Schluss mit Schreibseminaren

Serendipität ist die Kunst, zufällig etwas Besseres zu finden als das, was man bewusst sucht. Christoph Columbus war so einer, dem das widerfuhr: Er suchte eigentlich Indien – fand aber Amerika. Dass der neue Kontinent (bzw. seine ersten Ausläufer, die Inseln der Karibik) etwa weit „Besseres“ als das ersehnte Indien sein könnte, erfuhr er allerdings nie.

Ich habe da mehr Glück:

Eigentlich suchte ich seit Monaten nach der Ursache für eine Schreibblockade – und entdeckte, dass ich nach 42 Jahren und 1045 durchgeführten Schreib-Werkstätten keine solchen Workshops mehr machen möchte.
Die Schreibblockade betraf den Newsletter IKAros*, den ich seit vielen Jahren regelmäßig jeden Monat verfasst und an mehr als 900 Abonnenten verschickt habe – mit „Themen rund ums Schreiben“. Es ist mir sonst immer leicht gefallen, diese Texte zu formulieren. Aber seit Januar ging da irgendwie „nichts mehr“.
Immer wieder grübelte ich: Was ist da bloß los? Bis ich vor drei Tagen (am 01. Juni, genau gesagt) aufwachte und wusste, wie ich die Blockade lösen kann: Indem ich das mache, was ich anderen Leuten in ähnlichem „Stau“ empfehle:

„Beschreibe, wie die Blockade aussieht!“

Das habe ich gemacht. Und ich war mit meinen Notizen noch nicht fertig, als ich die Lösung wusste:

Eigentlich wollte ich schon als Jugendlicher Romane schreiben! Warum gönne ich mir diesen Jugendtraum nicht jetzt im Alter?

Das habe ich ja auch früher schon mehrmals mal gemacht: So sind vier Romane entstanden. Danach entstanden wenigstens Sachbücher (was mir immer sehr schwer gefallen ist – auch wenn die Ideen anfangs sprudelten). Aber mein Buchschreib-Prozess wurde immer wieder durch die Schreib-Seminare unterbrochen, in denen ich mich dann voll und ganz auf die Buch- und anderen Text-Projekte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer konzentrierte.

Das Ergebnis: Mein letztes Buch habe ich 2005 veröffentlicht, also vor 16 Jahren. Aber das ändere ich nun. Ich wage einen Neuanfang – mit dem Romanschreiben. Ich werde das mit zwei Bänden Kurzgeschichten beginnen, parallel dazu meine Autobiographie verfassen – und dann „volle Pulle“ in den glü-Roman einsteigen. Das geht jedoch nur, wenn ich selbst diesen Rat befolge:

Keine Schreib-Seminare mehr, die einen Großteil meiner Kreativität und meiner psychischen und geistigen Energie absorbieren.

Solche Überlegungen hatte ich auch früher immer wieder einmal angestellt, so ungefähr jedes Jahr mal. Interessanterweise eigentlich immer dann, wenn ein Workshop sehr gut gelaufen war. Aber diesmal spürte ich: Wenn ich es nicht jetzt mache (und zwar sofort) – dann mache ich es nie mehr. Und das wird den Schreib-Seminaren sicher auch nicht gut tun.

Das Aufhören fällt mir umso leichter, als ich dies seit einigen Jahre mit meinem Sohn Jonas vorbereitet habe, der nun die Münchner Schreib-Werkstatt übernimmt und das weiterführt, was ich ab 1979 mit meiner Frau Ruth (seiner Mutter) begonnen habe.

Nachdem mir das klar geworden war, ging alles sehr schnell, in drei kurzen Phasen:

1. Tag: Eine gewisse Erleichterung.
2. Tag: Zweifel und ein leicht deprimiertes Tagesgefühl.
3. Tag: Große Erleichterung – und ein Gefühl, wie es eine Schlange erleben dürfte, wenn sie sich häutet.

