Krieger in einem zukünftigen Universum mit Raumschiffen zwischen den Sonnensystemen? Wo jede Distanzwaffe (Pistole, Revolver, Gewehr, selbst Pfeil und Langbogen oder eine einfache Armbrust) jedem Schwert überlegen wäre? Und für diesen und anderen Unsinn hat die Walt Disney Corp. George Lucas, vier Milliarden Dollar bezahlt!
Aber die Fans lieben es, kaufen sogar komplette Rüstungen der Storm Trooper (Vorbild: Hitlers Mördertruppe SS) und die Kasse klingelt. George Lucas hat eben den richtigen Riecher gehabt: Die Menschen wollen Märchen ( und sei es „in einer fernen Galaxis“) – auch als Erwachsene, heute eben im Gewand von Science-Fiction. Aber mit der physikalischen Realität des Universums hat all das nichts zu tun.

Mein Fazit speziell zur Serie um den Mandalorian: Mandalorianischer Mist. Aber als reine Unterhaltung ein gut gemachter Märchen-Spaß, für Erwachsene und andere Kinder. Vor allem der Kampf gegen dieses grausige Seeungeheuer in der ersten Episode – ein Heidenspaß wie weiland bei Sindbad dem Seefahrer der Kampf mit dem Zyklopen. Kurioses Kasperletheater eben. Und ein prächtiges Beispiel für MultiChronie mit extrem unterschiedlichen Zeitschichten:
° Mittelalterliche Vergangenheit (Ritterrüstungen, Schwerter, Jedi-Ritter als quasi-religiöser Orden in der Art von König Artus´ Tafelrunde in Camelot, alles in einem galaktischen Kaiserreich spielend) und im Kontrast dazu
° ferne Zukunft mit überlichtschnellen Raumschiffen zwischen exotischen Sternensystemen, Rucksackraketen, Strahlenpistolen und besagte Laser-Schwerter (wie die funktionieren sollen, konnte mir noch niemand sagen).

Aber wie gesagt: Bei allem physikalischen Unsinn – prächtige Unterhaltung für alle Altersklassen. (Der Mandalorianer und Kopfgeldjäger Boba Fett in der anderen Parallel-Serie ist mir sympathischer – gerade weil er seine Rüstung immer wieder abnimmt.)

Quellen
Burroughs, Edgar Rice: Princess of Mars. (1912 ca.) New York 1912.
Coogler, Ryan (Drehbuch und Regie): Black Panther. USA 2018 (Disney).
Favreau, Jon (Idee und Showrunner): Das Buch von Boba Fett. USA 2021-22 (Disney+).
Favreau, Jon (Idee und Showrunner): The Mandalorian, Staffel 3, Episode 1 USA 2023 (Disney+).
Lucas, George (Drehbuch und Regie): Krieg der Sterne. Erster Film der Serie. USA 1977.
Schätzing, Frank: Limit. Köln 2009 (Kiepenheuer & Witsch).
Tjörnsen, Alf: In den Dschungeln der Venus. Jim Parker Heft 12. Rastatt 1954 (Pabel).
Stanton, Andrew  (Regie): John Carter – Zwischen zwei Welten. USA 2012.

296 _ #1504 _ 2023-03-07/19:10

Söder wildert auf dem Balkan

(Vorab: Die beiden Bilder, welche diesen Beitrag illustrieren, sind nur prototypisch gemeint, weil sich die Gebäude in meiner näheren Umgebung befinden – nicht, weil speziell dort Mangel herrscht.)

100 Milliarden € für die Bundeswehr 2.0 – das wurde 2022 rasch beschlossen, als der Krieg Putins gegen die Ukraine die Länder des Westens und dort ganz speziell das seit Gorbatschow aus gutem Grund sehr russlandfreundliche Deutschland aufschreckte.
Als ich meine Seminare noch im Combinat 56 abhielt, geschah dies in einem Gebäude, wo vorher seit Jahrhunderten Kasernen standen. Einer der männlichen Teilnehmer erzählte mal, er habe „hier auf dem Exerzierplatz noch im Dreck gerobbt“, als er bei der Bundeswehr seinen Grundwehrdienst absolvierte.
Tempi passati – unzählige Kasernen und Exerzierplätze wurden seit 1990 und der friedlichen Wiedervereinigung in zivile Gebäude und Plätze verwandelt – Friedensdividende nannte und nennt man das zu Recht.

