Bei der Suche nach einem passenden Symbol für das, was ich im Rahmen des Konzepts der MultiChronie als ZeitLinien bezeichne, fielen mir sofort die Saiteninstrumente ein. Aber die klassische Gitarre hat nur fünf Seiten – ein bisschen wenig für die Themenvielfalt eines ganzen Lebens. Dann dachte ich an eine Zither: Die hat immerhin 32 bis 42 Saiten, ist mir aber zu folkloristisch.
Wie wäre es mit der Sitar, die ich sehr schätze? Sie hat 7 Melodiesaiten und 13 Resonanzsaiten – also insgesamt 20 Saiten. Also auch etwas wenig „Themenvielfalt“ – so virtuos ein Meister wie Ravi Shankar oder seine Tochter Anoushka Shankar darauf zu spielen wissen.
Dann fiel mir die Harfe ein: 48 Saiten! Das ist doch was, mehr dürfte es kaum geben. Außerdem gefällt mir gut, dass sie eigentlich nur von Frauen gespielt wird. Gestört hat mich allerdings ihre typische Zugehörigkeit zu Klassik, wo sie nach meiner Beobachtung eine eher „ätherische“ Nebenrolle spielt, gezupft von einem engelhaften Wesen in wallendem Gewand – nicht so recht meine Welt.
Aber hallo! gibt es nicht einige ganz verwegene Harfinistinnen, die dieses großräumige Instrument für eine ganz andere Musikwelt entdeckt haben, die mir näher ist: den Jazz?
Eine Google-Recherche hat mich überzeugt: Es gibt in der Tat etliche kühne Frauen, die mit der Harfe im Jazz experimentieren – in einer Liga mit den männlichen (und weiblichen) Dudelsackspielern, Akkordeonspielern und Virtuosen auf der Mundharmonika in diesem Genre. Das hat mich überzeugt:

Die Harfe ist also ab jetzt mein Symbol für die ZeitLinien, von denen ich im einzelnen unterscheide:
ZeitFaden: Die vertikale psychische Verbindung (und physische Abspeicherung im Gedächtnis) vieler Ereignisse und Erinnerungen zu einem bestimmten Thema. Wichtige Themen wie das „Schreiben“ bekommen von mir sogar eine Farbe zugeordnet (Schreiben = roter Faden, Science-Fiction = blauer Faden, Geld-Themen brauner Faden und so weiter).
Mehrere ZeitFäden sind (emotional psychisch wie physiologisch abgespeichert) verbunden zu einem ZeitStrang.
Mehrere ZeitStränge bilden ein → ZeitSeil und mehrere ZeitSeile sind verknüpft zu einer → ZeitTrosse. Ein Beispiel für letzteres:
Eine ZeitTrosse ist ein ganz besonders wichtiger und somit „dicker“ Themen-Komplex im Leben eines Menschen. So eine Trosse (Beispiele: Mutter, Vater, Heimat) besteht aus mehreren ZeitSeilen, diese aus mehreren Zeit-Strängen und diese wiederum aus mehreren ZeitFäden.
Beispiel für ein ZeitSeil: Musik. Diese besteht bei mir aus mehreren ZeitSträngen wie
° Jazz,
° Indische Musik,
° Klassische europäische Musik
° und als besonders exotische Variante die Klänge der Didgeridoo der australischen Ureinwohner.
Der ZeitStrang Jazz wiederum (Zeitanker: 1954 erste Füllschriftplatte „Whoddin´ with Woodie: Woody Herman and his Herd“, vorgespielt von dem ein Jahr älteren Klaus Schenk, Sohn vom Rechtsanwalt Schenk) besteht bei mir aus mehreren ZeitFäden:
° Lokaler Band-Jazz mit Münchner Gruppen wie der Riverboat Seven,
° Rhythm´n´Blues schwarzer Gruppen (den ich viele Jahre gesammelt habe),
° New Orleans Jazz à la Louis Armstrong,
° Bigband Jazz von Count Basie, Duke Ellington und Benny Goodman (Zeitanker: Das „Carnegie Hall Concert von 1936“ – erstmals gehört von den gerade aufgekommene Longplays 1957 bei Walter Ernsting in Irschenberg),
° Modern Jazz des Modern Jazz Quartett (mit dem mich etwa 1959 Lothar Heinecke vom Science-Fiction-Club vertraut machte),
° noch moderner bis hin zum Free Jazz Ornette Coleman und John Coltrane.
