RITALIN-Erfahrungen und ADHS

(Vorab: Weil ich bei den Arbeiten zu meiner Autobiographie gerade beim Stichwort „ADHS“ angelangt bin, publiziere ich erneut einen älteren Beitrag der inaktiven Version meiner Website „iak-talente.de“.)

Hier geht es um einen Selbstversuch mit einer Substanz, die man nur mit großer Vorsicht anwenden sollte. Anlass für dieses Experiment war das ADHS, das mich schon seit der Kindheit plagt.
„Kein Ding ist ohne Gift“, sagte schon Paracelsus (1493-1542), „die Dosis macht´s, ob es ein Gift ist oder nicht.“
Ritalin dürfte – auch bei suchtähnlichen Missbrauch – kaum tödlich sein. Aber dieses Amphetamin hat´s in sich, wie alle modernen potenten Designer-Drogen. Es steht jedoch außer Frage, dass es helfen kann, sich besser zu konzentrieren. Aber diese (zeitweilige) Verbesserung hat ihren Preis.
Den folgenden Text habe ich aus einem Vorläufer dieses Blog übernommen, und zwar unverändert – als Archiv-Dokument. Deshalb auch die nicht mehr aktuelle Rechtschreibung.

Abb.: Dieses Bild soll symbolisch für die „Zappligkeit“ von ADHS stehen wo man sich ja immer ein wenig „unter Strom“ fühlt. Um es zu finden, gab ich in der Suchmaske „Stormy Weather“ ein. (Photo by Ralph W. lambrecht on Pexels.com)

Hirndoping bei uns in Deutschland (07. Sep 2008)

„Der Verbrauch des Betäubungsmittels Methylphenidat, das zumeist hyperaktiven Grundschülern verabreicht wird, hat sich abermals dramatisch erhöht. . . Wurden 1993 noch 34 Kilogramm verbraucht, waren es im vergangenen Jahr [2006] 1221 Kilogramm – eine Steigerung um 3591 Prozent.“
Diese – inzwischen sicher längst überholte – Meldung entdeckte ich erst dieser Tage zufällig im Archiv in einem Exemplar des Spiegel (Nr. 22 vom 26. Aug 2007).
Es handelt sich vorwiegend um Ritalin, sowie um die ähnlich wirkenden Mittel Medikinet und Concerta.
In diesem Zusammenhang möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass meine folgenden persönlichen Erfahrungen wirklich als das betrachtet werden sollten: meine persönlichen Erfahrungen mit Ritalin.

Hirndoping in den USA (20. Mai 2008)

In den wissenschaftlichen Blogs von scilogs.de fand ich einen Beitrag von Stephan Schleim zum Thema „Hirndoping in den USA“. Darin ging es auch um Ritalin und um die völlig überzogenen Behauptungen von Experten, wie viele Leute dieses und andere Anregungs- und Aufputschmittel, Stimmungsaufheller und Lern-Verstärker zu sich nehmen. Sehr lesenswert!
Was Ritalin angeht, so habe ich meinen Selbstversuch wieder aufgenommen. Weil ich an so etwas ähnlichem wie ADHS schon seit der Kindheit leide („Zappel nicht so herum“ war ein typischer Ausruf meiner Mutter – in der Schule still zu sitzen war meistens eine Qual für mich), hatte ich mir vor einigen Jahren aus reiner Neugier von einem Neurologen Ritalin verschreiben lassen (Details s.u.).
Um mich bei der Arbeit an einem sehr komplizierten neuen Buch besser konzentrieren zu können, nehme ich wieder, wie schon zuvor, pro Woche (!) eine Pille mit 10 Milligramm (= eine Standardtablette). Sie lässt sich ganz gut in sechs bis sieben etwa gleichgroße Stücke zerbrechen, von denen ich eines am Morgen nüchtern einnehme (also rund 1,5 mg).
Die Wirkung ist erstaunlich: das ist wie ein kleiner Kick, eine Art Aufhellung der Stimmung, die deutlich wahrnehmbar ist; zugleich hilft mir die Wirkung, mich besser zu konzentrieren. Wohlgemerkt: bei einer fast homöopathisch winzigen Dosis.
Wenn ich bedenke, dass eine Standard-Verschreibung für Kinder (!) gelegentlich sogar 3 x 10 Milligramm täglich beträgt – also die gut 20-fache Dosis – dann muss ich mich schon sehr wundern. Denn es besteht kein Zweifel:
„Kein Ding ist ohne Gift, die Dosis macht´s, ob es ein Gift ist oder nicht.“
So formulierte es Paracelsus (1493-1542), schon vor einem halben Jahrtausend, und ich zitiere ihn hier nochmals, weil das Gesagte wirklich mehr als aktuell ist.

„Nix dazug´lernt – oder zu geldgierig?“ – das ist meine Frage an die Pharmaindustrie. Und natürlich auch an die verschreibenden Ärzte – und an die Eltern dieser Kinder.

