Weltformel „Heldenreise“

Vorab: Die klassische Heldenreise, etwa eines Theseus, Siegfried oder Herkules, war eine reine Männersache. Inzwischen gibt es so viele weibliche Helden resp. Heldinnen (ich denke da an Lara Croft in dem bekannten Computerspiel Tomb Raider und an die inzwischen unzähligen Kommissarinnen, die in Krimis ermitteln), dass es vielleicht an der Zeit ist, eine neutralere Bezeichnung einzuführen, die genderfreundlicher ist. Wie wäre es denn mit „heldische Reise“? Nur so ein Vorschlag (den ich ab jetzt gerne verwende). –

Hier im Blog geht es immer wieder mal um das Thema „Heldenreise“ resp. „heldische Reise“ (oder kurz „hR“). Sie ist mir als literarisches Konzept schon lange bekannt gewesen. Aber es war Daniel Speck, der mir 2002 in einer gemeinsamen Drehbuch-Werkstatt das Konzept näherbrachte, das ich ab da in meine Arbeit mit den Seminaren wie in meine eigenen Texte sehr hilfreich eingebaut habe.

Jede hR hat einen typischen Verlauf. Ich will ihn zunächst schematisch anhand eines Abenteuers vorstellen, das wir alle (!) jeden Tag bzw. jede Nacht selbst erleben:
° Wenn wir aus der Wachwelt das Tages
° über eine (manchmal körperlich spürbare) Schwelle
° hinabsinken in die Nachtwelt von Schlaf und Traum, von der wir praktisch null Ahnung haben, was da vor sich geht und was wir dabei, zum Beispiel träumend, erleben
° bis wir erneut über die Tag-Nach-Schwelle gleiten
° und am nächsten Morgen aufwachen.

Abb. 2: Die „heldische Reise“ vom Tag in die Nacht und wieder zurück. (Archiv JvS)

Ja: Sie machen jede Nacht so eine „heldische Reiser“ und ich wette, dass es Ihnen noch nie in den Sinn gekommen ist, das als ein besonderes Abenteuer zu betrachten. Ist es aber – wie Ihnen spätestens dann bewusst wird, wenn sie mal aus einem furchtbaren Albtraum schweißgebadet oder gar schreiend aufwachen. Dann ist diese „heldische Reiser“ nämlich nicht glücklich ausgegangen und ihr Gehirn (ihr Unbewusstes) hat gewissermaßen die Notbremse gezogen und als einzig mögliche Lösung das Aufwachen aktiviert.
Das erste Mal so richtig untersucht und als universelles Schema herausgearbeitet hat diesen Sachverhalt der britische Mythologe Joseph Campbell in deinem Standardwerk The Hera with a Thousand Faces, das für die Drehbuch-Autoren und Regisseure von Hollywood und überall auf der Welt zu einer Art Standard geworden ist. Wie der Dramaturg Christopher Vogler untersucht hat, zeigen die Erfolge (tops) und Misserfolge (flops) von Filmen deutlich, wie hilfreich dieses Konzept ist; Vogler hat es zugleich auf das Schreiben von Büchern überhaupt angewendet (und seinen eigenen kreativen Prozess beim Verfassen eben dieses Werks sichtbar gemacht) und mit The Writer´s Journey ein Standardwerk für alle Autoren geschaffen.
Jeder größere Entwicklungsschritt im Leben kann man nach dem Muster einer hR analysieren und wird dabei immer wieder dieselben Elemente oder Stationen finden – was die hR zu so etwas wie einem entwicklungspsychologischen „Weltformel“ macht. Im vorangehenden Beitrag über den Kinderroman → Peterchens Mondfahrt habe ich das einmal exemplarisch durchgespielt. Schauen wir uns diese Stationen nun einmal genauer an.