Abb. 1: Alten- und Pflegeheim „Damenstift“ am Scheidtplatz in München (Archiv: JvS)

Aber warum hat man nicht aus dieser „Friedendividende“ jedes Jahr ein paar Milliarden € für den Ausbau unseres Bildungssystems und des ebenso notleidenden Pflegesystems umgewidmet?

Jeweils 100 Milliarden €uro für Bildung und für Pflege – das wäre längst nötig. Denn geht es nicht auch da um so etwas wie die „innere Sicherheit“ unseres Landes?
Lehrermangel heißt es seit Jahrzehnten (!). Dabei können die zuständigen Referenten in den Kultusministerien ganz bestimmt gut rechnen und wissen, wie viele Kinder demnächst eingeschult werden und wie viele Lehrer und Lehrerinnen man deshalb benötigt. Ich nehme auch an, dass die für den Schul-Etat zuständigen Politiker um diese Zahlen wissen – aber sie schieben das reichlich vorhandene Steuergeld lieber woanders hin. Was ihnen umso leichter fällt, weil sie wissen, dass finanziell gut gestellte Familien (auch unter den Politikern selbst?) ihre Kindern eben auf teure Privatschulen schicken, wenn die staatlichen und kommunalen Schulen nichts taugen. Das war schon immer so.
Genauso ist es mit den Pflegeeinrichtungen. Es gibt immens teure Senioren-Edel-Residenzen wie das Tertianum und das Augustinum in München und andernorts, wo man locker an die 10.000 € im Monat bezahlt und es ganz sicher keinen Mangel an – auch gut bezahlten – Pflegekräften gibt. Oder man leistet sich privat gute Pflegekräfte. Gerade erbärmlich geht es andernorts zu, wo man Pflegekräfte wirklich mies bezahlt und ausbeutet – und sich dann wundert, wenn sie abwandern. Und das ist nicht erst seit dem zusätzlichen Stress durch die Corona-Pandemie so.

Die Zwei-Klassen-Gesellschaft und ihre Nutznießer

Jetzt muss auf Putins Angriffskrieg geantwortet werden, da kommen wir an Aufrüstung und Modernisierung der Bundeswehr nicht vorbei. Und woher das Geld „nehmen wenn nicht stehlen“? Man wird es noch mehr bei Bildung und Pflege abzwacken. Und man geht in Billiglohnländer und wirbt dort das begehrte Personal ab. Unsere Politiker wildern lieber in fremden Gebieten als dass sie im eigenen Land flächendeckend für gute Arbeitsbedingungen sorgen .

Es gibt bei schon immer eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, das ist kein Geheimnis. „Weil du arm bist, musst du früher sterben“ – so prangerte ein Skandal-Film schon 1956 die Situation der Kassenpatienten an, die sich weder Chefarzt-Visiten noch komfortable Einbett-Zimmer leisten konnten (für welche die Privatkassen zahlen – gegen höhere Prämien, versteht sich – die man sich eben gönnen können muss).

Genau wie der Lehrermangel ist der Mangel an Pflegekräften nichts, was unverhofft wie die Corona-Pandemie über die Menschheit resp. Deutschland resp. Bayern hereingebrochen ist. Und nun gehen unsere Politiker auf „Abwerbetour“ in die Billiglohnländer der Nachbarschaft, um dort Personal einzuwerben – nein: abzuwerben. Wie aktuell Bayerns Markus Söder in Albanien und Rumänien.
Das muss man sich mal klar machen: Diese armen Länder haben Fachkräfte mit ihren Steuergeldern ausgebildet – und dann kommt der Herr Ministerpräsident und wirbt sie nach Bayern ab. So einfach ist das.

Viele Jahre hat man bei uns das Geld für alles nur Erdenkbare ausgeben (immer breitere Autobahnen zum Beispiel) – nur nicht für eine anständige Bezahlung von Pflegekräften. Und jetzt geht man in diese eh schon schlecht versorgten und ausgestatteten Nachbarländer und lockt deren dort ja ebenfalls dringend benötigtes (und mit viel Geld ausgebildetes) Fachpersonal ins reiche Deutschland ab.

Mehr ist dazu nicht zu sagen. Außer vielleicht dies: Schämt euch, ihr Politiker!