Nachtrag (9. Aug 2007)

Wenn ich mit einigem Abstand darüber nachdenke, was eigentlich die positive Wirkung von Ritalin bei mir war, dann im Grunde nur diese eine: Das Mittel verpasst einem (auch in der von mir verwendeten und empfohlenen winzigen Dosis von 1 x täglich 0,6 mg) am Morgen einen kleinen Kick. Der genügt, um den Tag besser zu strukturieren.
Es handelt sich also in der Tat (wie Richard DeGrandpre – s.u. Bibliographie) vermutet, um die Wirkung einer kokain-ähnlichen Substanz, also um ein sehr kräftiges Amphetamin.
Man wird ja immer erst hinterher schlauer: Als ich überlegte, wie man sich diesen kleinen Kick auch anders beschaffen kann (und zwar gerade nicht durch eine andere Droge wie Koffein im morgendlichen Tee oder Kaffee – weil das nur nervös macht und die Konzentration stört), fiel mir zweierlei wieder ein:

  1. Der wohl praktischste Tipp, den mir mein erster Psychoanalytiker in einer sehr depressiv-passiven Lebensphase während des Studiums gab: „Renn den Schuttberg hoch“. Der Münchner Schuttberg befand sich damals sehr nah bei meiner Bude – und als ich diesen Rat befolgte, ging es mir in der Tat bald besser. (Das war natürlich kein Ersatz für die Therapie – aber eine ungemein wirkungsvolle Lebenshilfe.)
  2. Als 14-jähriger Jugendlicher las ich eine Annonce über das Muskeltrainingsgerät Expander, kaufte mir eines vom ersparten Taschengeld und begann ernsthaft zu trainieren.

Auch heute noch, inzwischen 83jährig, mache ich jeden Morgen Yoga (ebenfalls eine wunderbare Möglichkeit, sich zu konzentrieren und in den Tag zu kommen) – und ich hänge noch eine reine Kraftübung dran (das können zwei Dutzend Liegestütze sein oder etwas ähnliches). Der Witz der Kraftübung ist ein zweifacher:
° Man spürt schon nach einigen Tagen erste Erfolge, d.h. man schafft mehr Übungen als beim ersten Mal, und jedes körperliche Erfolgserlebnis ist unübertrefflich.
° Man produziert die körpereigene Substanz Endorphin – die sehr treffend auch als Glücksdroge bezeichnet wird – weil sie in der Tat ein kleines Glücksgefühl hervorruft . Was braucht man mehr, um gut in den Tag zu kommen?
Und man beginnt zu verstehen, warum der einstige Bodybuilder ARNOLD SCHWARZENEGGER immer so gut drauf war und ist – als Sportler, als Schauspieler und eine Weile auch in Kalifornien Gouverneur des sechswichtigsten Wirtschaftsgebiets der Erde. Er macht nach wie vor seine Körperübungen; aber als junger Mann muss er durch das exzessive Bodybuilding Unmengen von Endorphin produziert haben. Da braucht man gar keine zusätzlichen Dopingmittel mehr.

Einfach selbst ausprobieren. Das Ganze ist außerdem noch gratis.

Zwei wichtige Tipps vorweg, die mir bei Ritalin geholfen haben:
° Wenn irgend möglich, nur eine sehr (!) kleine Dosis verwenden! (Ich nahm 1 x morgens ein Sechstel einer 10-mg-Tablette).
° Immer wieder kleine Ruhepausen einlegen (etwa alle zwei Stunden fünf bis zehn Minuten irgendwo flach hinlegen genügt) – man powered sich sonst zu sehr aus.
Und hier noch zwei neue Buchempfehlungen:
Sehr nachdenklich machte mich Die Ritalin-Gesellschaft: Eine Generation wird krankgeschrieben von Richard DeGrandpre (Weinheim 2005, Beltz). Unbedingt lesen, bevor man sich selbst in dieses Abenteuer stürzt!
Sehr lesenswerte Beiträge findet man außerdem in dem von Thilo Fitzner und Werner Stark herausgegebenen Sammelband Genial, gestört, gelangweilt?. Den Untertitel „ADHS, Schule und Hochbegabung“ könnte man allerdings gut ergänzen durch „speziell bei Mädchen“.

Und nun zur Sache:

Inhalt:
Allerletzter Stand meines Selbstversuchs: 14. Okt 2006
Letzter Stand meines Selbstversuchs: 10. Nov 2005
Vorab eine notwendige Anmerkung…
Ritalin in meinem Buch „Das Drama….“
ADHS, Hochbegabung und Ritalin
Eigene Erfahrungen mit Ritalin
Mein Selbstversuch im Detail (14. März 2003 bis 16. Aug 2006)
Zusammenfassung des Selbstversuchs
Gefährliche Hochdosierungen
Wie Ritalin vermutlich psychisch wirkt
Nachtrag vom 12. Nov 2004
MultiChronalia (Nachtrag vom 01. Mai 2023)

Allerletzer Stand meines Selbstversuchs: 14. Okt 2006

Am 16. Aug 2006 nahm ich zum letzten Mal die bislang verwendete Tagesdosis: ein Sechstel einer 10-Milligram-Tablette. Danach fuhr ich fünf Wochen ins Wallis, für zwei Wochen-Workshops und drei Wochen Ferien. Danach ergab es sich wie von selbst, mit dem ganzen Experiment aufzuhören.
Ich bemerkte keinerlei Entzugserscheinungen. Was auch nicht zu erwarten war bei der geringen Dosis.
Fazit des Gesamtversuchs, der fast zweieinhalb Jahre dauerte (14. März 2003 bis 16. Aug 2006): Interessante Erfahrung, ohne spürbare Nachteile.
Wichtigstes Ergebnis: Der wesentliche Effekt ist wohl der kleine „Kick am Morgen“, der „Tritt in den Hintern“, der einen aktiv werden lässt. Das läßt in der Tat auf eine Verwandtschaft zu aufputschenden Drogen wie Kokain schließen. Für jemanden wie mich, der gerne träumt und sinniert, und das stundenlang, eine gute Erfahrung.

Wichtigste Erkenntnis : Ich kann nur zu großer Vorsicht raten, sobald höhere Dosierungen verwendet werden, schon gar bei Kindern.

