Prokrastination

Der Bayerische Rundfunk ist umgezogen, wie ich einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung entnehme. Das ruft Erinnerungen wach an die Zeit von 1977 bis 2001, als ich oft in diesem Büroturm in der Arnulfstraße nahe dem Hauptbahnhof ein- und ausging und so manche Stunde im Studio in den Gebäuden gleich daneben meine Texte las. Das war immer eine gute Herausforderung, das hat mir viel Freude gemacht. Aber das war auch immer mit großem Stress verbunden. Denn ich litt lange unter etwas, das man Prokrastination nennt.

Abb.: Wenn man die Zeit dehnen könnte – wie bei einem Raumschiff, das sich der Lichtgeschwindigkeit nähert, sodass es zur Zeitdilatation kommt – oder den Sekundenzeiger anhalten könnte (wie hier im Bild) – dann wäre Prokrastination vielleicht kein Problem.

Wer kennt das nicht – wichtige Jobs nicht gleich erledigen, sondern vor sich herschieben. Lernt man am besten während eines Universitätsstudiums. So ging es jedenfalls mir. Ich habe darunter viele Jahrzehnte wirklich gelitten. Vor allem während meiner Tätigkeit als Journalist hat mich das immer wieder enorm genervt – nicht zuletzt, weil man da meistens mehrere Text-Projekte gleichzeitig in der Pipeline hat.

Was man dabei gerne übersieht: Man bereitet auch den Empfängern am anderen Ende der Line Probleme – den verantwortlichen Redakteuren, die ja auch ihre eigene Pipeline bestücken müssen.

Oft (nein: eigentlich immer) bin ich mit dem Fahrrad zur Süddeutschen Zeitung (damals noch zentral in der Altstadt, im Färbergraben) geradelt, um eine Buchbesprechung oder einen Beitrag für die Seite „SZ Hobby“ noch fristgemäß abzuliefern.
Das Highlight (im negativen Sinn) waren die Fahrten mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof kurz vor Mitternacht, um den Nachtzug nach Hamburg zu erreichen, damit ein Manuskript für die Zeitschrift warum! oder für die Welt noch rechtzeitig am anderen Morgen zur Schlussredaktion gelangte. Anschließend saß ich dann noch im nächsten McDonalds, aß nach Mitternacht sechs Chicken Nuggets und Pommes und trank eine Fanta, las die vom Zeitungsverkäufer gerade angebotene Ausgabe der Süddeutschen vom nächsten Tag – und kam langsam zur Ruhe von dieser Hetze. (Von Entschleunigung wusste ich damals noch nichts.)
Warum dieses eigentlich unwürdige und zudem höchst unprofessionelle Verhalten*?

* – obwohl das wahrscheinlich die meisten Journalisten so machen, vor allem die männlichen – habe ich den Verdacht – ist wohl so eine Art Berufskrankheit.

Die beste Ausrede, die mir einfällt: Irgendwie brauchte ich wohl diesen Kick, diesen Nervenkitzel, diese Mischung aus „Angst und Lust“, die man englisch thrill nennt. Dieses Gefühl: Ich kann das, ich schaffe dass. Denn ich bin einfach gut (wahlweise: der Beste).
Über letzteres kann man streiten. Meine Texte wurden zwar immer gedruckt. Und lesbar waren sie auch. Aber mit weniger – selbst erzeugtem – Zeitdruck wären sie wahrscheinlich noch besser geworden.

Das Schlimmste, was mir „prokratinativ“ jemals passiert ist (und dafür würde ich mich gerne bei dem zuständigen Redakteur nachträglich nochmals entschuldigen – leider ist er inzwischen verstorben): Das Sende-Manuskript für das Feature „Trauminsel – Inseltraum: Atlantis und das Goldene Zeitalter der Menschheit“. Dass ich die (von mir verfassten) Texte meistens erst im Studio intensiv für die Lesung vorbereitete, war ein geringes Problem, weil ich den Text ja bestens kannte und im Lesen gut geübt und selbstsicher war. Aber manchmal war das Manuskript noch verbesserungswürdig – und das musste dann leider während der Aufnahme im Studio geschehen.
Bei „Atlantis…“ hatte ich besonders viel gemurkst und war beschäftigt mit ständigem Wechsel von Lesen – Korrigieren – erneutem Lesen. Nochmal korrigieren, ergänzen, Redigieren. Es war eine einzige unprofessionelle Schande. Bis dem Redakteur der Geduldsfasen riss und wir im Aufnahmeraum heftig zu streiten begannen – das heißt, er machte mir (nur zu berechtigte) Vorwürfe) und ich entschuldigte mich. Das setzte sich fort in seine Redaktionsräume im anderen Teil des Rundfunkgebäudes (die Sendung war da glücklicherweise schon „im Kasten“).
Auch wenn die Sendung sehr gelungen ist – ich schäme ´mich heute noch für diese „Aufführung“.

