Ein Grund mehr, auf Fleisch…

… zu verzichten, ist ein aktueller Bericht in der Süddeutschen Zeitung. Der lockt mit dem Titel „Entspannt in die letzte Nacht“, was ja zunächst mal was Angenehmes verspricht. Von wegen. Die Unterzeile liest sich dann wie eine Satire von Jonathan Swift – ist aber durchaus ernst gemeint:

In den Herrmannsdorfer Landwerkstätten bei Glonn achten die Betreiber auf einen würdevollen Umgang mit ihren Schlachttieren.

Neugierig lese ich weiter:

Sophie Schweisfurth deutet auf ein großes Gebäude aus Holz, wenige Meter vor sich. „In diesem Stall verbringen die Tiere dann ihre letzte Nacht und können noch mal entspannen, bevor Leben zu Lebensmitteln wird“, sagt Schweisfurth, Geschäftsführerin der Herrmannsdorfer Landwerkstätten bei Glonn. Dann steigt sie ein kleines Treppchen hinauf auf eine Empore und blickt durch ein Fenster hinein in den Zerwirkraum der hauseigenen Metzgerei.
Von hier sieht sie dabei zu, wie die Herrmannsdorfer Metzgerinnen und Metzger die frisch geschlachteten Schweine verarbeiten. „Wir wollen ehrliche Lebensmittel herstellen, in ehrlicher Qualität. Durch das Fenster können Besucher sehen, dass unsere Wurstwaren nicht irgendwo am Fließband hergestellt werden, sondern dass jede Wurst einzeln geformt und gebrüht wird“, erklärt Schweisfurth.

Abb. 1: Als ich nach einer Illustration für diesen Beitrag suchte, dachte ich erst: Nee – bloß keine blutigen Fleischfetzen! Dann war ich total überrascht, als das Pexel-Archiv von WordPress mir lauter leckere pflanzliche Gericht beim Stichwort „flesh“ anbot – bis ich obiges „Hühnchen“ fand. Okay – wenigstens kein „Lammbraten“. (Photo by Karolina Grabowska on Pexels.com)

Spätestens jetzt würgt es mich ein wenig. Leider bin ich mit einer lebhaften Phantasie gesegnet. Früher hat mir das nicht so viel ausgemacht, da habe ich unangenehme Assoziationen dieser Art rasch weggestreckt – „verdrängt“ hätte Sigmund Freud gesagt. Je älter ich werde, umso weniger kann ich das: „Wegschauen“, „Verdrängen“.

Meine Enkel sind schon lange vegan. Bei mir nimmt der Fleischkonsum kontinuierlich ab – vor allem, wenn ich so einen Zeitungsartikel lese.
Aber es geht mir schon länger so. Beispielsweise wenn ich auf einer Speisekarte lese: „Lammbraten“.
Ich kann nicht anders: Ich sehe ein Lamm vor mir, das munter auf einer Wiese herumhüpft (im Wallis habe ich sie oft gesehen – die Jungtiere der berühmten Schwarznasenschafe). Ich stelle mir dann – während ich besagte Speisekarte studiere – eines dieser Schafkinder vor (so kann man „Lamm“ getrost übersetzen), sehe parallel dazu einen Spielplatz mit herumtollenden Buben und Mädchen und tollpatschigen Kleinkindern, die gerade Laufen lernen – „Lämmern“ nicht unähnlich, die auf einer Bergwiese ihre ersten staksigen Schritte machen…

Diese Tierkinder, Lämmer genannt, werden also (wenn sie Glück haben) in den Herrmannsdorfer Landwerkstätten in einer letzten Nacht „entspannt“ und am anderen Morgen „würdevoll“ geschlachtet. Oder macht man das nur mit Schweinen so und mit „Spanferkeln“?

Nein danke.
„Ich nehme lieber das vegetarische Thai Curry, Herr Ober, schmeckt sicher auch lecker“. Und ich muss beim Kauen nicht an das Schlachten von Tieren (oder Kindern) denken.

Jonathan Swift (ja, der von Gullivers Reisen) hat nicht nur diese satirische Parabel über Liliput und Brobdingnag und dergleichen Fabelländern geschrieben, sondern auch ein höchst makabres Büchlein, in dem er (der zeitweilig anglikanischer Geistlicher war), mit gallbitterem Humor die Lösung der irischen Hungersnöte bei gleichzeitiger Bevölkerungsexplosion seiner katholisch-zeugungsfreudigen Landsleute vorschlug: Mit Kochrezepten, wie man Neugeborene lecker als Sonntagsbraten zubereiten kann und damit zwei Riesenprobleme elegant gleichzeitig löst. Geliebt hat man Swift dafür nicht – ließ ihn sogar regierungsamtlich gegen Belohnung suchen (was ihn in die Anonymität trieb).