Abb. 2 Grundschule in Bayern (München, Dachauerstraße) (Archiv JvS)

Quelle
Gerl, Maximilian et al: „Söders Abwerbetour auf dem Balkan. In: SZ Nr. 37 vom 14. Feb 2023, S. R07 (Bayern-Teil).
May, Paul (Regie), Ernst von Salomo und Kurt Wilhelm (Drehbuch). Deutschland 1956. (Nach einem 1955 veröffentlichten Illustriertenroman von Hans Gustl.)

294 _ #1502 _ 25. Feb 2023/18:56

Putin und die Atomkriegsängste der „nützlichen Idioten“

Mitte 2022: Putin droht, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen.
21. Februar 2023: Putin kündigt einseitig den Atomwaffensperrvertrag.

Und die Atomkriegsängste der „nützlichen Idioten“ (Lenin) im Westen, vor allem in Deutschland, blühen wie in den Hochzeiten des Kalten Krieges. Merken diese Angsthasen nicht, wie willfährig sie das Geschäft des skrupellosen Mörders und Soziopathen im Kreml betreiben? Hat man nichts aus der perfiden Taktik eines Adolf Hitler gelernt, der die umgebenden Staaten Europas in der trügerischen Sicherheit wiegte, dass man mit ihm „verhandeln“ könne – obwohl er genau dies NICHT vorhatte – es niemals auch nur in Erwägung gezogen hat?

Abb. 1: Das sieht wirklich zum Fürchten aus – aber ist ein zweites Hiroshima oder Nagasaki wirklich das Problem? (Quelle: Internet)

Von Hitler lernen – heißt für das Verhalten gegenüber Putin lernen. Putin ist ein eiskalter Machttaktiker und zudem ganz deutlich ein rücksichtsloser Soziopath und Psychopath , der während seiner Geheimdienst-Karriere dreierlei vor allem gelernt hat: Dass man den Gegner am besten durch Lügen, Betrügen und Desinformation erst verunsichert und dann aufs Kreuz legt. Es ist so durchsichtig, wie er mit der Angst der Gemüter in Deutschland spielt, indem er Material liefert,
° sich vor dem „bösen Mann“ im Kreml zugleich zu fürchten („Atomknüppel“)
° und gleichzeitig zu hoffen, dass man mit ihm verhandeln könne.

Ja wie denn nun: Fürchten und vor Angst erstarren – oder Hoffnung auf rationales Verhandeln?

Putin ist ein Verrücktmacher

– wie alle Soziopathen. Dabei ist seine Taktik so durchsichtig: Er will möglichst viele „Gutmenschen“ im Westen auf seine Seite bringen und damit politische Unruhe stiften – deren einziger Zweck es ist, die westlichen Regierungen zu schwächen und zu destabilisieren.
Lenin nannte einst die Intellektuellen, welche die kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion unterstützten, seine „nützlichen Idioten“. Macht Putin etwas anderes, wenn er heute Prominente wie Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer und Prof. Jürgen Habermas auf seine Seite zieht und von „Verhandlungen “ träumen lässt?

Da gibt es nichts zu verhandeln, solange Putin resp. die russische Militärmaschine unaufhörlich Städte in der Ukraine zerstört und Hunderttausende von Menschen tötet und verstümmelt. Eine ernsthafte Verhandlungsposition sieht anders aus:

Beide Seiten stellen eine gewisse Zeit die Kampfhandlungen ein. Dann schickt man Emissäre beider Seiten an einen neutralen Verhandlungsort und bespricht dort in aller Ruhe im Beisein neutraler Beobachter die Situation.

Hat Putin auch nur ansatzweise gezeigt, dass er dieses „Verhandeln“ möchte?

Nein. Er zerstört und mordet und verstümmelt unaufhörlich und fördert damit zugleich einen Flüchtlingsstrom in die westlichen Länder, die zusätzlich politisch destabilisieren soll. Dass ist sein perfides Machtkalkül. Von der Bereitschaft, zu verhandeln, nicht die geringste Spur – nur in den Köpfen der „Friedenssehnsüchtigen“.

Aber nehmen wir den Atomknüppel mal ernst

Was könnte denn im schlimmsten Fall passieren?
° Putin zerstört mit einer Atomrakete Kiew, um die dortige Regierung und die Hauptquelle des Widerstands gegen seinen Krieg zu vernichten. Mal abgesehen davon, dass er damit die Zentrale des Gebietes auf Jahrhunderte radioaktiv verseucht (weit schlimmer als Tschernobyl) – widerspricht er damit vehement seinem eigenen Anspruch, dass die Ukraine in Wahrheit russisches Territorium ist, dass man zurückholen müsse zu Mütterchen Russland. Ein total verstrahltes Gebiet?