  1. Letzer Stand meines Selbstversuchs: 10. Nov 2005

Ich nehme weiterhin jeden Morgen ein Sechstel (= ca. 1,7 mg) einer 10-Milligramm-Tablette. Das genügt für einen guten Start in den Tag.
Wenn ich ein Seminar leite, lasse ich das Ritalin weg.
Der Grund für beides ist meines Erachtens, dass mir das Medikament hilft – wie auch immer (vergl. auch unten 8. Wie Ritalin psychisch wirken könnte) – ein wenig mehr psychische Struktur zu bekommen, mit der ich besser gegen die Verlockungen der Sprunghaftigkeit meiner Aktivitäten gewappnet bin, die den Hyperaktivitäts-Aspekt eines ADH-Syndroms auszeichnen.
Vielleicht ist es ja auch nur der kleine Kick guter Laune, den das Amphetamin mir verschafft?
Wenn ich ein Seminar leite, ist durch den vorgegebenen Tagesablauf mit seinen klaren Strukturen offensichtlich das Medikament überflüssig. Und gute Laune habe ich vor einem Seminar einfach deshalb in den meisten Fällen – weil ich gerne Schreib-Seminare durchführe. That´s it.
Auf jeden Fall kann hier nur das noch herausheben, was ich weiter unten näher ausführe: Wenn man Ritalin bei sich (oder bei anderen – z.B. den eigenen Kindern) anwendet – dann sollte man nicht mit den – m.E. oft sehr leichtfertig verschriebenen hohen Dosierungen beginnen (z.B. dreimal täglich zehn Milligramm).
Die Pillen lassen sich leicht halbieren (das sind dann nur noch fünf mg) und jede dieser Hälften nochmals in drei etwas gleich kleine Stückchen zerbrechen. Es muss ja nicht exakt die selbe Dosierung sein – durchschnittlich 10,00 mg : 6 = 1,66 mg – das tut es m.E. auch.

Steigern kann man die Dosierung dann immer noch – wenn sich beispielsweise im Verlauf einer Woche keine fühlbare Änderung zeigt.
Und immer mit einbeziehen: Es lässt sich auch in der Umwelt einiges ändern, was Chaos mindert und für bessere Strukturen sorgt.
Was Schulkinder angeht, so sollten alle Eltern, Lehrer, Psychologen etc. sich eines klar machen:
Die Situation in den heutigen Schulen ist für heutige Kinder in höchstem Maße chaosfördernd! Und dort müsste dringend vieles (!) geändert werden.
Dann bräuchte man irgendwann wahrscheinlich kein Ritalin mehr.

  1. Vorab eine notwendige Anmerkung…

… an die Adresse jener Leser, die meine Empfehlung von Ritalin im Buch Das Drama der Hochbegabten in den „falschen Hals“ bekommen haben und mir vorwerfen, ich würde den Konsum dieses „Teufelszeugs“ propagieren:
Wie ich gleich noch ausführe, nehme – und empfehle – ich höchstens ein Viertel bis ein Sechstel der üblicherweise von den Ärzten verschriebenen Tagesration von 3 x 10 Milligramm und mehr. Ich zerbreche die Standardtablette (10 mg) in vier (inzwischen: 8. Juli 2005) einigermaßen gleich große Teile und nehme täglich, gleich nach dem Aufwachen, diese 1,6 Milligramm ein. Das ist alles.

  1. Ritalin in meinem Buch „Das Drama….“

In meinem Buch Das Drama der Hochbegabten erwähne ich (auf S. 166 f. und S. 355), dass ich während der Arbeit am Manuskript das Medikament Ritalin genommen habe, um meine – vermutete – ADH-Syndromatik in den Griff zu bekommen. Für nähere Details verwies ich hierher auf die Website.
Ich will diese versprochenen Informationen nun gerne liefern. Weiter unten (s. blaue Schrift) stelle ich zum besseren Verständnis diese Stelle (wie im Buch auf S. 166 und 167) nochmals vor.

  1. ADHS, Hochbegabung und Ritalin

(Zitiert aus meinem Buch Das Drama…, S. 166 f.:)
Viele Beobachtungen deuten darauf hin, dass übergroße Unruhe typisch für viele Hochbegabte ist. Seit einigen Jahren gibt es großen Rummel um eine neue Krankheit namens ADHS, das „Aufmerksamkeits-Defizit Hyperkinetische Syndrom“, auch als „Zappelphillip-Störung“ bezeichnet.
Früher nannte man ähnliche Anzeichen „Vegetative Dystonie“, „Neurasthenie“ oder ganz schlicht „Nervosität“. Man findet vor allem das letztere Schlüsselwort in vielen Biographien, zum Beispiel bei Sigmund Freud, der es in einem Brief an seine Verlobte am 27. Januar 1886 so ausdrückte:
„Ein Instrument habe ich mir gekauft, einen Dynamometer, um meine eigenen nervösen Zustände zu studieren.“ Und wenige Tage später, am 2. Februar: „Meine Müdigkeit ist nämlich ein Stück Krankheit, Neurasthenie heißt man es […] meine Nervosität.“
Nach einem Besuch bei seinem Pariser Mentor Charcot notiert Freud: „Ich war ledern bis zum Zerplatzen, nur das bißchen Cocain hat mich davor bewahrt. Denke Dir: vierzig bis fünfzig Leute diesmal…“ (2. Feb 1886, S. 125)
Über den ungarischen Mathematiker Paul Erdös notiert sein Biograph, er war „eine äußerst nervöse und zappelige Person, ständig hüpfte er hin und her oder schlenkerte mit den Armen.“ (Hoffman 1998, S. 122)
Leibniz war berüchtigt für seine Sprunghaftigkeit, die ihn ständig neue Projekte angehen und so manches nicht vollenden ließ.
Freud verschrieb sich selbst mehr als drei Jahre lang ziemlich kräftige Dosen Kokain, das ähnliche Effekte wie das Amphetamin Ritalin hervorruft, jenes neue Wundermittel für ADHS-Patienten. Andere nervöse Hochbegabte haben entdeckt, dass Nikotin – neben anderen Wirkungen – auch einen stimulierenden Effekt hat.
(Ergänzung: Freud erforschte 1884-86 das Kokain als Stimulans und vielseitiges Medikament und wusste, wie auch die übrige wissenschaftliche Welt, zunächst noch nichts von der Gefährlichkeit dieser südamerikanischen Droge!)

