„Weide meine Schafe“

Als (einstiger) Lutheraner sollte ich mich aus diesem katholischen Gedöns eigentlich heraushalten. Aber bei diesem aktuellen Riesen-Serien-Skandal, der nicht mehr aufhören will, bin ich auch als Psychologe gefragt.
Wie viele Jahre zieht sich das schon hin – diese mehr als zögerliche „Aufklärung“ des massenhaften Missbrauchs-Skandals in der katholischen Kirche überall auf der Welt?

Die anderen Glaubensgemeinschaften haben diesbezüglich allesamt Dreck am Stecken. Die Lutheraner arbeiten ihren Anteil seit einiger Zeit ebenfalls auf – ein wenig jedenfalls – ebenfalls sehr zögerlich – mit großer beschützender Hand über die Täter – wie ihre katholischen Glaubensbrüder –

Bei einer orthodoxen jüdischen Gemeinde in den USA gab es auch mal einen solchen Skandal – einen, der bekannt und untersucht wurde. Desgleichen bei einer buddhistischen Gemeinde.
Bei den Moslems, den Hindus, den japanischen Shinto-Gläubigen wird man sicher ebenso fündig werden wie bei evangelikalen Christen. Oder bei Stämmen in Afrika, die einer animistischen Naturreligion anhängen.

Abb: Die Idylle trügt: Irgendwann werden die Schafe geschoren und die Lämmer geschlachtet. (Photo by Adam Tumidajewicz on Pexels.com)

Das hat alles nicht so sehr mit der damit verbundenen Religion zu tun – sondern mit den Menschen, die in solchen Gemeinschaften in Führungspositionen und damit an Macht gelangen – Macht, die sie gelegentlich missbrauchen. Die Opfer sind jeweils die Schwächeren, die Untergeben – die Gläubigen. In den Führungspositionen sind fast überall ältere Männer – die Schwächeren, die ihnen anvertraut sind (und deren Vertrauen sie in den Missbrauchsfällen schändlich ins Gegenteil verkehren) sind männliche und weibliche Kinder und Jugendliche, seltener auch Erwachsene junge Männer und Frauen.
Das ist, wie gesagt, nicht an Religion gebunden. Auch in der einst so renommierten Odenwaldschule wurde von den Pädagogen Missbrauch geduldet und aktiv betrieben.
Wenn eine Glaubensgemeinschaft wie die katholische – das nur nebenbei – Homosexualität verdammt, aber ihre Priester wegen des Zölibat-Gebots geradezu in homosexuelle Beziehungen treibt und das mit der Verkleidung in weibliche Priestergewänder noch fördert (oder Homosexuelle wegen dieser Verachtung der Weiblichkeit geradezu anzieht) – dann beweist das eine ungeheure Verlogenheit.

Das ist die Wirklichkeit. Selten hat man Gelegenheit, die dahinterstehenden psychosozialen Strukturen, die solchen Missbrauch geradezu zwangsläufig fördern und herausfordern wie unter einem Vergrößerungsglas zu beobachten. Wenn der Münchner Kardinal Reinhard Marx – nach seeeehr laaaanger Bedenkzeit – seinen Rücktritt anbietet und der Papst, sein oberster Chef ihm diesen verweigert – dann ist der Schlüsselsatz entlarvend:

„Weide meine Schafe.“

Ja, die alten Männer sind die mächtigen Hirten – mit ihren Hütehunden (den Kardinälen und Bischöfen und einfacheren Geistlichen) – und die einfachen Gemeindemitglieder, auch „Gläubige“ genannt – sind die Schafe und die sind diesen Hirten und Hunden qua Machtverteilung in solchen Sozialsystemen schutzlos ausgeliefert.

Da wird mit einem „Gott“ und seinem „Willen“ argumentiert (den jedoch nur die Mächtigen kennen – das glauben oder behaupten sie zumindest). Da wird speziell bei den Katholiken ein Zölibat verteidigt, obwohl alle Welt weiß, dass der im Urchristentum nicht vorhanden war, sondern aus sehr durchsichtigen weltlichen Überlegungen im Mittelalter eingeführt wurde. Da werden die Frauen mit fadenscheinigsten Begründungen aus allem herausgehalten, was irgendwie nach „Macht“ und Mitbestimmung aussieht – die logischerweise den Männern in den Herrscherpositionen weggenommen werden müssten –

Als Lutheraner könnte mir das alles egal sein. Aber leider hat auch Luthers Abwertung der päpstlichen Arroganz und ihrer Machtansprüche und seine Aufwertung der Frauen nicht wirkliche Freiheit gebracht und Missbrauch verhindert – es geht auch bei den Lutheranern letztlich um männliche Macht, da ist die eine oder andere Bischöfin immer noch wenig mehr als eine Alibi-Figur. Und gegen die Juden habe die Christen aller Couleur immer schon heftig ausgeteilt – der Antisemitismus hat dort seine urchristlichen Wurzeln. Auch dies letztlich die Folge eines angemaßten Machtanspruchs.

Leider sind die Juden, die sich für das „auserwählte Volk“ Gottes halten, diesbezüglich keinen Deut besser – auch wenn sie wenigstens nicht missionieren und wie die Christen (früher) und die Moslems (heute noch) Andersgläubige mit Feuer und Schwert zum „Wahren Glauben“ bekehren wollen (und den Abfall vom „wahren Glauben“ in manchen islamischen Ländern immer noch mit dem Tod bedrohen).
Die Frauen werden zumindest in orthodoxen jüdischen Gemeinden noch immer separiert und das Stoßgebet mancher jüdischer Männer, mit dem sie ihrem Gott danken, dass sie keine Frau sind – ist einfach eine Frechheit.

„Weide meine Schafe“ – dieser Satz des amtierenden Papstes bringt all dies auf den Punkt: „Ich hier oben in der einsamen Höhe meiner Macht und euer aller allwissender Hirte, der seine Anweisungen von Gott persönlich erhält und unfehlbar ist – ich sage euch Schafen, wo´s langgeht. Amen and over.“

Ich würde gerne mal wissen, was dieser „Gott“ – wenn es ihn denn geben sollte – von alledem hält. Es würde mich, der ich nicht an Hölle und Fegefeuer glaube (sondern dies für Erfindungen machtbesessener Geistlicher halte) geradezu satanisch freuen, wenn es eine ganz spezielle Hölle für missbrauchende Geistliche gäbe – und eine andere Abteilung gleich daneben, die jeden, der meint „den Willen Gottes“ zu kennen und diesen aus Gründen der Machtanmaßung missbraucht, auf ganz speziellen Bratrosten quält.

Als Psychologe kann ich und will ich dem nichts mehr hinzufügen. Ist auch überflüssig. Das richtet sich selbst in seiner Arroganz und in seiner Aggression gegen die Schwächeren. (So wie mich natürlich auch meine Höllenfeuer-Phantasie als jemanden richtet, der seine Aggressionen noch nicht ganz bewältigt hat. Aber das halte ich aus – ich „phantasiere“ das ja nur – und verbrenne keine Hexen oder Ketzer auf Scheiterhaufen oder ermorde Andersgläubige – weil sie einen anderen Glauben haben.)

Quelle
Franziskus (Papst) an Kardinal Reinhard Marx: „Weide meine Schafe“. In: Südd. Zeitung Nr. 131 vom 11. Juni 2021, S. R 01 (Lokales: München).

aut #1045 _ 2021-06-14/18:10

Hinterlasse einen Kommentar