Abb.2: Verlauf einer typischen Heldenreise mit ihren verschiedenen Stationen (Archiv JvS)

Die abenteuerliche Reise eines Helden lässt sich nicht nur in Märchen und Mythen aus früheren Zeiten als erzählerische Grundstruktur herausarbeiten – sie stellt mit ihren typischen Stationen das Grundmuster für Geschichte dar und ist deshalb für jeden, der schreibt, von großem Interesse.
Der amerikanische Forscher Joseph Campbell hat viele Mythen, Märchen und moderne Erzählungen analysiert und daraus ein grundlegendes Modell des Ablaufs dieser abenteuerlichen Reisen entwickelt. Er folgt dabei Ideen und Untersuchungen seiner Vorläufer Leo Frobenius und C.G. Jung. Insbesondere inspirierte Campbell das Eindringen des athenischen Königssohns Theseus in das Labyrinth von Kreta und sein Sieg über den schrecklichen Minotauros. Dieser Mythos ist für ihn geradezu das Modell aller Heldenreisen. Das eigentliche Ur-Modell der Heldenreise ist allerdings der älteste überlieferte Mythos der Welt: das Gilgamesch-Epos.

A. Die 13 Elemente der Heldenreise

Die Heldenreise (engl. heroes’ quest) besteht aus einer Reihe deutlich abgrenzbarer Elemente und Schritte. Diese tauchen nicht immer alle, nicht immer in genau dieser Reihenfolge und auch nicht immer mit der gleichen Bedeutung auf. Die folgende Aufzählung ist also mehr eine idealtypische Entwicklung.

1. Dilemma und Konflikt (Agon)
Es geht bei der Heldenreise immer um einen Konflikt. Dies kann ein äußerer Konflikt sein, in dem der Held sich bewähren muss (im Krieg zum Beispiel), oder ein innerer Konflikt (“Kiffen – oder nicht mehr Kiffen – das ist hier die Frage.”).
Letzteres läuft, psychologisch gesehen, immer auf einen unbewältigten, verdrängten Rest der Kindheit des Helden hinaus, der ihn irgendwann einholt und die Wurzel seines Dilemmas ist (wie man im Film bei der Plot-Dramaturgie den Zustand des Helden benennt, bevor er seine eigentliche Reise beginnt). Das kann eine Geschwister-Rivalität sein, oder eine offene Rechnung mit dem Vater (Luke Skywalker im Kampf gegen seinen Vater Darth Vader, zum Beispiel).
Hier findet sich, in der Tiefe der Psyche der Hauptfigur, die alte Wunde, die nicht verheilt ist. Um deren schmerzhafte Nachwirkungen zu kompensieren, hat der Held in seiner Vor-Helden-Phase eine Reihe von psychischen Abwehrmechanismen (Anna Freud) entwickelt, die zu falschen Befürfnissen (needs) geführt haben, welche nun endlich korrigiert werden müssen. (Hieraus hat übrigens Hollywood sein überaus erfolgreiches Konzept von wound and need entwickelt – was nichts anderes ist als “the Heroes’ Quest in a nut shell” (Quest ist ein altertümliches Wort für Heldenreise).
Es ist also sicher nicht übertrieben festzustellen, dass die Psychodynamik des Familienromans, wie Sigmund Freud das nannte, der eigentliche Motor jeder Heldenreise ist. Letztlich ist es ein Kampf auf Leben und Tod, wie das alte griechische Wort für Konflikt deutlich sagt: Agonie heißt auch heute noch der Todeskampf des Sterbenden. Von diesem agon leiten sich die Bezeichnungen der Theaterwelt für den Helden (Protagonist) und seinen Gegenspieler (Antagonist) ab.