Coffeîn im Kaffee und Tee können ähnliches bewirken und sind deshalb aus unserer modernen Zivilisation nicht wegzudenken.
Alkohol und Haschisch können nervöse Unruhe dämpfen, wenn man nicht zu viel davon zu sich nimmt.
All dies sind Möglichkeiten der Selbstmedikation, die Intellektuelle gerne nützen, um sich zu beruhigen.
Die amerikanischen Ärzte Hallowell und Ratey schreiben in ihrem Buch Zwanghaft zerstreut, die ADHS-Patienten seien „häufig kreativ, intuitiv, hochintellligent .. mitten in ihrer Zerfahrenheit haben Erwachsene […] Phasen geistiger Brillianz.“
Zur Behandlung dieser Störung wird gerade bei Kindern Ritalin verschreiben, immer häufiger und in erschreckend hohen Dosen. Ich halte dies für geradezu kriminell, vor allem, wenn man die Kinder vorher nicht testet. Denn eine gewisse Nervosität und leichte Ablenkbarkeit ist wirklich charakteristisch für Hochbegabte und macht ihnen zu schaffen – siehe das Freud-Zitat. Es ist wohl ein Resultat ihrer schnelleren Gehirntätigkeit, die solche Menschen dazu verführt, viele Dinge gleichzeitig zu tun.
Ich möchte hier nicht gegen Ritalin polemisieren, schon deshalb nicht, weil ich selbst gute Erfahrungen damit gemacht habe. Ich kenne diese übergroße Nervosität nur zu gut, von Kindheitstagen an. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann und dabei auf den Zusammenhang „Hochbegabung – ADHS – Ritalin“ stieß, wurde ich neugierig und ließ mir das rezeptpflichtige Medikament verschreiben. Statt der angegebenen Menge von zehn Milligramm pro Tag nahm ich jedoch nur ein Viertel davon, also 2,5 Milligramm. Die Wirkung war deutlich und sehr positiv; vor allem konnte ich viel konzentrierter arbeiten.
Die üblichen hohen Dosen, bis zu dreimal täglich zehn und mehr Milligramm und das bei Kindern mit dem halben Körpergewicht – das halte ich schlicht für einen Kunstfehler.

  1. Meine eigenen Erfahrungen mit Ritalin

Ich hatte bereits 33 Bücher geschrieben und veröffentlicht und mir war nicht unbekannt, dass es mir bei der Arbeit an einem Manuskript schwer fällt, mich zu konzentrieren. Ich hatte mit denselben Schwierigkeiten während meines gesamten Studiums zu kämpfen. Und natürlich auch schon davor während der gesamten 13 Jahre der Schulzeit.
Was mir erst durch die Recherchen zum Thema Hochbegabung bewusst wurde (nämlich als ich auf das Buch von Hallowell und Ratey stieß), war, dass ich wohl mein ganzes Leben lang offenbar unter so etwas wie ADHS gelitten habe. Neugierig geworden und schon des Experiments halber ließ ich mir von einem Facharzt für Neurologie Ritalin verschreiben.
Und siehe da: Es half. Es half sogar ganz phantastisch. Ich war viel konzentrierter und konnte von da an mein Buch zügig aus der Fülle des vorhandenen Materials (meistens Rohtexte in meiner Datenbank – gut 4.000 an der Zahl) gestalten und endlich das Manuskript schreiben.
Vor allem jedoch erfüllte mich ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit. Das schloss nicht aus, dass ich immer wieder auch die gewohnte körperliche Nervosität spürte – aber sie blieb im Körper – mein Kopf, mein Bewusstsein, mein Denken war frei davon.
Sehr wichtig war, dass ich – einer unbewussten Intuition folgend – die übliche Dosis (bis zu dreimal täglich zehn Milligramm) drastisch reduzierte. Ich zerbrach jede Pille zweimal, sodass jeweils vier Bruchstücke mit rund 2,5 Milligramm entstanden (später nochmals reduziert, so Anfang). Es war exakt diese – verglichen mit den Angaben in der Literatur – winzige, fast schon „homöopathische“ Dosis, die den Erfolg brachte.

Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass dies meine Erfahrung ist. Meine ganz persönliche Erfahrung. Andere mögen eine höhere Dosis brauchen. Oder eine noch geringere (was allerdings wegen der ohnehin schon kleinen Dimension der Pillen sehr schwierig werden dürfte). Das muss man in jedem Fall neu ausprobieren, variieren, experimentell erforschen. Auf die Angaben des Beipackzettels sollte man sich keineswegs verlassen.
Vor allem aber sollte man nicht nur auf den Rat eines Arztes oder Neurologen hören (falls diese nicht psychotherapeutisch geschult sind – was man ganz einfach daran merkt, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit sie einem schenken bzw. für ihr Arzthonorar eintauschen!) – man sollte unbedingt auch einen Diplompsychologen oder Psychotherapeuten konsultieren, der etwas von dieser ADHS- und Ritalin-Thematik (und Problematik!!!) versteht.
Dieses zusätzliche Geld ist gut angelegt, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht: nämlich eine handfeste Medikamentensucht mit bislang weitgehend unbekannten Neben- und Folgewirkungen. Jede Tablette von der Wirksamkeit eines Präparats wie Ritalin ist ja nicht unähnlich einem chirurgischen Eingriff ins Gehirn mit seiner unglaublichen Komplexität und internen Vernetzung. Da sollte man nicht unbedingt mit einem Schraubenzieher darin herumstochern!
Ich nahm das Ritalin vom 14. März bis 4. November 2003 (Ablieferung des fertigen Manuskripts), also während knapp acht Monaten. Hier meine ersten Notizen dazu:

  1. Mein Selbstversuch im Detail (14. März 2003 bis 16. Aug 2006)

2003-03-14
Rezept von Dr. E. erhalten. (Die Beratung war kurz aber kompetent. Wichtig war der Hinweis auf die Suchtgefahr bei Ritalin. Ein wenig mehr Hinterfragen meiner Beweggründe wäre vielleicht sinnvoll gewesen – aber der Neurologe kannte mich flüchtig und vertraute meiner Selbstkompetenz als Psychologe und Suchtexperte).
Bin mal gespannt, was das bringt – ob das meine Zappligkeit und Sprunghaftigkeit dämpft, ob mir das hilft, mich besser zu konzentrieren.
12.43: Eine halbe Tablette Ritalin genommen (die zweite Hälfte nehme ich am Abend)
13.46. Fühle mich konzentrierter, entspannter. Aber das liegt wohl auch am Mittagsschlaf – und vor allem an der Entscheidung, den Ablieferungstermin für das Buch von März auf Mitte Mai zu verschieben.
(Die zweite Tablettenhälfte habe ich nicht genommen – war unnötig).

2003-03-17
Soll ich – oder soll ich nicht?
– nämlich das Ritalin tatsächlich regelmäßig einnehmen?
Der Traum von heute morgen 6.00 h sagt mir eigentlich: Nein (Sechs ekelerregende Fliegen kriechen in in meiner Kaffeetasse herum..).
Die Fliegen könnten (in der abendländischen Überlieferung dem Gottseibeiuns zugeordnet!) auch einen „Pakt mit dem Teufel“ avisieren – der mich „fliegen“ lässt!
Das Seminar am vergangenen Wochenende offenbarte mir jedenfalls, dass das Ritalin nicht auf Kosten der Ängste meines Inneren Kindes vor dem nahenden Krieg gegen den Irak gehen sollte! Denn der macht mich wirklich ziemlich nervös! […]

2003-03-18
08.26 – Noch immer kein Ritalin genommen – und ich bin trotzdem sehr konzentriert. Es ist aber gut, so ein Amulett im Hintergrund verfügbar zu haben…

2003-03-21
16.49: Ich bin sehr lustlos, das Redigieren vor allem geht sehr zäh, bei dem man sich verdammt konzentrieren muss und das über etliche Stunden jeden Tag. Wenn das so weiter geht –
Ich sollte morgen doch mit der Ritalin-„Kur“ beginnen. Anders schaffe ich den Termin „Mitte Mai“ wohl wieder nicht, diesen neuen Aufschub, den der Verlag mir gewährt.
16.52: Naja, der Kaffee hilft auch schon etwas. Aber das langt nicht. Ich brauche etwas Kontinuierliches, das vor allem nicht so zittrig macht wie Coffeïn. Morgen fahre ich mittags an den Starnberger See und lauf noch mal richtig. Und dann geht´s los.

2003-03-23
Ich werde diese „Ritalin-Kur“ machen – um mich besser zu konzentrieren (wie ich hoffe). Ermutigt hat mich das Beispiel in einem Buch, das ich gerade lese: über das ungarische Mathematik-Genie Paul Erdös mit seiner Benzedrin-Sucht – er wurde – laut Paul Hoffman – trotzdem 83 Jahre alt und war bis zum Schluss seines Lebens enorm kreativ und produktiv.
08.00 h: eine halbe Ritalin (= 5 mg) eingenommen.

2003-03-23
19.40 Es ging mir heute dank Ritalin gut – war sehr konzentriert die ganze Zeit. Aber der Tag ist nicht sehr typisch – trank beim Frühstück zwei Tassen Kaffee – viel Coffeīn für mich…
Jetzt am Abend leichte Kopfschmerzen – liegt wohl am Wetterumschwung [???]

2003-03-24
Um 8.00 wieder eine halbe Pille (5 mg). Wirkt gut, konnte zügig arbeiten. Das Problem ist allerdings immer noch, dass ich am Morgen zu viel anderen Kram mache. Wenn ich das noch ändern kann – dann ist schon allein der Umstand, dass endlich neue Kapitel entstehen, sehr hilfreich und ermutigend.

2003-03-25
Ich reduziere die Dosis nochmals. Um 8.00 nur eine Viertelpille, also 2,5 mg. Bisher geht es mir gut damit. Ich habe den Eindruck, dass es mir hilft, konzentrierter und vor allem stetiger zu arbeiten.
Leicht ablenken lasse ich mich immer noch – aber das macht mich nicht mehr so konfus.

2003-03-26
Um 8.30 Uhr 2,5 mg Ritalin. Um 17.15 h fühle ich mich ein wenig „robotrig“ – d.h. ich arbeite unaufhörlich, fast wie eine Maschine, und ein wenig unbeteiligt, weiß irgendwie gar nicht, was ich eigentlich tue…
Das ist nicht gut!