Abb.2: Fiktives Szenario eines EMP-Schlags gegen Russland (Archiv JvS)

° Wie würde der Westen reagieren, vor allem die USA? Letztere haben deutlich gesagt, was der Preis wäre: Die Vernichtung der russischen Schwarzmeerflotte mit konventionellen Waffen. Dazu möglicherweise auch gleich noch ein EMP-Schlag etwa 400 km über Moskau, der dort ein großes Gebiet elektronisch ausschalten würde – mit der Folge eines totalen Zusammenbruchs aller zivilen und militärischen Installationen, sämtliche Handys, Uhren und Computer und was sonst noch digital arbeitet – also im Grunde ALLES.

° Wie könnte ein zweiter Schritt Russlands aussehen? Eine Interkontinentalrakete gegen Washington? Berlin? München? Paris? Oder alles zugleich?

° Dazu wird es nicht kommen, weil schon der Atomschlag gegen Kiew die ganze übrige Welt so entsetzen würde, dass jede Unterstützung Russlands erlischt – schon aus Gründen des Selbstschutzes. Was hätten China oder Indien für ein Interesse, DIESES Russland noch weiter zu unterstützen?

° Alles, was Putin mit seinem Atomschlag erreichen würde, wäre, Russland politisch auf den Status von Nordkorea zu befördern: ein international geächteter Paria.

° Dass all dies nicht geschieht, dafür sorgt schon das Umfeld von Putin. Keiner der Generäle oder reichen Oligarchen kann ein Interesse an diesem atomaren Wahnsinn und seinen absehbaren Folgen für Russland – und vor allem für sie selbst und ihre Familien haben.

Ich kann mich irren
Vielleicht haben die „“Angsthasen“ ja recht. Aber ich weiß eines: Ich will keiner dieser „nützlichen Idioten“ Putins sein und dazu beitragen, das solche irrationalen Ängste weiter geschürt werden.

Es ist doch so durchsichtig: Ja lauter Putin vom Atomschlag schreit – umso mehr darf man dahinter vermuten, dass er in großen Problemen steckt. Weil er nicht liefern kann, was er vor einem Jahr großmäulig in die Welt hinausposaunt hat: Ich mache Kiew in drei Tagen platt.

Ganz im Gegenteil hat er in der Ukraine einen ungeheuer starken Widerstand erzeugt, hat den Westen geeint (statt ihn zu schwächen), hat er schätzungsweise schon 100.000 (hunderttausend!) russische Soldaten geopfert und sowohl die russische Militärmaschine wie die russische Wirtschaft enorm geschwächt – ganz zu schweigen von der zunehmenden politische Isolierung, in die er Russland manövriert.

Und ja: Es ist denkbar, dass Putin einen atomaren Erstschlag auslöst
Aber ist es auch sehr wahrscheinlich, dass die ganze Befehlskette ihm folgt, wenn er auf den berüchtigten „roten Knopf“ drückt? Die Atomrakete abfeuern kann nur jemand vor Ort bzw. am Anfang der militärischen Befehlskette nach Putin: Ein General – ein Technik-Soldat vor Ort – ein Techniker im Raketensilo, ein IT-Spezialist… Und alle diese Leute haben vermutlich Familie und Angst ums eigene Leben, das in einem entfesselten Atomkrieg keinen Pfifferling mehr wert wäre.
Da kann noch vieles falsch laufen: Durch „entschleunigtes Arbeiten“, fehlerhaftes Arbeiten, Befehl-Missverstehen, Befehlsverweigerung. Durch Sabotage. Oder auch durch schlichtes Versagen veralteter Technik.

Muss man sich vor alledem fürchten? Oder sollte man es nicht besser in dem Bereich lassen, wohin es gehört: in die Science-Fiction.? Eine Literaturgattung und eine Filmwelt, die ich von Kindheit an geschätzt habe und die mich mit all den Grusel-Szenarien eines Dritten Weltkriegs mit Atombomben reichlich versorgt und geplagt hat. Heute denke ich mir:

Atomkrieg? Nein danke.

Dann geht auch keiner hin.