2. Call to Adventure (Der Ruf des Abenteuers)
Warum ziehen wir den englischen Ausdruck call to adventure dem deutschen “Ruf des Abenteuers” vor? Weil er das Moment des Exotischen hervorhebt. Denn jede Heldenreise führt in einen zuvor unbekannten Bereich der Wirklichkeit – in ein fremdes Land zum Beispiel. Oder in ein Land, das es gar nicht (mehr) gibt: das Phantasién von Michael Endes Unendlicher Geschichte, die Welt der Zauberer bei Harry Potter oder das Kreta der Antike mit seinem sagenhaften Labyrinth. Und manche Länder sind in unseren Tagen noch gar nicht erreichbar: der Mars, extrasolare Exoplaneten, die um ferne Sterne kreisen . . .
Von irgendwoher kommt eine Anregung, manchmal sogar auch die ganz unverblümte Aufforderung: “Tu dies!” (schreib zum Beispiel ein Buch zu dem und dem Thema). Und damit beginnt die Abenteuerreise. Es ist eine Reise in eine ganz andere Welt – Campbell nennt dies die Unterwelt oder Nachtwelt (bei Tannhäuser ist es der Venusberg). Denn um dieses anders sein als die gewohnte Wirklichkeit geht es dabei. Ein jedem Menschen geläufiges Beispiel ist die Welt der Träume, in der wir uns jede Nacht begeben.

2.1 Die Weigerung des Helden, dem Ruf zu folgen
Nicht immer macht sich der Protagonist gleich auf den Weg. Manchmal muss er mehrmals (meistens dreimal) gerufen werden, damit er loszieht. Und gelegentlich ist sogar so etwas wie ein Kick to Adventure, ein richtiger Tritt in den Hintern nötig, damit der Held seine Reise ernsthaft beginnt. Denn es ist nicht leicht, die alten Wurzeln in der vertrauten (Ober-) Welt zu kappen.
Das Neue, Unbekannte macht Angst. Erst die Überwindung dieser und anderer Ängste macht den Protagonisten ja zum Helden. Für den Autor, der sich selbst auf einer Heldenreise befinden mag, äußert sich das oft als Schreib-Blockade.

3. Das Überschreiten der Schwelle
Um in die andere Welt, die Welt des Abenteuers, zu kommen, muss man eine Schwelle überschreiten, die in der Regel streng bewacht wird: vom Hüter der Schwelle (siehe übernächster Punkt).

3.1 Abstieg in die Unterwelt
In der Unterwelt muss man allerlei Gefahren bestehen, die Prüfungen für den Helden darstellen. Da ist die Hilfe eines erfahrenen Mentors wichtig (siehe nächster Punkt). Während einer Psychoanalyse ist diese Unterwelt nichts anderes als die Inhalte (Erinnerungen) der eigenen Lebensgeschichte, die nach und nach aus dem Vorbewussten und Unbewussten aufsteigen.

3.2 Der Hüter der Schwelle
Der Schwellenhüter hindert einen daran, die andere Welt zu betreten. Diesen Schwellenwächter muss man überwinden. Ein triviales Beispiel: Wenn man unbedingt in eine bestimmte Disco hineinmöchte, liegt es im Ermessen des Cerberus am Eingang und in unserer Überzeugungskraft, ob uns dies auch gelingt. Ein literarisches Beispiel: Franz Kafka hat eine berühmte Geschichte über so einen Türhüter geschrieben: “Vor dem Gesetz”. Im Arbeitsleben ist es vielleicht der Personalchef einer Firma, der angesichts unserer Bewerbung um eine Stelle zum Schwellenhüter wird. Für einen angehenden Autor auf eigener Heldenreise kann es jemand aus der eigenen Familie sein, der einen zunächst am Schreiben hindert.