2003-03-27
Um 7.00 Uhr 2,5 mg Ritalin. Jetzt um 13.11 h geht es immer noch gut. Ich fühle mich ein wenig anders als sonst – aber eben gut. So sollte es immer sein. Auch ohne Ritalin.
Gestern in der Sauna: Verändertes Zeitgefühl: Ich war ganz erstaunt, dass so wenig Zeit vergangen war beim ersten Saunagang (so viel Gedanken zogen mir durch den Kopf).

2004-03-25 bis 29
Ich war einige Tage in Leipzig zu Besuch, unter anderem auf der Buchmesse. Nahm kein Ritalin – war einfach nicht nötig.
Ich habe es nicht eine Sekunde vermisst.

2004-03-25 bis 30
Arbeite jetzt wieder am Manuskript. Alle zwei Tage 2,5 Milligramm – so soll es weitergehen. Nach Abschluss des Manuskripts wird das ganze Experiment kritisch überdacht.
(Und so weiter…)

Ich will nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass ich die bessere Konzentration sicher nicht allein dem Ritalin zu verdanken habe, sondern auch einer Reihe von Gesprächen, die ich während der Arbeit am Buch mit meinem früheren Psychoanalytiker und jetzigen Mentor Dr. H. geführt habe, um mir über unbewusste Anteile meiner zeitweiligen Blockade klarer zu werden. Aber es war auch ganz deutlich ein Effekt des Ritalin zu verzeichnen.
Die Kombination beider Effekte – das Amphetamin plus die Gespräche – das war es, was letztlich den Erfolg brachte !)
Ebenso wichtig war es aber, mich an die richtige Dosis heranzupirschen und dabei sehr sorgfältig auf meine Gefühle zu achten und mich nicht nur auf das ärztliche Rezept („dreimal täglich 10 Milligramm“) und den Beipackzettel zu verlassen.

2004-04-25
Es geht mir nach wie vor sehr gut mit dem zweitägigen Rhythmus: abwechselnd 2,5 mg Ritalin – ein Tag Pause.

2004-06-15
Die Mini-Dosierung von täglich einmal (frühmorgens) (2,5) Milligramm Ritalin ist ein Zwölftel der üblicherweise verschriebenen Tagesdosis.

Es gibt in der Selbstbeobachtung kaum einen Unterschied – allenfalls den, dass ich mich an den Tagen „mit Ritalin“ etwas optimistischer fühle und mehr in der Gegenwart bin, im Hier und Jetzt, und weniger zum Sinnieren neige.

2004-11-12
Um mir die Arbeit am nächsten Buch, in der ich jetzt (im Nov 2004) schon mitten drin stecke, zu erleichtern, nehme ich wieder Ritalin. Allerdings habe ich experimentehalber die Dosis ein weiteres Mal halbiert: nur alle zwei Tage am Morgen (mindestens eine halbe Stunde vor dem Frühstück) eine Vierteltablette = 2,5 Milligramm. Damit komme ich bestens zurecht.

2004-12-02 (2004-06-01)
Es geht mir nach wie vor sehr gut mit dem Ritalin. Ich habe jedoch den zweitägigen Rhythmus wieder umgestellt auf täglich 2,5 mg Ritalin.

Der eine Tag Pause hat sich nicht bewährt. Meine Konzentration sackt ohne Ritalin doch deutlich ab – und ich habe mir vorgenommen, für einen Wettbewerb bis Ende September einen Roman zu überarbeiten (den ich 1982 begonnen und immer weiter geschrieben habe). Das schaffe ich sonst nicht.
Ansonsten ist alles paletti.

2005-07-08
Ich habe inzwischen längst nochmals reduziert: auf eine Sechstel Tablette = 1,66 mg.

2006-10-14
Am 16. Aug 2006 nahm ich zum letzten Mal die bislang verwendete Tagesdosis: ein Sechstel einer 10-Milligram-Tablette. Anschließend fuhr ich fünf Wochen ins Wallis, für zwei Wochen-Workshops und drei Wochen Ferien. Danach ergab es sich wie von selbst, mit dem ganzen Experiment aufzuhören.
Ich bemerkte keinerlei Entzugserscheinungen. Was auch nicht zu erwarten war bei der geringen Dosis.

  1. Zusammenfassung des Selbstversuchs

Auch wenn ich mich wiederhole (s. oben): Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen möchte ich dringend jedem, der das Experiment wagen will, empfehlen, die Dosis am Anfang erst einmal zu reduzieren.
Hochwirksame psychotrope (= auf das Seelenleben und Bewusstsein einwirkende) Medikamente dieser Art haben die fatale Eigenschaft, sich gewissermaßen im Gehirn „selbständig zu machen“. So weiß man erst seit wenigen Jahren, dass Tranquilizer wie Valium im Gehirn lange Zeit (bis zu zwei Wochen) gespeichert werden, bevor der Organismus sie vollständig abgebaut hat.
(Das gilt übrigens auch für Cannabis – den Wirkstoff im Haschisch und Marihuana – weshalb das Zeug eben doch weit gefährlicher ist als der sehr viel schneller abgebaute Alkohol.)
Deshalb führt eine gleichbleibende Dosis von z.B. zehn Milligramm täglich u.U. zu einer immer höheren Konzentration der Substanz im Gehirn – mit oft paradoxen Auswirkungen – etwa der Art, dass ein zunächst beruhigendes Mittel wie Valium irgendwann stimulierend und nervös machend wirkt.
Vielleicht zeigt das Ritalin irgendwann eine ähnlich paradoxe Wirkung?
Beim Ritalin haben wir ohnehin schon die paradoxe Situation, dass ein eigentlich stimulierendes Mittel (es ist ein Amphetamin ähnlich wie Pervitin!) wie ein Beruhigungsmittel wirkt. Warum das so ist, das ist noch kaum erforscht.