Tanz auf „zwei Hochzeiten“

Ich habe ja mein (Arbeit-)Leben lang stets auf „zwei Hochzeiten getanzt“:
° In einem Hauptberuf (zweimal ein Jahr lang fest angestellt als Redakteur bzw. als Lektor, danach als Psychologe in eigener Praxis + Leiter von Schreibseminaren – schließlich nur noch als Seminarleiter).
° In einem Nebenberuf als Schreiber (freier Journalist und Buchautor – eigentlich auch ein „Tanz auf zwei Hochzeiten“).

Abb. 1: Der Abbruch des Karstadt-Kaufhauses (1967-2021) am Nordbad in München ist so etwas wie ein Symbol der Beendigung meiner Arbeit als Journalist und Leiter von Schreib-Werkstätten nach ähnlich langer Zeit (1965-2021) (Archiv: JvS)

Der „Abbruch“ der „beruflichen Gebäudes“ meiner Tätigkeit als Leiter von Schreibseminaren lässt sich durchaus mit dem Abriss eines Gebäudes wie dem Karstadt am Nordbad vergleichen, der aktuell gerade stattfindet. Auch was das Alter des „Gebäudes“ betrifft, passt das zufällig exakt:
Dieses Kaufhaus wurde 1967, also vor 54 Jahren gebaut. Damals war ich gerade mit dem Studium fertig und baute an meiner beruflichen Existenz. Das hatte nebenher schon erste Konturen gewonnen, als freier Journalist und Redakteur bei den Medizin-Zeitschriften Selecta und Praxis-Kurier, und begann so richtig dann im Jahr darauf (1968) mit meinem ersten Job als Redakteur bei der Zeitschrift Jasmin. und 1969 als wissenschaftlicher Lektor bei der Nymphenburger Verlagsanstalt.

Die Corona-Pandemie hat die aktuelle berufliche Wende nicht unbedingt herbeigeführt – aber sie hat ganz sicher beschleunigt, dass ich nun die direkte Arbeit mit anderen Schreibern in den Schreib-Werkstätten aufgebe und mich nur noch dem Verfassen eigener Bücher widmen werde.*

* In einer Übergangszeit werde ich meinen Sohn Jonas dabei unterstützen, diese Arbeit auf eigene Weise fortzusetzen.

Vier Buchverträge erleichtern den Übergang

Schließlich ist da die erfreuliche Tatsache, dass ich aktuell vier (!) Buch-Verträge habe, bei denen ich allmählich liefern sollte – und im Hintergrund schon seit Jahren mein glü-Roman als fünftes Projekt rumort und endlich auch Manuskript-Gestalt annehmen möchte – ein Science-Fiction-Roman, mit einer gehörigen Portion „Sense of Wonder“…

Abb. 2: Hinter dem Wehrt staut sich das Wasser und sammelt sich – bis es über die Barriere schießt und sich einen neuen Weg schafft – Symbol für einen kreativen Neubeginn (Archiv JvS)

MultiChronalia

(Manche der folgenden Hinweispfeile für interne Links „→“ haben noch keinen Zielpunkt – da muss noch so mancher Betrag erst geschrieben werden.)