4. Der Mentor
Der Mentor ist eine hilfreiche Figur, ohne die der Held seine schweren Prüfungen kaum bestehen könnte – sei es, dass er ihm beibringt, wie man richtig mit dem Schwert (oder der Feder) umgeht – sei es, dass er ihr wichtige Auskünfte über das unbekannte Terrain vermittelt, in welches der Held, die Heldin aufbricht.
Der Mentor ist also einer, der die Heldenreise selbst schon einmal erfolgreich bewältigt hat. Das ist der Grund, weshalb Psychoanalytiker selbst eine (Lehr-)Analyse absolvieren müssen, in deren Verlauf sie ihr eigenes Leben einigermaßen verarbeiten sollen.
Für einen angehenden Buchautor könnte so ein Mentor ein erfahrener älterer Kollege sein (obgleich man so jemanden mit der Lupe suchen müssen wird – erfolgreiche Autoren haben selten Zeit für Kollegen, weil sie gerade ihr nächstes eigenes Buch schreiben).
Hilfreich ist in der Unterwelt auch ein schützendes Amulett (siehe nächster Punkt).

5. Das Amulett
Dieses magische Objekt (von arabisch hammalât = Tragband) ist nicht nur Aberglaube. Psychologisch gesehen, handelt es sich um ein kleines Objekt, das vom Träger symbolisch stark psychisch aufgeladen wird. Es soll immer wieder die Aufmerksamkeit auf eine zu bewältigende Aufgabe lenken – zum Beispiel ein schönes Paperqweight, das auf dem Schreibtisch das Buch repräsentiert, das man schreiben möchte. Außerdem treten Helfer-Figuren auf und (Magisches) Werkzeug wird dem Helden übergeben.

6. Hindernisse und Prüfungen
Erste kleine Hindernisse müssen überwunden, Prüfungen bestanden werden, damit die Reise fortgesetzt werden kann.
Warum heißt das Abitur wohl Reife-Prüfung? Weil es nur ganz am Rande darum geht, ob Sie alle Fragen in allen Prüfungsfächern richtig beantworten können, sondern ob Sie den enormen Stress adäquat bewältigen, der mit dieser Mutprobe verbunden ist.
Aus vielen Märchen sind uns die Rätselfragen vertraut, die dem Helden gestellt werden. Beantwortet er sie falsch – kommt er nicht selten zu Tode. Ödipus hat Glück (und Verstand genug), um diese geheimnisvolle Frage der Sphinx richtig zu beantworten:
“Was ist das – geht am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zwei, am Abend auf drei?” (Richtige Antwort: der Mensch – als krabbelnder Säugling, als aufrechter Erwachsener, als Greis mit Krücke).
Manchmal ist auch hilfreiche Anteilnahme gefragt – so wenn die fertig gebackenen Brote der Goldmarie auf ihrem Weg zur Frau Holle aus dem Backofen zurufen: “Nimm uns raus”.
Werden diese Prüfungen bestanden, so wird man reich beschenkt: mit einem heilkräftigen Elixier, mit einem Goldschatz, einer Prinzessin (das Tapfere Schneiderlein!) – oder dem Abiturzeugnis.
Für den Autor auf eigener Heldenreise: das Manuskript wird fertig.

7. Die Helfer des Widersachers . . .
. . . stellen sich in den Weg und müssen besiegt werden.
Spiegelbildlich zu den Helfern der Hauptfigur verhält es sich auf der Seite des Widersachers. Dort findet man den fiesen Schläger des Mafia-Bosses, das magische Tier eines bösen Zauberers – oder die Geheimagentin einer feindlichen Macht, welche James Bond betört und ausspioniert oder ihn sogar zu ermorden versucht .