Schon deshalb sollte man sehr vorsichtig damit umgehen. Das war und ist der Grund, weshalb ich aller guten Gefühle und sehr positiven Erfahrungen mit dem Ritalin nach Ablieferung des Manuskripts zu Das Drama der Hochbegabten das Mittel zunächst einmal ganz absetzte.

Fazit des Gesamtversuchs, der fast zweieinhalb Jahre dauerte (14. März 2003 bis 16. Aug 2006): Interessante Erfahrung, ohne spürbare Nachteile.
Wichtigstes Ergebnis: Der wesentliche Effekt ist wohl der kleine „Kick am Morgen“, der „Tritt in den Hintern“, der einen aktiviert. Das lässt in der Tat auf eine Verwandtschaft zu aufputschenden Drogen wie Kokain schließen. Für jemanden wie mich, der gerne träumt und sinniert, und das stundenlang, ist / war eine gute Erfahrung.

Wichtigste Erkenntnis : Ich kann nur zu großer Vorsicht raten, sobald höhere Dosierungen verwendet werden, schon gar bei Kindern.

  1. Gefährliche Hochdosierungen

Was man – insbesondere in den USA – schon Kindern im Volksschulalter an Hochdosierungen hineinschüttet, halte ich für unverantwortlich – ja für geradezu kriminell! Vor allem dann, wenn nur in der Apotheke das Medikament abgeholt und konsumiert wird (ein anderer Ausdruck dafür wäre Augenwischerei) und keinerlei Begleitung durch einen tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapeuten oder wenigstens Psychologen / Arzt stattfindet, der die ganze Ritalin-Problematik bestens kennt und hilft, die psychodynamischen und familiendynamischen Begleitfaktoren zu klären und möglichst zu verbessern.
Dies ist das unbedingt nötige Procedere bei Kindern (die sich bekanntlich nicht wehren können).
Erwachsene sollten stets daran denken, dass sie einen großen Sack unerledigter Probleme aus der Kindheit und Jugend mit sich herumschleppen, dessen psychosomatische Auswirkungen sich zwar durch ein Medikament wie Ritalin (oder ein Gläschen Wein oder ein Pfeifchen Haschisch oder auch schon durch das Rauchen von ein paar nikotinhaltigen Zigaretten…) überdecken und manipulieren lassen – aber auf-gelöst wird der große Sack damit nicht. Da muss man schon anders drangehen. Nötigenfalls mit einer Psychotherapie

[Nähere Informationen zu Ritalin (seiner Pharmakologie und Wirkungen wie möglichen Nebenwirkungen) findet man im „Handbuch der Rauschdrogen“ unter dem entsprechenden Stichwort, verfasst von der Pharmakologin und Apothekerin Monika Schulenberg – s.u. Bibliographie.]

  1. Wie Ritalin vermutlich psychisch wirkt

Ich habe gemerkt, dass Ritalin zu einer deutlichen Verbesserung der Willenskraft führt. Was kein Wunder ist. Denn durch bessere Konzentration
° gelingen die kleinen Erfolgsschritte, aus denen sich die Realisierung jedes größeren Projekts zusammensetzt;
° diese führen zu (Selbst-)Ermutigung, welche die Willenskraft enorm stärkt;
° und diese wiederum erleichtert die nächsten kleinen Erfolgsschritte;
° und so weiter in einem sich selbst verstärkenden Regelkreis,
° dessen Insgesamt man dann als Willensstärke von außen bewundert.

Es ist natürlich weit einfacher, wenn dieser Regelkreis schon in der Kindheit seine Schwungkraft entfaltet und durchs Schul- und Berufsleben hindurchträgt. Aber das ist das Wunderbare an dem (gleichzeitig und mit Recht so vielgescholtenen) Wundermittel Ritalin: Es gibt auch dem Spätentwickler eine Chance, die „Kurve noch zu kriegen“!
Das Ritalin am Morgen gibt gewissermaßen den kleinen „Tritt in den Hintern“, der eine Richtung vorgibt. Ab da können sich die (psychosoziale) Strukturen offenbar leichter entfalten, die einen durch den Tag leiten.
Voraussetzung bei alledem ist allerdings – was gerade von den Ritalin verschreibenden Ärzten gerne übersehen wird –
° dass jedes Medikament dieser Art seine eigentliche Wirkung erst entfaltet
° und Fehlentwicklungen vermieden werden,
° wenn irgendeine Form von therapeutischer Begleitung dafür sorgt, dass auch eine seelisch-soziale Nachreifung stattfindet. Während dieser muss vor allem der (nach)pubertäre Trotz aufgegeben werden, samt Besserwisserei und grandioser Selbstüberschätzung.
Eine Psychotherapie der üblichen Form (Zweier-Beziehung) nützt hierbei allerdings wenig, wenn nur „über die Probleme geredet“ wird. Es muss aktiv etwas für die Umsetzung des Kreativen Prozesses in Form künstlerischer, aber auch alltagspraktischer Form in von bescheidenen „tausend kleinen Schritten“ erfolgen.
Vieles kann auch – gerade was die zwischenmenschliche Beziehungsebene angeht – mit Hilfe der ThemenZentrierten Interaktion (TZI) nachgelernt und nachgereift werden.