293 _ #1285 _ 2023-02-22/20:38 Mit

Prof. Habermas: Putin ist ein Psychopath

In einem großen Aufsatz in der aktuellen Süddeutschen Zeitung (15. Feb 2023) bittet der Frankfurter Soziologe und Philosoph Prof. Jürgen Habermas geradezu händeringend darum, Deutschland und der Westen möge nicht weiter nur die Ukraine aufrüsten, sondern vor allem mit Putin verhandeln. Aber als Psychologe kann ich nur dazu sagen: Sie irren sich, Herr Professor. Philosophen und Soziologen argumentieren verständlicherweise aufgrund ihrer speziellen Deformation professionelle von einer übergeordneten Warte, in diesem Falle von der Warte der Soziologie vulgo Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie.
Aber damit kommt man gegen einen wie Putin nicht an. Deshalb argumentiere ich aus der Sicht meiner eigenen Deformation professionelle als Psychologe, der gewöhnt ist, in die Köpfe der Menschen zu schauen. Ja, das kann man und das muss man – auch wenn das immer nur heißen kann: Ernst nehmen, was diese Menschen von sich geben. Was sie wirklich denken – das kann auch der erfahrenste Psychologe nur vermuten.

Abb.: Nur so eine Science-Fiction-Fantasy: EMP-Schlag gegen Moskau – Handskizze eines Nato-Generals (Archiv JvS 2022-10-02)

Aber nehmen wir doch den Herrscher im Kreml ernst mit seinen Äußerungen. Sie lassen sich alle ganz gut zusammenfassen unter dem Etikett „Psychopath“. Wie alle Ferndiagnosen ist so etwas mit Vorsicht zu genießen. Aber wir können uns ja orientieren an Erfahrungen mit Leuten wie Adolf Hitler, von denen wir inzwischen ganz gut wissen, wie sie getickt und was sie in ihrem „Kopf“ gedacht haben – weil wir die Folgen ihres Denkens und Handelns sehr gut überblicken.
Ja, Herr Prof. Habermas, ich bin auch für „Frieden ohne Waffen“ und fürs Verhandeln, Verhandeln, Verhandeln – für das Schließen von Kompromissen, wie es eine gut funktionierende Demokratie ermöglicht und verlangt.
Aber mit Psychopathen kann man nicht verhandeln. Die andere, moderne Bezeichnung „Soziopath“ trifft es nämlich noch genauer: Einer wie Putin ist, nach allem, was man bisher über ihn weiß und was er bisher von sich gezeigt hat, ein total un-empathischer Mensch (ja, das ist er, ein Mensch und kein Alien), der auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt – nur auf sich selbst. Wenn es stimmt, dass er inzwischen der reichste Oligarch Russlands ist, und wenn man seine eigenen überlieferten Statements ernst nimmt (und das sollte man) – dann interessiert ihn nur eines: Seine eigene Rolle im Weltgeschehen und die ist:

Ich in der tollste russische Zar, noch toller und rücksichtsloser als Iwan der Schreckliche, es gibt keinen besseren neben mir.

Man kann dies leicht an Putins bisherigen mörderischen Aktionen gegen die Ukraine und deren Bewohner festmachen. Entlarvender ist jedoch, wie er seine eigenen Soldaten und sein eigenes Land und die russische Wirtschaft behandelt – nein: misshandelt: nämlich absolut rücksichtslos.

Genau deshalb kann man mit ihm nicht verhandeln. Denn wie jeder Soziopath wird er jede Verhandlung nur führen, um seinen eigenen Vorteil zu sichern und zu vergrößern – seinen persönlichen Vorteil, wohlgemerkt. Es interessiert ihn nicht im mindesten, ob das zum Vorteil Russlands und seiner Bewohner ist; das hat er bisher ja deutlich gezeigt.

Also, Herr Professor Habermas: Wie kann man mit so jemandem verhandeln? Haben Sie denn nichts gelernt aus dem Verhalten von Adolf Hitler – der aus persönlichem Revanche-Denken unbedingt einen weiteren Weltkrieg wollte und jede Verhandlungsbereitschaft der politischen Gegner nur zu einem benützte: Seinem persönlichen Vorteil. Das hieß, Reichskanzler zu werden und zu bleiben und der GröFaZ zu sein: „Der größte Führer aller Zeiten“. Das war ein politischer Witz im Dritten Reich – aber es war leider die bittere Wahrheit. Nicht einmal die Niederlage von Stalingrad 1943 konnte Hitler zu Verhandlungen bereit machen. Er wollte sogar („Nero-Befehl“) lieber den Untergang Deutschlands und der Deutschen als einzusehen, dass er sich geirrt hatte – und aus dem großmäuligen „Tausendjährigen Reich“ gerade mal lächerliche zwölf Jahre geworden waren und der totale Untergang dieses Dritten Reichs.