8. Auftreten des eigentlichen Widersachers (Antagonist) und Kampf mit ihm
Nach einer Reihe kleinerer Abenteuer auf dieser Reise kommt es zur Großen Begegnung mit dem Haupt-Gegner (s.o. 6). Er ist in der Detektivgeschichte buchstäblich der König der Unterwelt, im Abenteuer- und Fantasyroman ein Ungeheuer, ein Drache, ein Böser Gott, der Satan; im Labyrinth ist es der mörderische Minotauros, mit dem Prinz Theseus konfrontiert wird.
Für den Autor auf Heldenreise ist dies die “große Blockade”, in der er total frustriert sein Projekt aufgeben möchte – weil zum Beispiel “unerledigte Geschäfte” aus der Vergangenheit auftauchen und sich störend auf den Schreib-Prozess auswirken.
Man nennt diesen größten Gegner auch Widersacher oder Antagonist. In ihm verkörpern sich am intensivsten alle Widrigkeiten, welchen der Held auf seiner Reise begegnet.
In der Labyrinth-Sage ist dies der Minotauros, ein stierköpfiges Ungeheuer. In der Filmserie Krieg der Sterne verkörpert den Widersacher Luke Skywalker´s eigener Vater – Darth Vader. Bei Harry Potter ist es der schreckliche Lord Voldemort.
In der Konfrontation mit dem Antagonisten muss der Held alle seine Kräfte und Talente mobilisieren, um diese größte aller Prüfungen zu bestehen. Oder er scheitert – als Anti-Held. Letzteres findet man im Alltag in jedem Alkoholiker-Schicksal – der Dämon sitzt dabei in der eigenen Persönlichkeit.
Grundsätzlich gilt: Je stärker und bösartiger der Bösewicht ist – umso größer der Triumph des Helden, wenn er ihn schließlich doch besiegen kann.

9. Existenzieller Tiefpunkt des Helden = Höhepunkt der Handlung
In der Regel ist der Kampf mit dem Widersacher (s.o.) auch der Höhepunkt einer Erzählung. Genau genommen ist es jene Situation kurz davor, in welcher der Held so in die Enge getrieben ist, dass er meint, diese Prüfung nicht zu schaffen. Er ist kleinmütig, voller Angst, verzweifelt, scheinbar ohne jede Hilfe – und durch die Angst auch noch blockiert in seinen Möglichkeiten, vorhandene Erfahrungen, Energiereserven und hilfreiche Begabungen zu mobilisieren (Angst ist etymologisch eng verwandt mit Enge, eng).
Mit anderen Worten: Der Held (die Heldin) ist auf dem Tiefpunkt seiner (ihrer) Existenz angelangt. Erst wenn der Protagonist in diesem Augenblick alle alten Erfahrungen und Verhaltensmuster loslässt (die ja ganz offensichtlich nichts bewirken) – kann die Situation umschlagen und sich zum Besseren wenden.
Diese neue Offenheit ist der Schlüssel zum Aufstieg aus der Tiefe.
Ein sehr häufiges Beispiel, das dies deutlich macht: Menschen, die kurz vor dem Suizid stehen, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen (Job gekündigt, Ehe kaputt, Bankkredit gekündigt) sehen auch die Hilfen nicht, die eigentlich vorhanden sind. Erst wenn sie nach einem missglückten Suizidversuch gerettet werden und z.B. nach einer Tablettenvergiftung im Krankenhaus auf der Intensivstation aufwachen, sind plötzlich alle möglichen Helfer da. Die gab es vorher auch – aber der Tunnelblick der Verzweiflung und Angst (und des falschen Stolzes etc.) hat sie ausgeblendet. Ab da kann es wieder aufwärts gehen.

Jede gute Geschichte, ob die von Harry Potter oder Tarzan oder Wer-auch-immer, bezieht ihre Stärke und Überzeugungskraft aus dieser menschlichen Grunderfahrung: Auch in größter Not ist Rettung möglich. Aber sie verlangt eine echte Bereitschaft zu existenzieller Neuorientierung. Was psychologisch gesehen nichts anderes bedeutet als: Einen grundlegenden Konflikt neu zu bewerten und dadurch neuen Lösungen zugänglich zu machen (s. nächster Punkt)

