Bravo, Robert Habeck!

Das war und ist eine noble Entscheidung: Frau Baerbock den Vortritt zu lassen als Kanzlerkandidatin. Es könnte gut sein, dass diese Geste den Grünen mehr Sympathie bringt als manche andere Aktivität dieser Partei. Gerade für die jungen Wähler ist das ein extrem wichtiges Signal. Und die älteren Wähler wie ich, die ohnehin schon lange auf Änderungen im bisherigen Polit-Stil warten, ist das eine wohltuende Bestätigung. Da geht es in die Zukunft!

Wenn ich mir dieses matcho-mäßige und abstoßend aggressive Hickhack bei CDU/CSU um die Kanzlerkandidatur anschaue, kann ich nur sagen: Unsere Politik braucht neue Männer und männliche Vorbilder. Also: Weiter so.

Es läuft ohnehin auf eine kreative Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Frau Baerbock hinaus und vor allem auf eine sehr gutes Team. Die Zukunft gehört solchen Doppelspitzen plus Team, auch wenn unsere Verfassung das (noch) nicht vorsieht.

Habecks Verzicht könnte sich für die Entwicklung der Grünen als zukunftsweisend auswirken (Archiv JvS)

Mehr ist dazu nicht zu sagen, außer ein wenig Eigenlob: Was ich in meinen Beiträgen zu den Bürger-Initiativen und der Anfangsphase der Grünen hier im Blog aktualisiert habe, zeigt deutlich, woher dieser neue politische Stil und dieses andere männliche Selbstbewusstsein kommt, nämlich von einer kräftigen Prise Selbsterforschung und Selbsterfahrung und nicht zuletzt immer wieder auch hilfreicher Selbstkritik (!), was von Anfang an zur DNA dieser neuen Partei gehört hat:

Bürger erfahren sich selbst (1978) und
Selbsterfahrung als Politik: Die Grünen (1980)

So etwas ist Leuten fremd, die noch nie an einer Selbsterfahrungsgruppe oder einem TZI-Seminar teilgenommen haben oder sich eine Weile einer Psychotherapie ausgesetzt haben. Aber all denen mit solchen Erfahrungen tut das richtig gut.

Man sieht das auch in den öffentlichen Kommentaren. Ich möchte aus einem ausführlich zitieren, den Constanze von Bullion in der Süddeutschen auf der Titelseite publiziert hat – und es ist wohl kein Zufall, dass er von einer Frau stammt:

… Habeck hat getan, was unüblich ist in der Politik und in der Regel nicht belohnt wird: erst als Mann eine Frau an sich vorbeilassen auf einen Spitzenposten – und dann auch noch zugeben, wie weh das tat. Der Tag der Entscheidung sei „der schmerzhafteste“ seiner politischen Laufbahn gewesen, sagte Habeck im Interview. Er habe Jahre damit verbracht, den Grünen solche Machtperspektiven zu verschaffen. „Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen. Und das werde ich nach diesem Wahlkampf nicht.“ Das sei eine „persönliche Niederlage“ für ihn.
Ein Aufschrei war das, der aufhorchen lässt. Denn die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur verlief offenbar keineswegs so einvernehmlich, wie die Grünen glauben machen wollten. So wie es klingt, musste Baerbock sich proaktiv durchsetzen gegen Habeck, mal wieder. Denn Frauenstatut hin oder her, auch bei den Grünen haben männliche Kandidaten es immer wieder verstanden, sich im entscheidenden Moment nach vorne zu drängen. Dass es diesmal anders kam, dürfte Baerbocks starker Position geschuldet sein und ihrem Machtwillen. Habeck ließ sie, notgedrungen, verzichtet hat er nicht. Denn verzichten kann man nur auf Dinge, über die man verfügt.
Robert Habeck, der lange als größter Hoffnungsträger seiner Partei galt und sich selbst offenbar auch als solchen betrachtete, hat die Entscheidung nun als „Niederlage“ markiert. Das kann man umso erstaunlicher finden, als ihm weit über das grüne Milieu hinaus Respekt gezollt worden war für die Entscheidung, nicht die Ellenbogen auszufahren. Der Grüne hatte geschafft, was die Schwarzen Söder und Laschet nur unter Verwüstung ihres gesamten politischen Mobiliars bewerkstelligten: eine Lösung zu finden, bei der einer sich zurücknimmt. Der neue grüne Stil, hier wurde er manifest, und er ließ Mitbewerber nicht gut aussehen. Nur dass Habeck jetzt eben noch einen draufgesetzt hat und der Welt zur Kenntnis gab, wie hart ihn die Sache traf. Das kann man mutig finden. Ein Mann, der so viel Verwundbarkeit zeigt, weckt Sympathie und auch Neugier, weil er das herkömmliche Männerbild infrage stellt.

Über den Hintergrund meiner eigenen gesellschaftlichen und politischen Einstellung habe ich vor einer Woche in Multikulti in meinem Leben schon etliches aufgeblättert. Ich werde in meinem nächsten Beitrag noch ein Statement zu meiner — politischen Position abgeben, und dann will ich mich wieder anderen Themen zuwenden. Zum Beispiel der Heldenreise (oder wie ich es, genderneutral, lieber nenne: „Heldische Reise“). Habecks Verhalten ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie „Heldenreise im (politischen) Alltag“ aussehen kann: als Verzicht, der einen weit größeren Gewinn einfährt (im Konzept der HR: einen Schatz).

Quellen
Bullion, Constanze von: „Jetzt mal ehrlich“. In: SZ #93 vom 23. Apr 2021, S. 01 (Titel / Politik).
Scheidt, Jürgen vom: „Bürger erfahren sich selbst“. Braunschweig 1978 (Westermann Monatshefte).
ders.: „Die Grünen: Selbsterfahrung als Politik“. Hamburg Sep 1980 (warum!).

184 _ aut #918 _ 2021-04-27/09:48

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