Die Blindheit der Autokraten

Auslöser für diesen Beitrag war ein Artikel in der SZ über die immer brutalere Verfolgung von Journalisten, Aktivisten und anderen kritischen Menschen in Russland – die Putin so gar nicht in sein immer diktatorischer werdendes Konzept passen (Bigalke 2021). In ihrer eitlen Machtbesessenheit übersehen Autokraten wie Wladimir Putin in Russland oder Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas völlig den tieferen Sinn demokratischer Spielregeln und Gewohnheiten. Wer immer nur „von oben herab“ bestimmt – und mit zunehmend brachialer Gewalt durchsetzt – was zu geschehen hat, vergisst, dass jedes komplexe System Sensoren und Rückmeldesysteme braucht, die über den Zustand des Systems berichten, sodass schädliche Rückkopplungseffekte sich nicht verstärken können.

Kritische Journalisten, Umwelt-Aktivisten und vor allem alle paar Jahre die Wähler sind solche „Sensoren“ und „Rückmelder“. Werden sie ausgeschaltet, wird die Führung zunehmend blind. Die Fehler verstärken sich, untergeordnete Systeme entwickeln fatale „Aufschaukelungen“.

Das ist der riesengroße Vorteil jeder einigermaßen funktionierenden Demokratie: Sie ist kybernetisch bestens gerüstet. Allerdings sind die demokratischen Abläufe sehr „gebremst“. Wenn die Wähler nur alle vier Jahre abstimmen können, kommt solches Feedback sehr spät an. Umso wichtiger sind andere „Sensoren“:
° kritische Journalisten, die Korruption und andere Fehlerquellen aufdecken (s. die „Panama-Papers“, mit denen die Investigativ-Reporter der Süddeutschen Zeitung und anderer Medien ein weltweites System von Steuerhinterziehung aufdeckten, bei dem viele Staaten Milliarden an Steuern hinterzogen wurden);
° Non Governmental Organisations (NGOs) wie amnesty international (die sich um politische Gefangene – also „Sensoren“ im obigen Sinn – kümmern) oder Transparency International (die weltweit Korruption anprangern) oder Green Peace und Fridays for Future, (dessen Unterstützerinnen sich intensiv für Umweltschutz einsetzen);
° oder die SocialMedia-Bewegungen #MeToo und #BlackLivesMatter.

Sie alle decken Missstände auf und prangern sie an. Dann kann das Gesamtsystem darauf reagieren, kann korrigieren – über die Gesetzgebung und die Behörden – und kann über die regierenden Parteien Weichen stellen, welche die Missstände in Zukunft abstellen.

Ja mach nur einen Plan…

Wie jeder einigermaßen wache Zeitgenosse und jede ausgeschlafene Zeitgenossin weiß: Das ist der Idealfall. Je größer solche kybernetischen Systeme sind, je komplexer das Zusammenspiel vieler und vielfältiger Unter-System, je machtvoller die Einzelinteressen von Individuen und Gruppen – umso träger reagiert die kybernetische Selbstregulation.

Wenn Autokraten in Ländern wie Nordkorea, China, Brasilien, Russland, Türkei die Sensoren ausschalten, weil sie in ihrem Größenwahn alles „besser wissen“ – legen sie die Axt an ihr eigenes Gedankengebäude – was in letzter Konsequenz ein Wahnsystem ist, denn nichts ist total durchplanbar. Aber man lernt in solchen rückständigen Ländern einfach nichts dazu und schon gar nicht von einem mahnenden Dramaturgen wie Bert Brecht, der in seiner „Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ in der Dreigroschen-Oper singen lässt:

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Geh´n tun sie beide nicht
.

Pläne funktionieren nur – wenn es immer wieder Korrekturen und Verbesserungen gibt – und notfalls einen „Plan B“ oder „Plan C“.

Wir erleben es gerade in der Corona-Pandemie , die ja auch Folge von Störungen eines komplexen kybernetischen Systems ist: Der gesamten Biosphäre unseres Planeten, auf welche die Menschen durch Raubbau und andere zerstörerischen Aktivitäten zunehmend aggressiv einwirken. Ausgleichende Rückkopplungen nehmen dann eben ein geradezu mörderisches Ausmaß an: Die nanowinzigen Viren vernichten und schwächen in rasender Eile ihre menschlichen Widersacher – um es mal total verkürzt darzustellen.

Wir erleben vor allem auch, dass es Rückkopplungssysteme gibt, die vorher unbekannt waren: Wer konnte mit Corona-Leugnern und Impfgegnern und anderen verblendeten „Gegnern“ von (insgesamt erstaunlich gut funktionierenden) politischen Entscheidungen in diesem Ausmaße und mit dieser Militanz rechnen?
Impfgegner gab es schon bei den Masern, also seit Jahrzehnten. Und Millionen Besserwisser gibt es nicht nur unter Fußballzuschauern, sondern in jedem Lebensbereich. Aber dass sich – dank der Sozial-Media – ihr Widerstand so aufschaukeln würde – das hatte niemand auf dem Radar.

Da sind offenbar andere Kräfte verstärkend im Spiel – zum Beispiel eine enorme Verunsicherung bei den Männern, weil die Frauen immer selbstbewusster werden – was dann gerne auf alles mögliche projiziert wird – vor allem auf „die da oben“.

Die größte Gefahr: Der Klimawandel

Die größte Gefahr, die uns derzeit alle bedroht, ist allerdings der Klimawandel. Auch er ist die Folge sich multiplizierender und exponenzial aufschaukelnder Eingriffe in das komplexeste Rückkopplungssystems überhaupt: Unsere Atmosphäre.

