Tempolimit oder: Hans im Glück

(Zufällig beim Stöbern im Archiv entdeckt und jetzt mit Vergnügen hier im Blog recycelt – weil immer noch brandaktuell – so als hätte ich diesen Artikel jetzt eben geschrieben.
36 Jahre (!) ist es her, dass ich diese Kolumne für natur verfasst habe. Die Zeitschrift gibt es noch immer – nach allerlei Veränderungen in Redaktion, Verlag und Erscheinungsbild. Und nachdem es sowohl das generelle Tempolimit in Deutschland noch immer NICHT gibt und die im folgenden Text behandelte Diskussion ums Tempolimit ebenfalls noch immer hin- und herwogt gibt: Hier ist er, der Artikel, genau wie damals im Heft, kein Wort verändert, auch die alte Rechtschreibung belassen – nur mein Gesicht sieht heute anders aus:)

Faksimile meiner Kolumne in natur – Dezember-Heft 1984 (Archiv JvS und natur)

Was kann ein Psychologe zu Umweltfragen beitragen? Diese Frage stellte sich mir sofort, als ich von natur gebeten wurde, diese Kolumne zu schreiben.
Die erste Antwort kam mir bald: Ich bin selbst von allem betroffen, was mit „Umwelt“, genauer: mit ihrer Störung und Zerstörung zu tun hat. Doppelt betroffen bin ich, weil ich in einer Großstadt (München) lebe. Aber ich soll ja eine ganz spezielle Sicht von Betroffenheit ausdrücken: die des Psychologen.
Wie könnte die aussehen – und wie könnte sich aus solcher Psychologen-Betroffenheit praktischer Nutzen ziehen lassen, der auch anderen Betroffenen etwas bringt? Denn so ist der Sinn dieser Kolumne ja gemeint.
Meine langjährige Arbeit mit Menschen, als Therapeut und Gruppenleiter, hat mich gelehrt, daß es im Grunde nur einige wenige – noch dazu sehr einfache – „Fehler“ sind, die die Menschen neurotisch und auf andere Weise unglücklich machen. Interessanterweise sind es meistens (wenn nicht sogar in allen Fällen) ziemlich genau dieselben Fehler und Probleme, welche zu Umweltschäden führen. Das ist keine besondere Entdeckung von mir – das merkt jeder rasch, der sich mit ökologischen Fragen befaßt: Habgier, „Dummheit“, Rücksichtslosigkeit und Lieblosigkeit gegenüber der Natur (samt Mensch und oft auch samt der eigenen Person) sind zentrale Wurzeln aller Umweltsünden.

Ebenso rasch merkt aber wohl jeder, der mit wachem Verstand diese Problematik angeht, daß es mit der Erkenntnis der Probleme, ja nicht einmal mit der Aufdeckung ihrer Ursachen getan ist. Auch in dieser Hinsicht sind sich die typischen Fälle meiner Praxis und die des „Raumschiffs Erde“ nicht nur ähnlich, sondern sie sind vermutlich sogar identisch. Die Verschmutzung der Innenwelt und die der Umwelt gehen Hand in Hand, bedingen und verstärken einander. Aus dieser Einsicht sollten auch die praktischen Verschlage stammen.

Ich will es an einem Beispiel erläutern, das derzeit die Gemüter, speziell in unserem Land, ungeheuer erregt. Ich meine die Diskussion um das Tempolimit, das helfen soll, dem Waldsterben Einhalt zu gebieten. Ich will hier gar nicht erst in die komplexe Auseinandersetzung um das Für und Wider des Autorasens (oder gar des Autofahrens überhaupt) einsteigen – jeder Leser dieser Zeitschrift wird das längst für sich selbst und in der Diskussion mit anderen gemacht haben. Mir geht es vielmehr darum, einen Schritt „hinter“ das Thema „Geschwindigkeitsbegrenzung“ zu machen – vielleicht läßt sich dort sogar zumindest eine Teillösung des Abgasproblems finden, die für alle akzeptabel ist!

Weniger kann mehr sein

Es ist ja immer eine mißliche Sache, jemandem etwas wegzunehmen, das ihm lieb und teuer ist. Es ist aber manchmal so, daß man durch einen Wert geblendet wird – und deshalb einen anderen, viel höheren Wert dank dieser „Blendung“ gar nicht wahrzunehmen imstande ist. Sie kennen alle das Märchen vom „Hans im Glück“, nehme ich an. Dieser Bursche bekommt, als Lohn für einige Jahre Arbeit, einen Klumpen Gold. Hinterlistige Zeitgenossen bringen ihn dazu, dieses Gold nach und nach gegen immer „wertlosere“ Dinge einzutauschen.
Am Schluß drückt man ihm einen nahezu wertlosen Wetzstein in die Hand – und den verliert er auch noch, als er in einen Brunnen schaut.

Ich habe lange nicht verstanden, warum der geleimte Kerl am Ende trotzdem glücklich ist. Heute ist mir die Botschaft natürlich klar, und zwar „natürlich“ im wahrsten Sinne des Wortes: Es gibt Werte, und zwar immaterielle, die für die menschliche Natur eben wertvoller sind als ein Klumpen Gold.

Bezogen auf das Tempolimit: Ich nehme an, daß es viele, wenn nicht die meisten Autofahrer im Grunde genommen herzlich wenig interessiert, was mit irgendeinem Wald passiert, wenn sie über eine Straße sausen.
Sie wollen an irgendein Ziel gelangen, und das natürlich möglichst schnell. Mit Recht, so meine ich, wehren sie sich dagegen, daß man ihnen dieses Stück Freiheit beschneidet – Waldsterben hin oder her.
Aber wie wäre das denn, wenn da nichts weggenommen würde („Freiheit“, Fahrtempo usw.) – sondern wenn etwas gewonnen würde? Durch Langsamerfahren, durch Benützen anderer Verkehrsmittel, am Ende gar durch Zu-Fuß-gehen? Also: Ent-Schleunigung statt immer weiterer Be-Schleunigung? Ich meine, daß es da noch viel zu entdecken gibt, was in der Tat glücklicher machen könnte, als das möglichst schnelle Erreichen eines – nicht selten doch recht fragwürdigen – Ziels: Warum nicht werden wie Hans im Glück?

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: Tempolimit, oder Hans im Glück. In: natur Heft 12/1984, S. 91.

194 _ aut #1009 _ 16. Mai 2021/14:25 <1984-12-00>

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