9.1 Im Zentrum der Unterwelt (die Tiefste Höhle)
Die Tiefste Höhle ist für Campbell der Ort der endgültigen Begegnung mit dem Widersacher und des alles entscheidenden Kampfes mit ihm. Im Labyrinth-Mythos ist dies der Kern des Labyrinths, wo das Ungeheuer haust. In den Geschichten von Drachen ist es deren Höhle.
Jeder Romanschriftsteller, jeder Drehbuchautor und Filmregisseur verwendet eine Menge Aufmerksamkeit und Gehirnschmalz darauf, diesen mythischen Ort entsprechend im Bewusstsein des Lesers und Zuschauer sichtbar und vor allem fühlbar zu machen.
Jeder ordentliche Albtraum macht das kostenfrei für Sie – wenn Sie unbedingt möchten sogar jede Nacht. Der Tunnel, durch den Sie kriechen, hinten von einbrechendem Wasser und vor ihnen von einer Feuersbrunst bedroht – wenn es Ihnen da nicht gelingt, die Tür in den rettenden Seitengang zu entdecken, der Sie ins Freie führt – bleibt ihnen nur noch eines: Aufwachen!

10. Lysis durch Freisetzung verborgener Kräfte und Talente
Es gelingt dem Helden, verborgene Kräfte zu mobilisieren und den Widersacher zu besiegen – Helfer (Freunde) und magische Werkzeuge treten eventuell unterstützend in Aktion. Der Sieg über den Widersacher setzt im Helden ungeahnte Kräfte frei. Diese Lysis ermöglicht ihm die Rückkehr in die Oberwelt.

10.1 Die Helfer des Helden
Es gibt noch andere Figuren außer dem Mentor, die dem Protagonisten in der Not beispringen (oder schon davor). In der Labyrinth-Sage ist das beispielsweise die Prinzessin Ariadne, die dem Helden Theseus ein Schwert und den sprichwörtlich gewordenen Roten Faden gibt, ohne deren Hilfe er den Minotauros schwerlich besiegen könnte.
In vielen Märchen sind es Zwerge oder hilfreiche Geister, die in höchster Gefahr zur Hilfe kommen.

10.2 Magische Werkzeuge
Das können wörtlich Gegenstände sein (Waffen, neue technische Geräte) – oder Überzeugungen, Werte, neue Fertigkeiten. Der Rote Faden, den Prinzessin Ariadne dem Theseus mitgibt, damit er sich im Labyrinth zurechtfindet, ist so ein Magisches Werkzeug par excellende. Eigentlich ein Nichts, ein Stück Wolle – wird dieser Faden zum Lebensretter, weil er (dank einer geheimnisvollen Eigenschaft, welche der Erfinder Daidalos dem Faden verliehen hat) wie ein GPS-Gerät den Weg durch das Labyrinth (eigentlich ein Irrgarten, ein Yrrinthos) zeigt mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, sich zu verirren und dem todbringenden Ungeheuer Minotauros zu begegnen.
Für Harry Potter ist sein Zauberstab so ein magische Werkzeug, desgleichen sein Umhang, der ihn unsichtbar macht. Alle Zauberer können sich in dieser Buchserie eines Portschlüssels bedienen, der sie an einen anderen Ort versetzt. Aber Harry kennt auch die Sprache der Schlangen, ebenfalls ein hilfreiches Werkzeug (was es wie so manches andere leider nur im Märchen gibt und in der Fantasy).

11. Bergung des Schatzes (Elixier) und Entdeckung neuen Lebenssinns
Das näher zu erläutern, erübrigt sich. Wenn die Verzweiflung und die Angst gewichen sind, die den Helden am existenzieller Tiefpunkt (siehe oben, Punkt 9), werden neue Fähigkeiten und Kräfte verfügbar und neuer Lebensmut macht neue Hoffnung und einen neuen Sinn im Leben zugänglich. Sonst taugt die ganze Geschichte nichts.
Dieser neuen Lebenssinn ist der eigentliche Gewinn der Heldenreise – der Schatz, die Essenz (siehe unten, Punkt 14).
Dieses Elixier (von arabisch: al-iksír = Quintessenz, Stein der Weisen) ist die große Belohnung für den Helden, der sichtbare Beweis einer Heldentat. Diesen sollte man jedoch nicht nur für sich behalten, sondern in die Tagwelt zurückbringen. Beispiele:
° Das Penicillin, das Fleming entdeckt und damit der modernen Medizin die – oft lebensrettenden – Antibiotika zugänglich macht,
° das Roman-Manuskript, das der Autor endlich vollendet hat.