Höchste Zeit, dass sich mehr Menschen mit Kybernetik befassen – und welche Rolle sie dabei, auch als menschliche Winzlinge, spielen – und spielen können. Nicht nur durch die Abgabe einer Wählerstimme alle vier Jahre – sondern durch Engagement in NGOs, durch persönlichen Verzicht auf Unnötiges: Autofahren, Fleischkonsum (schon mal was von „Sonntagsbraten“ gehört? oder von vegetarischer Ernährung?), zerstörerische Urlaube, Häuslebauen auf Kosten der Natur.
Die Liste ist lang, was man selbst tun kann – oder lassen kann – oder könnte – und was sich millionen- und letztlich milliardenfach addiert und multipliziert und dann ebenfalls exponenzial aufschaukelt, aber nun in eine positive Richtung.
Schon vergessen, dass es ein einziges, unglaublich schwaches, psychisch mit Asperger-Syndrom zusätzlich behindertes, gerade mal vierzehnjähriges Mädchen namens Greta Thunberg war – die sich auf die Treppen des schwedischen Parlaments setzte und protestierte: „Schulstreik fürs Kima“ – und was ist daraus geworden!

Beim Kinderkriegen haben wir die Kurve doch inzwischen einigermaßen geschafft! Schon meine Urgroßeltern hatten nur noch drei Kinder – und nicht zehn oder fünfzehn – und das ist in den Generationen nach ihnen so geblieben. Die Chinesen haben es dann mit Gewalt versucht (Ein-Kind-Kampagne) – was inzwischen korrigiert werden musste. In Indien hat man überwiegend weibliche Föten abgetrieben – was auch nicht ohne Konsequenzen geblieben ist…

MultiChronalia

Kybernetik als übergreifende wissenschaftliche Disziplin hat mich schon als Schüler in den 1950er Jahren fasziniert – als ich in Science-Fiction-Stories davon las – etwa in den Roboter-Geschichten von Isaac Asimov und in Jack Williamsons Roman Wing 4, bald darauf in Norbert Wieners Mathematik mein Leben und in den Büchern des Physikers Herbert W. Franke.
1959 war eine sehr eigenmächtige Rechenmaschine (heute würde man sagen: eine KI) ein wichtiger „Mitspieler“ in meinem zweiten Roman Sternvogel (erschienen 1962).
1963 schrieb ich die Kurzgeschichte — „Der metallene Traum“, die 1975 zum Kernstück meines dritten Roman Der geworfene Stein wurde. Darin beschreibe ich ein zukünftiges München, das von einem großen Rechner-Verbund unter dem Englischen Garten (ja, so etwas wird kommen) gesteuert wird – den ich als „Kyberneten“ (griechisch: Steuermann) bezeichne. Keine dystopische Zukunft – aber eine, die ihre Macken hat.
Es ist Frankes Einfluss zu danken, dass ich mich 1962 als 22jähriger Student traute, an der Universität (im Soziologischen Institut) zu einem Seminar „Kybernetik“ einzuladen – wo wir dann zu zehnt, aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen kommend, interdisziplinär uns vernetzten, miteinander kybernetische Bücher lasen, vorstellten und diskutierten.
In den 1970er Jahren lernte ich den Kybernetiker Frederik Vester (1925-2003) kennen, der sich auf vielfältige Weise und unglaublich kreativ bemühte, „kybernetisches Denken“ in die Köpfe seiner Mitmenschen zu bringen: In Sachbüchern wie Das kybernetische Zeitalter, zahlreichen Fernsehsendungen und dem sehr lehrreichen und zugleich unterhaltsamen Spiel Ecopolicy, das es zunächst als Papier-Version gab und dann als Multimedia-Spiel. Ich habe darüber 1983 in der Süddeutschen Zeitung auf der Hobby-Seite berichtet:
Der Regent steigert die Lebensqualität.

Und heute im Jahr 2021 freut mich riesig, dass mein Enkel Nico bei Jugend experimentiert einen Ersten Preis mit einer kybernetischen Simulation gewonnen hat, die ganz in der Tradition von Frederic Vester und Herbert W. Franke steht (obwohl er von diesen beiden Pionieren vermutlich noch nie etwas gehört hat)! Das Stichwort heißt: Interaktiv. Die Kybernetik lebt von der Interaktivität der einzelnen Elemente, die sich gegenseitig beeinflussen.

Erster Preis bei Jugend experimentiert 2021 (privat)

Quellen
Bigalke, Silke: „Anschlag auf die Unabhängigkeit“. In: Südd. Zeitung Nr. 100 vom 03. Mai 2021, S. 06 (Politik).
Brecht, Bert: „Ballade . In: Dreigroschen-Oper, Dritter Akt.
Kilchenmann, Ruth J. (Hrsg.): Schlaue Kisten machen Geschichten. Nördlingen 1977 (IBM Deutschland).
Scheidt, Jürgen vom: Sternvogel. Minden 1962 (Bewin).
ders.: Der metallene Traum“. München 1963 (Munich Round Up – nachgedruckt in Kilchenmann 1977.
ders.: Der geworfene Stein. Percha bei München 1975 (R. S. Schulz).
Scheidt, Nicolas vom: „Interaktive Stadtplanung für Geographie-Experimente“. Studie für „Jugend forscht“ im März 2021.
Vester, Frederik: Das kybernetische Zeitalter. Frankfurt am Main 1974/1982 (S. Fischer).
ders.: Ökolopoly – später Ecopolicy – das kybernetische Strategiespiel; Lehr-Software gemäß JuSchG; (CD-ROM), MCB Publishing House, München, 2011,(deutsch-/englischsprachige multimediale CD-ROM für Windows, als Einzel- oder Netzwerkversion).
Wiener, Norbert : Mathematik. Mein Leben. Autobiographie. Düsseldorf 1962 (Econ).

aut #943 _ 2021-05-04/20:33

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