Und ja: Prof. Habermas hat recht, wenn er betont, dass die Ukraine „den Krieg nicht verlieren darf“. Aber wie soll das gehen, wenn man einen Eiertanz aufführt, bei dem „die andere Seite nicht das Gesicht verlieren darf“?

Mit Putin ist das unmöglich. Er hat mit der Annexion der Krim 2014 gezeigt, dass er Vabanque spielen und gewinnen kann. Kostete ja nur ein paar Tausend Soldaten und Zivilisten das Leben, nicht die eigenen Kinder. Seit dem 28. Februar 2022 versucht dieser Hasardeur und Pausenhofschläger dasselbe Vabanque-Spiel mit der ganzen Ukraine und opfert inzwischen (die ukrainische Seite eingerechnet) Hunderttausende Soldaten und Zivilisten (darunter unzählige Kinder).
Auch Putin betrachtet sich als GröFaZ. Das sieht man daran, wie er seine Generäle und Mitarbeiter und ausländische Emissäre behandelt – an diesem irrsinnigen größenwahnsinnigen Tisch (!). Und wie er diesen Krieg gegen einen theoretisch weit unterlegenen Gegner führt: Mit einer Fehlentscheidung nach der anderen und absolut beratungsresistent.
Warum zieht man daraus nicht die einzige sinnvolle Schlussfolgerung: Verhandeln ja, unbedingt – aber nur mit Putins Nachfolgern (die man entsprechend hofieren und präparieren sollte) – niemals mit dem Psycho-Soziopathen Putin selbst.

Deshalb sind Putin-Versteher und Putin-Freunde (wie der frühere Bundeskanzler Schröder) absolut ungeeignet, weil „freundschaftsblind“. Und politische Totalversager wie Putin-Versteher Donald Trump (die in dem Kreml-Herrscher nur ihr eigenes Spiegelbild wiederfinden) sind es ebenfalls.

Es ist hochinteressant, dass die SZ die Ausführungen von Prof. Habermas, denen sie fast zwei Zeitungsseiten einräumt, mit einem zwar wesentlich kleineren, aber sehr aufschlussreichen Artikel des erfahrenen Politikjournalisten Kurt Kister begleitet, um nicht zu sagen: konterkariert. Dieser Beitrag ehrt den greisen Frankfurter Philosophen, hinterfragt jedoch seine Haltung „Verhandeln um (beinahe) jeden Preis“ doch sehr deutlich.

Ein Verdacht

Vielleicht ist es ja so, dass man der Ukraine Kampfjets und anderes moderne Kriegsgerät nur deshalb so zögerlich liefert, weil der Westen (vor allem die USA) es nicht ungern sähen, wenn Russland in einem jahrelangen Stellungs- und Abnützungskrieg zunehmend geschwächt und wirtschaftlich ausgeblutet wird. Um gewissermaßen geopolitisch zu vollenden, was in den 1990er Jahren mit dem Ende der Sowjetunion nur teilweise gelang. Die Ukraine bekommt dabei zu wenig zum Leben – und zu viel zum Sterben. In Israel funktioniert diese Strategie des Stellvertreterkriegs ja seit 1948 recht gut.
Zur Deformation professionelle von Militärstrategen und westlichen politischen Führern könnte das ganz gut passen.
Aber das ist nur mein Verdacht, wie gesagt.

Für´s Poesiealbum:

„Die Psychopathen sind immer unter uns. In kühlen Zeiten begutachten wir sie – in heißen Zeiten regieren sie uns.“ (Ernst Kretschmer 1929).
„Ich glaube, der Beitrag der Soziopathen in ruhigen Zeiten wird noch immer unterschätzt…“ (K.R. Eissler 1968).

