Traum vom liebenden Kind

Ein Kind kommt nicht „leer“ auf die Welt. Es hat neun Monate lang eine intensive Beziehung zu seiner Mutter erlebt und diese wird nach der Geburt fortgesetzt – wenngleich nun anders. Die „Nabelschnur“ ist ab da die liebevolle Suche nach Nähe der Mutter. In dieses Muster werden der Vater eingefügt und – falls schon vorhanden – Geschwister und wer sonst noch häufig auftaucht im Leben des Neugeborenen.

Soweit – so trivial. Soweit – so abstrakt – abrufbares psychologisches Wissen. Wobei zu ergänzen wäre, dass man gerade in diesem Beispiel deutlich erkennen kann, wie missverständlich es war, als Sigmund Freud in seinem Bemühen um „Naturwissenschaftlichkeit“ die Menschen als „Objekte“ bezeichnete und damit gewissermaßen neutralisierte. Eine Mutter (oder ein Vater), dem ein Kind so seine Liebe schenkt, ist kein lebloses „Objekt“, sondern ein sofort reagierendes „Subjekt“. Es entsteht von Anfang an, eine vielschichtige dynamische Wechselbeziehung, die sich (im Sinne der Kybernetik) ständig verstärkt oder abschwächt.

Heute früh bin ich mit einem Traum aufgewacht, der mir die Realität vor Augen geführt hat, wie das damals gewesen sein muss, als meine eigenen drei Kinder auf die Welt kamen: Wie sie mich liebevoll angeschaut – und dadurch in mir die Liebe zu ihnen geweckt haben. Ein überwältigendes Gefühl – abgespeichert in den Tiefen meiner Erinnerungsspeicher – und heute Morgen plötzlich in aller Intensität da.

Während ich der langsam wieder verblassenden Traumszene noch nachsann – begriff ich plötzlich, wie es meinem Vater zumute gewesen sein muss, der das nie richtig erlebt hat, weil er irgendwo in Europa in Hitlers Auftrag Krieg führte gegen Menschen, die das genauso wenig wollten wie er. Er war zwar einige Tage nach meiner Geburt im Februar 1940 auf Heimaturlaub kurz in Leipzig – aber so ein flüchtiger Moment kann keine tiefe, stabile Beziehung aufbauen. Das nächste Mal habe ich ihn, ebenfalls nur für einige Tage, an Ostern 1943 erlebt, wieder auf Heimaturlaub.
Richtig nachhause kam er erst im Juli 1945, nach kurzer Gefangenschaft bei den Amerikanern.

Aber für einen fünfjährigen Jungen und einem da bereits 38 Jahre alten Vater ist es enorm schwer, eine unbelastete intensive Beziehung aufzubauen. Doppelt schwer vor allem, weil der Vater ab da ja auch immer wieder – teils für Monate – verschwunden war, wenn er irgendwo in Deutschland endlich Arbeit als Kellner gefunden hatte: 1946 in einem Café in Wuppertal – 1947 auf Sylt im britischen Offizierskasino (das umfunktionierte Kurhaus von Kampen) – 1948 in Garmisch bei den Amerikanern im „Casa Carioca“.

Danach machte er sich als Handelsvertreter selbständig – und war wieder die ganze Arbeitswoche über „verschwunden“ – fuhr am Montagvormittag weg (manchmal schon am Sonntagabend) und kam meistens spät abends am Freitag heim (manchmal auch erst am Samstagmittag).

Perspektivenwechsel – vom Kind zum Vater

Das ist die eine Seite – wie ich sie als Kind erlebt habe und die zu einer lebenslangen „Suche nach dem Vater“ führte, die unsere Beziehung sehr schmerzhaft mit starken Zügen von Trauer, Wut, ja hassvoller Ablehnung (als unbewusste Bestrafung?) versah – besonders schmerzhaft, weil mein Vater ja auch viel gab und sich immer wieder sehr bemühte: wenn er mir das Schwimmen und tauchen beibrachte und später das Autofahren, mir den nächtlichen Sternhimmel erschloss, englische Vokabeln schon mir Siebenjährigen in Kampen mit Vokabelkärtchen nahebrachte und damit die Liebe zu dieser Fremdsprache weckte. Oder wenn er mich in den Ferien mit auf Geschäftsreise nahm und mir dabei viel Nähe zeigte und viel von der Welt zeigte. Aber es fehlte eben etwas ganz tief unten im emotionalen Fundament, das gleich zu Beginn des Lebens gelegt wird.