Anführer in wechselnden Kindergruppen wollte ich früher oft sein und war es auch immer wieder mal – wenngleich aus egoistischen Gründen (wofür ich manche Prügel einsteckte und gerne auch → austeilte).
Mein erstes eigenes Seminar (wenn man so will: die erwachsene Variante als „Anführer“) organisierte ich schon während des Studiums. 1962 gelang es mir, einige Studenten aus unterschiedlichen Studiengängen zu einem interdisziplinären Kybernetik-Seminar zusammenzuführen (s. hierzu auch → Die Blindheit der Autokraten).
Ein Schlüsselerlebnis war 1974 ein → Seminar mit 40 Drogenberatern und Jugendschutzbeauftragten, das mir – trotz noch sehr geringen Vorkenntnissen über die Leitung von so einer Veranstaltung – überraschend gut gelang. Anfängerglück, nennt man das. Damals wurde mir jedoch klar, dass ich das richtig als „Handwerk des Seminarleitens“ lernen muss und will. Deshalb begann ich 1975 die Ausbildung in → ThemenZentrierter Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn im Workshop Institute für Living Learning (WILL) – heute → Ruth Cohn-Institut. Im Verlauf dieses neuerlichen Studiums lernte ich auch meine zweite Frau Ruth kennenlernte.
1979 führte ich mit Elisabeth von Godin, einer meiner TZI-Lehrerinnen, für WILL-Europa das erste Schreib-Seminar durch – wahrscheinlich das erste deutschsprachige Schreibseminar überhaupt: → „Schreiben als Abenteuer“.
Im Jahr darauf folgte, wieder mir Elisabeth, „Schreiben als Begegnung“.
Der Erfolg ermutigte mich, zusammen mit Ruth ab 1981 einen eigenen Seminar-Betrieb aufzubauen: das Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie (IAK)). In dessen Rahmen spezialisierten wir uns zunächst auf die Arbeit mit Singles, dann bald auf Seminare mit Schreiben als wertvollem Kulturwerkzeug, das nicht zuletzt für Alleinlebende eine große Hilfe sein kann. So entstand die Münchner Schreib-Werkstatt.
Nach Ruths Krankheit und ihrem Tod (2016) begann sich unser Sohn Jonas für die Arbeit mit Schreib-Seminaren zu interessieren und dieses Handwerk zu lernen, das er nun, nach meinem Rückzug vom „operativen Geschäft“ (wie man das in der Wirtschaft nennt) fortsetzen wird.
Was 2021 für mich endet, nämlich Schreibseminare zu leiten und diese gemeinsam mit anderen Schreibinteressierten durchzuführen, endet ja nicht wirklich. Es nimmt nur für mich eine andere Gestalt an: Nach der Sommer-Werkstatt, meinem letzten Angebot (und in diesem Jahr, seit 1980, zum 41. Mal durchgeführt), bin ich nur noch mit meiner Inneren Gruppe schreibend unterwegs.

Schreib-Tipp

So eine Innere Gruppe ist zugleich MultiChronie pur. Probieren Sie es doch selbst einmal praktisch aus, was so in Ihnen an Inneren Figuren drinsteckt und verleihen Sie denen schreibend eine Stimme. So eine Entdeckungsreise lohnt sich! Bei mir sieht das ungefähr so aus, denn da ist gleichzeitig (wenn auch meist eher in der „Tiefe“ des Gedächtnisses schlummernd):
° das Innere Kind (der kleine Rabauke und auf die Welt neugierig zumarschierende „Enkel vom Architekt Hertel“ in Rehau, der fasziniert ist von utopischen Geschichten – und als Zappelphilipp noch keine Ahnung davon hat, wie ADHS mal sein Leben bestimmen wird);
° der Innere Jugendliche, der das Schreiben entdeckt und nach einem schweren Unfall vom eher extraversiven Draufgänger zum introversiven Grübler wird);
° der schüchterne Student, der nach einer Realisierung seiner → Hochbegabung sucht und nach immer neuen seiner → „33 Bräute“*;
° der erwachsene Familienvater und Journalist und Buchautor und Leiter von Schreibseminaren;
° der Alte, der sich in die Rolle des Mentors für Jüngere entwickelt;
° und da ist, last but not least, mein → ZukunftsSelbst, auf das ich mich voller Neugier hinbewege (und das sich unter anderem in meinem Roman-Projekt glü realisieren will).

* „So frech und mutig wie Sigi „Blasius der Spaziergänger“ Sommer, dieses urmünchner Stadtgewächs, war ich allerdings nicht, der einen autobiographischen Roman mit dem Titel Meine 99 Bräute veröffentlichte, was uns als Schüler sehr inspiriert hat.

aut #1021 _ 2021-06-04/19:30

2 Kommentare zu „Schluss mit Schreibseminaren

  1. Das klingt nicht übel 😊 Es klingt nach Fokussieren – als würdest du deine in all den Jahren gewonnenen Erkenntnisse in deinen eigenen Fluss bringen.
    In diesem Sinne – viel Erfolg wünscht
    Sabine vom 🕷 🕸

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