Quellen
Eissler, K.R.: „Zur Notlage unserer Zeit“. (1968). In: Psyche, Jg. 22,  S. 641-657) und in Scheidt 1975, S. 275.
Habermas, Jürgen: „Ein Plädoyer für Verhandlungen“. In: SZ Nr. 38 vom 15. Feb 2023, S. 10/11 (Feuilleton).
Kister, Kurt: „Was treibt diesen Mann?“ (gemeint ist Habermas). In: SZ Nr. 38 vom 15. Feb 2023, S. 10/11 (Feuilleton).
Kretschmer, Ernst.: Geniale Menschen. Berlin 1929, S. 20.
Scheidt, Jürgen vom (Hrsg.): Psychoanalyse. München 1975 (Nymphenburger Verlagshandlung).

292 _ #1502 vom 15. Feb 2023/12:53

Atlantis ging unter, Herr Maaßen!

Wer nach mit einem zugkräftigen Namen für ein Projekt sucht, landet leicht bei Bezeichnungen aus den alten Mythen, die für etwas ganz anderes stehen als das, wofür man zu werben meint. Ein schönes Beispiel dafür ist der tragische Held Ikaros (auch: Icarus) der Labyrinth-Sage. Den nimmt man gerne als Namen für Unternehmen, die zu (geistigen oder realen) Höhenflügen führen sollen – nicht bedenkend, dass der arme Kerl bei seiner Flucht aus dem unterirdischen Labyrinth-Verließ leider tödlich abstürzte – während seinem genialen Vater Daidalos eben diese gemeinsame Flucht gelang – mit Hilfe der von ihm erfundenen künstlichen Flügel.
Ein Beispiel für diese Art von Missgriff ( Zufallsfund in der Süddeutschen Zeitung):
I.C.A.R.U.S ist ein Forschungsproject mit diesem pfiffigen „sprechenden“ Akronym. Das ist einerseits sehr passend – denn hier geht es wirklich ums Fliegen wie in der Labyrinth-Sage – aber andrerseits als Name für ein Forschungsvorhaben doch etwas fragwürdig, weil das eben auch das mögliche „Abstürzen“ des Projekts beinhaltet.

Abb. 1: Der Sturz des Ikaros – Abb. 2: Der Untergang von Atlantis (Zeichnungen: Alfred Hertrich 1995 bzw. 1955)

2021 hat Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Chef des deutschen Verfassungsschutzes, der so desaströs an den rechtsradikalen Rand der Gesellschaft gedriftet ist, in der Schweiz heimlich eine Stiftung gegründet. Mit der will er angeblich „Volksbildung, Toleranz und Völkerverständigung“ fördern, obwohl manche seiner aktuellen Statements von der Unterwanderung der deutschen Bevölkerung durch fremdrassige Migranten-Eindringlinge handeln und vor Verschwörungs-Schmarrn und Antisemitismus triefen.
Pech nur, dass er für diese Stiftung ausgerechnet die Bezeichnung Atlantis gewählt hat – den Namen jenes sagenhaften Kontinents, der in den Fluten des Ozeans versunken ist.

Quellen
Baier, Tina: „Martin Wikelski: Erfinder des Internets der Tiere“. In: SZ Nr. 157 vom 10. Jul 2019, S. 04.)
„Achtzehn Jahre ist es her, seit Martin Wikelski in Panama den Fleckenbrust-Waldwächter erforscht hat. Der heute 53-jährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell baute damals mit Kollegen mitten im Dschungel 40 Meter hohe Gerüste, um die Vögel von oben zu beobachten. Noch besser wäre es, die Tiere aus dem Weltraum sehen zu können, meinte einer aus dem Team. Es war ein Witz, doch die Idee ließ Wikelski nicht mehr los. Wenn alles nach Plan läuft, wird seine Vision an diesem Mittwoch Wirklichkeit: Das Projekt Icarus (International Cooperation for Animal Research Using Space), das der Professor für Ornithologie an der Universität Konstanz leitet, nimmt die Arbeit auf. Wenn die Icarus-Antenne an der Außenseite der Internationalen Raumstation (ISS) aktiviert ist, wird sie Signale von kleinen Sendern auf dem Rücken von Vögeln, Fischen und Säugetieren auf der ganzen Welt empfangen. Und Wikelski kann fast live und gleichzeitig die Bewegungen von Flughunden im Kongo, von Enten in China und von Amseln in Deutschland verfolgen.“

Pittelkow, Sebastian mit Katja Riedel und Jörg Schmitt: „Herr Maaßen geht stiften“. In: Südd. Zeitung Nr. 37 vom 14. Feb 2023, S. 06

291 _ #1501 vom 14. Feb 2023/14:59