°Was murmelt hier? (Story)

Das Rauschen kam aus unendlicher Ferne. Seine Augenlider waren wie verschweißt und ließen sich nicht öffnen. Es dämmerte ihm, dass er wohl eben aus einem Traum aufwachte. Hatte der Wecker schon geklingelt? Oder würde diese vertraute Melodie gleich ertönen und ihn sanft in den Tag begleiten –

Dieses verdammte Rauschen! Also doch. Er hatte es geahnt. Er würde wieder am Ufer stehen, auf den leergesaugten Strand mit all dem Dreck schauen und in der Ferne würde sich die Brandung auftürmen und dann würde der Tsunami herantoben und alles mit sich reißen und ihn –

Gemach. Das kannte er alles schon. Er hatte es viele Male erlebt. Und zu Beginn viele Male nicht überlebt. War immer wieder neu aufgewacht zum melodiösen Klang seines Weckers und dem Geruch des Frühstücks-Buffets, das sie unten im Garten des Hotels unter den sich sanft wiegenden Palmen an endlosen Tischen ausgebreitet hatten: Gebratener Speck, Eier, kleine Pizzen, köstliche Fischstücke, Garnelen in exotischen Saucen, sogar Hummer, Salate mit Mango Chutney –

Er konnte von alledem so viel essen, wie er wollte und würde doch nicht zunehmen und am nächsten Morgen genau den selben Hunger haben wie immer – und immer wieder –

Dann das ferne Rauschen. Das Klopfen an der Tür. Die Schöne, die er einige Tage zuvor, und dann auch in den folgenden Tagen angebaggert hatte, immer geschickter – bis sie sich am Abend bei einem Glass Champagner hatte überreden lassen –
Und die dann, ja, das fiel ihm nun wieder ein, mal eben Schwimmen gegangen war, während er noch schlief und nun gleich, mit einer leuchtend roten frischen Hibiskusblüte im Haar und weit offenem Ausschnitt zurückkommen und klopfen würde und –

Aber da war kein Klopfen. Warum trat Anny nicht ein? Warum war da plötzlich kein Rauschen mehr in weiter Ferne, sondern ein eigenartiges Geräusch, schwer einzuordnen, wie fremde Stimmen.

„Was murmelt hier?“ artikulierte seine geschwollene Zunge. Das war auch neu. Irgendetwas hatte über Nacht seine Zunge anschwellen lassen. War das etwas Gutartiges – oder etwas Gefährliches? Sollte er den Hotelarzt kommen lassen?

Und wo blieb Anny? mit der leuchtend roten Blüte? Heute kein Tsunami – nachdem er endlich gelernt hatte, rechtzeitig auf die rettende Anhöhe zu flüchten, von der aus er, in sicherem Abstand, das ungeheure Ereignis beobachten konnte wie ein Theaterstück, das nur für ihn aufgeführt wurde und das fast nur er überleben würde und noch einige Leute, die er nach und nach ein wenig kennenlernte –
– was sonst sollte er tun in diesem verlassenen Stück Südsee, wohin ihn der Urlaub verschlagen hatte-

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Gestern der Besuch beim Speziallabor, zu dem der Hotelarzt diese Gewebeprobe aus seiner Zunge geschickt hatte. Er wollte Gewissheit haben und nicht warten, bis der Bericht zum Arzt geschickt wurde, der ihm dann das Ergebnis mitteilen würde – er wollte gleich Genaues erfahren –

Ja, jetzt sah er den Zettel wieder, der auf dem Tisch neben der Tür lag, die auf den Balkon mit Blick aufs Meer führte. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Inoperables Karzinom – Letalität 100 Prozent. Lebenserwartung drei Monate. Zunehmende unerträgliche Schmerzen.

Ungefähr so stand es da auf dem gelben Blatt – mit teils roter Schrift. Und ihm fiel nun auch wieder ein, dass er schon ein Dutzend Mal versucht hatte, in eine Variante dieser Zeitschleife zu gelangen, wo dieses tödliche Karzinom nicht existierte.

Er wusste nun auch, dass der Wecker nicht klingeln würde und dass Anny nicht kommen würde. Er würde seine Badehose anziehen und die Badelatschen und das Handtuch leger über die Schulter werfen und ein Liedchen pfeifen und gemächlich zum Strand hinunterlaufen und sich dort mit ausgebreiteten Armen hinstellen und auf diese gigantische Wasserwand warten.

Und dann würde er ja sehen, ob er diesmal davonkommen würde oder ob ihn irgendein winziger Zufall, der aber alles veränderte, vielleicht in eine Zeitlinie warf, in der man den Krebs doch heilen konnte – oder in der er gar keinen Krebs hatte – weil sich das Labor täuschte?

Oder vielleicht kam es nur darauf an, das Unausweichliche mannhaft anzunehmen. Und nicht am anderen Morgen wieder aufzuwachen. Sondern endlich tot zu sein.

Ja, wer oder was murmelt hier, dachte er. Und holte noch einmal tief Luft, während sich über ihm, dreißig, vierzig, fünfzig Meter hoch, das Meer auftürmte.

Abb: Und er holte noch einmal tief Luft… (Photo by Emiliano Arano on Pexels.com)

„Hallo Fred, Guten Morgen“, flüsterte ihre Stimme in sein Ohr und leckte das Ohrläppchen, wie sie es gerne tat, wenn ihr danach war, mit ihm unter die Decke zu kriechen –

Er setzte sich abrupt auf. Was war mit seiner Zunge? Sie fühlte sich völlig normal an. „Was murmelt hier?“ flüsterte er.

Sie lachte hell auf. „Niemand murmelt. Das ist das Rauschen des Meers. Angeblich soll es heute einen Tsunami geben – natürlich nur unten im Kino. Komm, steh auf, ich habe einen Bärinnenhunger – unten sind schon die Köstlichkeiten aufgebahrt -„

„Bitte, Anny, wie oft soll ich dir noch sagen – das heißt nicht: aufgebahrt, sondern ausgebreitet. Aufgebahrt werden nur die Toten – und die wollen wir doch nicht haben – oder?“

„Nein, auf gar keinen Fall, Herr Professor Besserwisser. Aber ins Kino gehen wir schon – sonst wird das wieder so ein langweiliger Abend mit Essen und Champagner und dieser lahmen Kapelle, die immer die gleichen Stücke vom vorletzten Jahr spielt -„

Sie summte vergnügt die Melodie des Schlagers „Auf einer einsamen Insel sind wir beide allein -„

„Okay, gehen wir heute Abend ins Kino. Zum Tsunami. Und jetzt – „

Sie zog ihm schelmisch lächelnd langsam die Badehose aus. „Aber erst noch – wie war das mit der Zunge?“

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Groundhog Day hieß dieser Film – auf deutsch ein wenig dämlich übersetzt als Und täglich grüßt das Murmeltier. Wie kam er bloß da drauf? Er hatte den Film nie gesehen. Murmeltier – warum denn das?

Ende

aut #1085 _ 2021-07-17/18:46

(Vergleiche auch den Beitrag → Murmeltier-Tage.)

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