Geht es beim Thema „Fleischverzehr“ nicht letztlich um „Aggression“? Um eine Art „Krieg gegen „nichtmenschliche Lebewesen“?

Schreib-Tipp

Wie wäre es, mal darüber zu Fabulieren: „Mein Leben ohne Fleisch“?

Abb. 2: Eines der WordPress-Angebote zum Thema Flesh“: Fruchtfleisch. Warum keine leckere Avocado? (Obwohl nicht ganz ohne Klima-Bedenken zu genießen wegen dem hohen Wasserverbrauch bei der Gewinnung – aber sicher klimafreundlicher als Rinder- oder Schweinezucht). (Photo by Any Lane on Pexels.com)

MultiChronalia?

Nichts leichter als das:
1726 veröffentlicht Swift (1667-1745) den Gulliver und 1729 die Kochrezepte, die er spitzbübisch A Modest Proposal… nannte – „ein bescheidener Vorschlag, die Kinder der armen Leute davor zu bewahren, eine Bürde zu werden“.  
1957 las ich einen Zukunftsroman eines deutschen Privatgelehrten (so eine biographische Anmerkung), in dem dieser eine utopische Welt ohne Fleischgenuss vorstellte. Mir kam das damals sehr befremdlich vor: Essen ohne Sonntagsbraten?
Über diesen Roman findet man im Internet dieses Detail:
Ein irdischer Astronom besucht einen Planeten in einem fernen Sonnensystem. Planta, wie der Planet heißt, ist Träger menschlichen Lebens, doch haben seine Bewohner sich ursprünglich aus pflanzlichen Formen entwickelt. Sie stehen auf sehr hoher Kulturstufe, und ihre Sinnesorgane sind viel feiner ausgebildet als die der Erdmenschen. Es gibt bei ihnen keine Kriege, keine Nationalitätsunterschiede und keine Trennung nach Geschlechtern.

Keine Kriege – was für eine Utopie! Aber immerhin: In Mitteleuropa haben wir das seit 1945 tatsächlich geschafft, also seit 76 Jahren (von Irritationen an den „Rändern“ wie dem Jugoslawien-Desaster von 1991-2001 oder der aktuellen Ukraine-Krise mal abgesehen). Heute, sieben Jahrzehnte später, macht man sich Gedanken darüber, ob man nicht „weniger Fleisch essen“ könnte, um den Klimawandel zu bremsen. Da wäre doch die Rückkehr vom „täglichen Fleischkonsum“ zum „Sonntagsbraten“ schon ein gewaltiger Fortschritt, oder?

Am Vortag (31. Mai) schreibt Karin Pill in der Süddeutsche über das würdevoll entspannte Schlachten von Nutztieren und ich sehe heute, im selben Jahr 2021, die Kinder auf dem Spielplatz im Maßmannpark gleich um die Ecke. Ebenfalls vor zwei Tagen erschien auf der Titelseite der Süddeutschen ein Mut machender Bericht über die sich häufenden hochrichterlichen Entscheidungen zum Klimawandel (Janisch). Dabei geht es derzeit um Klagen gegen den Ölmulti Shell und andere internationale Konzerne, die für einen beträchtlichen Anteil an den CO2-Emissionen verantwortlich sind, dadurch den Klimawandel vorantreiben – und damit das Leben künftiger Generationen beeinträchtigen und gefährden. Vielleicht wird es solche Klagen demnächst auch geben gegen:

° Autokonzerne wie VW wegen den Verbrennern,
° die Lufthansa und andere Flug-Multis wegen ihrem Anteil am CO2-Ausstoß,
° Rinderzüchter in Brasilien, die ja nicht nur wertvollen Regenwald durch Brandrodung zerstören, sondern kräftig den Fleischverzehr fördern,
° gegen Großschlachter in Deutschland wie Tönnies
° und warum nicht: auch mal irgendwann gegen Edel-Schlachter wie Herrmannsdorfer?

Aber wie meinte einst William Shakespeare: „Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Das gilt wohl auch für „Fleisch“ und das „Essen von Fleisch“. (Oder sollte man nicht ehrlicher sagen: „Das Fressen von Fleisch“, weil das die damit stets auch verbundene, wenngleich äußerst geschickt kaschierte, „Aggression“ mittransportiert?)

Quellen
Janisch, Wolfgang: „Die Ära der Klimaschutz-Urteile“. In: SZ #122 vom 31 Mai 2021, S. 01 (Titel).
Pill, Karin: „Entspannt in die letzte Nacht“. In: SZ #122 vom 31 Mai 2021, S. R07 (Stadtviertel).
Edmund Schopen: Jenseits der Milchstraße. Berlin 1957 (Gebr. Weiss Verlag).
Swift, Jonathan: Gullivers Travels. 1726.
ders.: A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen. 1729.

aut 1019 _ 2021-06-01/23:22

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