Wie eine „Insel“ in diesem ständigen Suchen und Verlieren war die drei Monate auf Sylt, wo mein Vater zwar arbeitete – aber auch viel Zeit für seine Familie und speziell für mich hatte. Drei Monate waren wir dort in den Ferien – ich mit der Sondergenehmigung und der Auflage, in Kampen mit den „Friesenkindern“ sechs Wochen in die Schule zu gehen – denn die Ferien dauerten ja offiziell nur sechs Wochen und nicht drei Monate. Für mich waren das trotzdem drei Ferienmonate in einem der schönsten Sommer meines Lebens.

Der Traum von heute morgen zeigte mir schlagartig, was ich noch nie zuvor so gesehen habe: Dass genau dieser liebevolle Blick und die tiefe Zuwendung, die dieses Kind mir schenkt – meinem Vater gefehlt haben muss, als sein erstes Kind auf die Welt kam. Eine richtige einigermaßen normale Vater-Sohn-Beziehung gab es für ihn erst 1949, als mein jüngerer Bruder Stefan auf die Welt kam.

Mein Leben lang war ich auf der „Suche nach dem Vater, den ich nie so richtig gehabt habe“ – nun weiß ich, dass es umgekehrt bei ihm ähnlich gewesen sein muss.

Aber darüber wurde nie gesprochen – das wurde wohl auch nur sehr vague erlebt und blieb unbewusst. Aber dank diesem Traum weiß ich es nun. Das Kind im Traum war etwa so alt wie Jonas oben auf dem Bild – etwa halbjährig. Es war jedoch bei aller Vertrautheit und Nähe zugleich irgendwie unbekannt, als es mir diesen Blick und diese zärtliche Umarmung voller Zuneigung und Zuwendung schenkte. C.G. Jung hätte das wohl als „Archetyp des ewigen Kindes“ bezeichnet – „fremd und vertraut zugleich“ – ein seltsames Oxymoron, das aber diesen Moment exakt beschreibt in all seiner Widersprüchlichkeit.

Mein Vater hat von diesen meinen späten Erkenntnissen nichts mehr – obwohl zwischen uns beiden gegen Ende seines Lebens, als er schon in meinem heutigen Alter war, eine zaghafte, wortlose Annäherung stattfand, die die vorherige Distanz zu überwinden begann. Einmal – da war er schon im Pflegeheim – wollte er mit dem Rollstuhl durch die ebenerdige Tür in den Garten und hatte Mühe damit. Er ließ es wortlos zu, dass ich ihn hinausschob. Das wäre vorher von ihm irgendwie mit einer Entschuldung oder einem trotzigen „Das schaff ich schon noch selber!“ abgewehrt oder sonstwie entwertet worden. Dieses wortlose, fast liebevolle Geschehenlassen war ein großes Geschenk von ihm, das mich noch heute, in der Erinnerung, tief berührt.

Ein wunderbarer Traum heute Morgen – so als wäre ich mittels Zeitreise gleichzeitig zurück an den Anfang meines eigenen Lebens gereist – und hätte meinem Vater diese Zuwendung des eben auf die Welt gekommenen Kindes geschenkt, die er in Warhheit von mir nie bekommen konnte.

MultiChronalia
Der Traum ist, wie alle Träume, vielschichtig, auch was die darin vorkommenden Lebensphasen angeht. Da ist der Anfang meines Lebens 1940 – da sind die ersten Begegnungen mit dem Vater 1943 – dann ab 1945. Der wunderbare Sommer 1947 auf Sylt. Dann die späteren Jahre mit den eigenen Kinder – speziell 1982, als das Foto oben entstanden ist. Und nun die Gegenwart vom 08. Juli 2021, in der der Traum geträumt wurde – wohl ausgelöst von Tagesresten: vor zwei ‚Tagen ein Treffen mit meinem Bruder Stefan (Schwimmen im Starnberger See und ein langes Gespräch über Familiengeschichten – speziell auch über meinen Vater); gestern Telefonate mit meinen Söhnen Jonas und Gregor.

Begleit-Musik

Mehr zufällig schaute ich am Abend nach diesem Beitrag den postapokalyptischen Action-Film Mad Max II: Thunderdome – mit Mel Gibson („Forever Young“) in der Hauptrolle. Und mit einer toll agierenden Tina Turner in ihrer ersten und einzigen Filmrolle*: als Wüstenkönigin in einer untergegangenen Zivilisation „nach unserer Zeit“ (nicht durch die Klimakatastrophe untergegangen sondern durch einen Atomkrieg – makes no difference!). Tina singt auch den mitreißenden Titelsong „Thunderdome“ mit den eingängigen Zeile „We don´t need another hero“ – die alle Heldenreisen in Frage stellt.

* Sie hat jedoch großartige Auftritte in Konzertmitschnitten wie der DVD Tina Turner in Amsterdam.

aut #1088 _ 2021-07-08/11:38

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