(Nachtrag vom 12. Nov 2004)
Meine Erklärung der Wirkung ist ganz simpel: Es gibt in jedem Menschen passive und aktive Tendenzen.
Eine passive Tendenz ist die, sich (wie der Säugling von der Mutter) von anderen Menschen verwöhnen zu lassen. Alle Rauschdrogen führen uns letztlich – wenn auch nur vorübergehend und bei längerem Missbrauch zu einem hohen Preis – in dieses urtümliche Paradies zurück,. Bei etlichen von ihnen (Kokain, Alkohol) geht der Passiv-Phase oft eine kurze Aktiv-Phase durch Enthemmung voraus.
Ritalin scheint so wie die Endorphine (= Stimulantien, welches vom Körper selbst produziert wird) zu wirken. Von solchen Endorphin-Ekstasen berichten sowohl Marathonläufer wie Extremfaster (eine Woche und länger ohne feste Nahrung leben).
Ähnlich dem Adrenalin, welches die Nebennierenrinde unseres Körpers in Stress-Situationen zur Erhöhung der Gefahrenabwehr ausschüttet, verschafft das Ritalin offenbar genau jenen winzigen Startimpuls, der die Bereitschaft zur Aktivität erhöht und es einem erleichtert, aus passiver Stimmung (nicht selten am Morgen, wenn die Schlafhormone noch wirken) herauszukommen.
Auch wer zu depressiven Stimmungen neigt, hat davon eventuell einen Vorteil.

MultiChronalia (Nachtrag vom 01. Mai 2023)

Das ist alles eine Weile her: Diesen Selbstversuch machte ich 2004-2006. Ein „Zappelphilipp“ war ich nach der mütterlichen Überlieferung schon als Kind (also wohl ab 1941, als ich schon selbst herumzulaufen begann. Richtig heftig wurde das dann vermutlich in der Schule ab 1946 – aber daran habe ich keine speziellen Erinnerungen. Das ich Mühe hatte, still zu sitzen, wurde mir erst auf der Oberrealschule in Selbst allmählich bewusst, also etwa 1953. Das dies kein „böser Wille“ eines „notorischen Schwätzers“ und „Störenfrieds“ war, sondern mit einer seltsamen Krankheit namens ADHS zu tun haben könnte – davon hatte man damals auf Lehrerseite keine Ahnung – ich natürlich auch nicht. Ich war halt so – „lebhaft“.
Und nun bin ich im Jahr 2021 wieder mit diesem Thema konfrontiert. Weil mir im Verlauf dieses Blogs, der ja sehr vielen Erinnerungen weckt, so richtig bewusst wurde, wie mich diese Zappligkeit mein Leben lang geplagt hat – und dass ich sie wohl von meiner Vater geerbt habe, der auch ein sehr „unruhiger“ Mensch war.
Ritalin habe ich nie wieder genommen. Mein „Medikament“, eine richtige Zauberdroge, ist der Yoga am Morgen und das Schreiben. Dazu das Spazierengehen und Radfahren – überhaupt jede Art von Bewegung. Ein Katastrophe, dass coronabedingt das Fitnessstudio derzeit „downgelocked“ ist.
Wie paradox (und das wird mir eben erst beim Tippen bewusst) – dass ausgerechnet ich den Begriff „Entschleunigung“ erfunden habe – wo ich doch stets auf Hochtouren laufe. Da muss wohl eine tiefe Sehnsucht im Spiel gewesen sein, zur Ruhe zu kommen.

Bibliographie
DeGrandpre, Richard: Die Ritalin-Gesellschaft: Eine Generation wird krankgeschrieben (1999) Weinheim 2005 (Beltz).
Freud, Sigmund: Brautbriefe. (1886) Frankfurt a.M. 1968 (S. Fischer).
Fitzner, Thilo und Werner Stark (Hrsg.): Genial, gestört, gelangweilt? ADHS, Schule und Hochbegabung. Weinheim und Basel 2004 (Beltz).
Hallowell, Edward M. und John Ratey, Zwanghaft zerstreut, oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein. (1994) Reinbek 1998 (Rowohlt).
Harland, Simone: Hyperaktiv oder hochbegabt?. Bergisch-Gladbach 2003 (ehrenwirt-med / Lübbe).
Hoffman, Paul: Der Mann, der die Zahlen liebte. [The Man who loved only Numbers]. (1998) 2. Aufl. München 2001 (Econ).
Krowatschek, Dieter: Alles über ADHS. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer. Düsseldorf / Zürich 2001 (Walter / Patmos).
Neuhaus, Cordula: Das hyperaktive Kind und seine Probleme. Berlin 2002 (Urania-Verlag).
Novartis Pharma, “Fachinformation Ritalin®”, Stand Oktober 2000.
N.N.: „Koks für Kinder“, in Focus Nr.11/2002-03-11.
N.N.: „Hyperaktive Kinder im Pillenrausch“. In: DER SPIEGEL Nr. 20 vom 26. Mai 2007.
U.S .Department of Justice, Drug Enforcement Administration, “Methylphenidate (Ritalin®)”, in http://www.ritalin-kritik.de, Oktober 2002.
Schulenberg, Monika: „Ritalin“. In: Schmidbauer… 2003.
Schmidbauer, Wolfgang und Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen. (1971) 11. überarb. Auflage München 2003 (Nymphenburger).
Weber, R. „Die Ritalin-Story“, in http://www.deutscher-apotheker-verlag.de, Oktober 2002.
Winkler M. und Rossi P., „Häufige Fragen und Antworten über die Behandlung der ADHS mit Stimulanzien“, in http://www.adhs.ch, Oktober 2002.
2003-06-18/Stern Nr.26: „“Neue Facette im Hitler-Bild“

300 _ #0492 / 01. Mai 2023_14:35 (© 2012 / 2008 / 2004 für diesen Text: Jürgen vom Scheidt/hyperwriting.de

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