Warum ich das alles hier im Blog ausbreite? Nun, dieser Text soll – wie jede gute Geschichte – eine Pointe haben, die ja im Titel bereits angedeutet wird: Irgendwie ist es mir gelungene, diesen Stress abzubauen. Ich habe auch heute noch Termine (aktuell warten einige Texte darauf, geliefert zu werden). Aber ich gestalte dass entspannter. Könnte etwas mit dem Älterwerden zu tun habe (was angeblich auch zu einer gewissen Weisheit und Reife führen soll). Vor allem schiebe ich wirklich nichts mehr vor mir her auf die sprichwörtliche „lange Bank“. Bestes Beispiel: Die Buchführung und Abgabe der Steuererklärung.
Die Buchführung schob ich früher jedes Vierteljahr vor mir her – und machte sie dann unter enormem Stress mit „Fristverlängerung“, damit die vierteljährliche Umsatzsteuererklärung möglich wurde. . Den Termin „31. Mai“ für die jährliche Gesamtsteuererklärung habe ich jedes Mal verpasst – die Steuerberaterin musste immer (!) um Fristverlängerung bis Februar des nächsten Jahres bitten.

Irgendwann habe ich jedoch „die Kurve gekriegt“. Schon seit gut zehn Jahren mache ich die Buchführung immer am Monatsende; inzwischen sogar alle zwei Wochen. Und das Beste: Jetzt mache ich das sogar ausgesprochen gerne, habe so etwas wie eine „Freude am Umgang mit den Zahlen“ entdeckt.

Die Steuererklärung (inzwischen ja digital-elektronisch mit ElStEr) macht mir auch keinen Stress mehr. Spätestens im August war die für 2018 beim Finanzamt (mit einer winzig kleinen Bitte um Fristverlängerung und inzwischen ohne Steuerberater – geht ganz einfach mit der WISO-Software).

Und nun zur Pointe:

Die Steuererklärung für 2019 habe ich fristgemäß Ende Juli 2020 abgeschickt (was jetzt der offizielle Abgabetermin für ElStEr ist).

Bravo! Applaus!

Prokrastination ist keine im Verzeichnis der Weltgesundheitsbehörde eingetragene „psychische Krankheit“. Aber es ist vielleicht die schlimmste von allen – weil sie so viele Nebenwirkungen hat. Ich weiß, wovon ich rede.
Und dass ich seit 1982 die Beendigung eines Romanwerks von inzwischen geplanten fünf bis sieben Bänden vor mir herschiebe und herschiebe und herschiebe – das hat nun wirklich nichts mit Prokrastination zu tun. Das braucht einfach seine Zeit, da musste einfach noch so viel anderes in der Pipeline erledigt werden. Zum Beispiel die Buchführung für Mai 2022. Und die ElStEr für 2021 habe ich sogar schon im Februar 2022 abgeschickt.

Gut Ding will eben Weile haben – so sagt man doch. Das gilt auch für den Abbau von Prokrastination.

Fortsetzung folgt: → Ist Prokrastination heilbar?

Quellen
<NN: Der Rundfunk zieht um>. In: Südd. Zeitung vom ?? Dez 2020.
Glotzmann, Thorsten: „Produktive Prokrastination. In: Südd. Zeitung vom 22. Jan 2016 (Feuilleton), S. 14.
Scheidt, Jürgen vom: Trauminsel – Inseltraum: Atlantis und das Goldene Zeitalter der Menschheit. München Okt 1992. Manuskript für den Bayrischen Rundfunk – Nachtstudio).

aut #1317 _ Aktualisiert: 2022-06-14/11:44 / 2022-06-13/14:56 (2022-04-16)

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