In vielen Geschichten geht es auch ganz profan um das Auffinden und Erobern eines Schatzes (der allerdings auch ein Schatz im übertragenen Sinne sein kann – zum Beispiel eine hübsche Prinzessin, die man in letzter Sekunde den Klauen eines feuerschnaubenden Drachen entreißt)

12. Rückkehr in die Ober-Welt
Diese Rückkehr in die Ober-Welt ist von zentraler Bedeutung. Erst wenn man diesen Abschnitt der Heldenreise bewältigt hat, ist man der Meister der Zwei Welten (siehe nächster Punkt).

12.1 Magische Flucht – Überwindung des Anderen Schwellenhüters
Wenn der Held alle Fährnisse und Widrigkeiten der Unterwelt / der anderen Welt bestanden hat – kann es dennoch sein, dass er in dieser anderen Wirklichkeit bleiben möchte. Denken wir nur an Odysseus, der im Zauberschloss der Kirke verharrt – obgleich doch so wichtige Aufgaben wie die Rückkehr in die Heimat, der Kampf gegen die Freier um seine Ehefrau Penelope und die Rettung seines Sohnes Telemach vor der Gier der Erbschleicher auf ihn warten!
Dies nennt Campbell die Magische Flucht – die nichts anderes ist als die Flucht vor der Verantwortung in der ursprünglichen Realität, die ja trotz der Parallelwelt der Unterwelt immer noch existiert.
Tannhäuser gefällt es in den erotischen Verlockungen des Venusbergs zunächst besser als an dem Ort, von dem er kommt! Ähnlich geht es Odysseus bei der Zauberin Kirke.

13. Meister der Zwei Welten
Meister der Zwei Welten ist man, wenn man die Abenteuer der Heldenreise nicht nur selbst glücklich überstanden hat, sondern den dabei gewonnen Schatz in die ursprüngliche Heimatwelt zurückbringt (Theseus hat den Minotauros getötet und bringt seine geretteten Gefährten zurück nach Athen / das geschriebene Buch wird veröffentlicht).
Ein Meister der Zwei Welten ist natürlich auch der eingangs erwähnte Mentor (s. Punkt 4) – er hat diese gefährliche Reise ja schon einmal gemacht und alle Prüfungen mit Bravour überstanden. Sonst könnte er dem noch unerfahrenen neuen Helden oder der Heldin kein Vorbild und Förderer sein.

Nach-Geschichte
Eine Phase geht jedoch all dem eben Beschriebene vorweg und ist so fern dem abenteuerlichen Ablauf der skizzierten hR, dass sie völlig übersehen und unterschlagen wird: Die quälende Zeit, in der man sich, oft während vieler Jahre, nur äußerst dumpf bewusst ist, dass “etwas nicht stimmt” im eigenen Leben. Dass da etwas zur Verwirklichung drängt, in das man nur in manchen Träumen Einblick bekommt – oder in Tagträumen und Phantasien.
Die skizziert man vielleicht in Geschichten, in wilden Science-Fiction-Stories auf fernen Planeten und in fernen Zeiten – ohne zu begreifen, dass sie etwas mit unverwirklichten Möglichkeiten in der eigenen Persönlichkeit zu tun haben und mit dem Talent-Potenzial, mit dem man geboren wurde.
Ich nennen diese Vorphase Unzufriedenheit bis Verzweiflung. Für nicht wenige Menschen geht sie tödlich aus – und sie können deshalb die eigentliche heldische Reise nie antreten. Andere Anti-Helden überlassen sich der vermeintlichen Hilfe einer Rauschdroge (“Wer Sorgen hat, hat auch Likör”, merkte Wilhelm Busch hierzu in der Frommen Helene buchstäblich süffisant an) und enden in einer Sucht.
Und schließlich gibt es auch nach der Heldenreise eine wichtige Nachphase: das “ganz normale Leben”, das man dann wieder führen muss:
° Der Held Theseus wird König (von Athen) und muss nun regieren.
° Die Autorin beginnt mit den Recherchen für ihr nächstes Buch (oder verkauft wieder Autos, wie bisher).