Ein ZeitAnker ist jeweils der Anfang einer ZeitLinie im Leben eines Individuums – die früheste Erinnerung oder Datierung eines Erlebnisses.
Persönliches Beispiel: Nachdem ich (im Februar 1940 geboren) in den ersten fünf Jahre kriegsbedingt keinen Vater hatte, tauchte dieser im Juni 1945 unverhofft bei uns in Rehau auf, geflohen aus amerikanischer Gefangenschaft. Etwa um diese Zeit im Sommer brachte er mir das Lesen der Uhrzeit bei. Meine erste bewusste Erinnerung an ihn – und eine sehr ambivalente dazu. Denn weil ich nach seiner Anleitung nicht gleich „wie aus der Pistole geschossen“ (ja, der Krieg mit seinen Metaphern!) die korrekte Zeit auf der Küchenuhr nennen konnte – bekam ich zur Ermunterung eine Ohrfeige. Ein mieses Stück Schwarzer Pädagogik und kein guter Start in eine Vater-Sohn-Beziehung, schon gar nicht, wenn man bereits fünf Jahre alt ist und bis dahin neben dem Großvater Karl die männliche Hauptperson im Haus war.
Aber so ist das nun mal im Leben: Nicht alles fängt gut an. Ich habe sogar, seit mir das bewusst geworden ist, den Verdacht, dass mein „Kampf“ während der gesamten Schulzeit bei gleichzeitigem großen Interesse an dieser geheimnisvollen abstrakten Welt der Zahlen mit dieser Schlüsselszene aus dem Sommer 1945 zusammenhängt – eine Ambivalenz, die mich 14 Jahre später, 1959, beinahe das Abitur gekostet hätte. Aber das ist eine andere Geschichte, die dort erzählt werden soll: → Abitur als Heldenreise .
Was den Titel dieses Beitrags angeht: Die meisten Leser werden verstanden haben, worauf ich mich mit diesem „Spiel dir das Lied vom Leben“ beziehe: der Western-Klassiker Spiel mir das Lied vom Tod – mit Charles Bronson in der Hauptrolle des harmonikaspielenden Rächers.
Ich denke, man kann gar nicht früh genug damit anfangen, die eigene ZeitHarfe immer wieder mal zu zupfen und sich zu erinnern, aus welche Fäden, Strängen, Seilen und Trossen das eigene Leben besteht.
Diese Bezeichnungen stammen übrigens aus der Welt der Schifffahrt (was bei mir wiederum einen dicken Tampen bewusst macht, der mit meinem Vater und unserem Segelboot auf dem Starnberger See von 1957 bis 1974 zu tun hat -. und damit, dass mein Vater etliche Jahre als Steward zur See gefahren ist, auf so großen Pötten wie dem Columbus und der Bremen des Norddeutschen Lloyd in den Jahren 1929 bis etwa 1934. Man kommt ihnen einfach nicht aus diesen Erinnerungs-Fäden.
Und ist, um dies abzuschließen, das nicht auch ein schöne Metapher, sich vorzustellen, dass die eigene Persönlichkeit mit ihrer kostbaren Fracht der Erinnerungen auf dem Meer des (weitgehend) Unbewussten dahingleitet, von dem eben diese Fäden, Stränge, Seile und Trossen herabhängen…
Gute Reise! Und sei es nur auf den Seiten eines „Logbuchs der Erinnerungen“.
307 _ aut #1670 _ 2023-05-24/21:10 Mit