B. Die Heldenreise der Autors

Moderne Drehbuch-Autoren wie George Lucas ( Krieg der Sterne ) beziehen sich, wie eingangs erwähnt, seit den 1970er Jahren ausdrücklich auf Campbells Buch. Es gibt inzwischen eine ganze Schule des Drehbuchschreibens, welche dieses Handlungsmuster auf ihre Fahne geschrieben hat – allen voran präsentiert von Keith Cunningham (der u.a. in der Drehbuch-Werkstatt der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) Seminare abhielt).
Cunningham (der auch Psychotherapeut der Jung´schen Richtung war), sieht in dieser uralten Heldenreise sogar noch mehr. Sie ist für ihn nicht nur ein Modell für Film-Drehbücher und Romane, sondern bildet zugleich den geistig-seelischen Weg ab, den auch der Autor solcher Werke durchwandert – als Heldenreise des Autors gewissermaßen.
Der amerikanische Film-Dramaturg Christopher Vogler hat 1998 den Cunninghamschen Ansatz übernommen und ausgebaut in seiner bahnbrechenden Studie The Writer’s Journey: Mythic Structure for Writers (der Titel der deutschen Übersetzung verengt das leider zu sehr zur “Odyssee des Drehbuchschreibers”).

C. Hintergrund: C.G. Jung und Leo Frobenius

1911 erschien C.G. Jungs Werk Symbole und Wandlungen der Libido , mit dem er sich von Sigmund Freud und der Psychoanalyse löste, um seine eigene Therapieform und -theorie zu gründen: die Analytische Psychologie. In diesem Buch befasst sich Jung an prominenter Stelle mit dem Konzept der Nachtmeerfahrt und der Heldenwanderung (was wohl auch mit seiner persönlichen Nachtmeerfahrt während der Lösung des einstigen Mentors Freud zu tun hatte). Dies dürfte die erste Beschäftigung eines Psychologen mit dem Thema der Heldenreise und somit die Grundlage für Joseph Campbells 1949 erscheinende Untersuchung des Helden-Mythos sein.
Jung bezieht sich seinerseits betreffend Nachtmeerfahrt auf das Werk Das Zeitalter des Sonnengottes des Afrikaforschers Leo Frobenius.

Quellen
Bassewitz, Gerdt von (Text) und Baluschek (Bilder): Peterchens Mondfahrt. Leipzig 1915 (Kurt Wolff Verlag). Nachdruck München ca. 1975 (Südwest Verlag).
Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces (New York 1949). Der Held in tausend Gestalten. (New York 1949). Frankfurt a.M. 1978 (Suhrkamp).
Ende, Michael: Die unendliche Geschichte. Stuttgart 1979 (Thienemann).
Frobenius, Leo: Das Zeitalter des Sonnengottes. Berlin 1904.
Jung, C.G.: Symbole und Wandlungen der Libido (1911). GW Bd. 5 / Olten 1973 (Walter).
Lucas, George (Regie und Drehbuch): Star Wars (Krieg der Sterne): Hollywood 1978.
Rowling, Joanne K.: Harry Potter (Bd. 1-7). London 1998-2007 (Bloomsbury).
Speck, Daniel und Jürgen vom Scheidt: Drehbuch-Werkstatt (Seminarwochenende München 29. Nov bis 01. Dez 2002) .
Vogler, Christopher: The Writer´s Journey (USA 1998). Die Odyssee des Drehbuchschreibers Frankfurt am Main 1998 (Zweitausendeins). Neuausgabe: Berlin 2018 (Autorenhaus-Verlag).

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