Lesen, Schreiben und IQ

Ich taste mich langsam an das Thema „SelbstTest: Hochbegabung“ und „Hochbegabung als solche“ heran. Ist gar nicht so einfach.

Als ich 1961 die Eignungsprüfung für die Zulassung zum Studium der Psychologie absolvierte, musste ich wie die anderen Prüflinge auch eine ganze Batterie von Tests absolvieren. Wir saßen in einem großen Hörsaal (an die hundert von uns – überwiegend junge Frauen) und mussten unter anderem:
° einen „Wartegg-Zeichen-Test“ ausfüllen (ein DIN-A4-Blatt mit acht Kästchen, in denen man eine angedeutete Zeichnung ergänzen sollte);
° eine Schriftprobe abgeben,
° einen Persönlichkeits-Test ausfüllen (wieder mit vielen Detailfragen – ich habe keine Erinnerung, was für ein Test das war);
° und vor allem musste man die vielen Aufgaben eines Intelligenz-Tests erledigen.

Abb. 1: Beispiel eines Wartegg-Zeichen-Tests, den ich selbst im Rahmen meiner praktischen Arbeit mit Drogenabhängigen für den empirischen Teil meiner Dissertation Der falsche Weg zum Selbst anfertigen ließ (Archiv JvS)

Aus alledem wurden sowohl die charakterliche Eignung für das Studium der Psychologie erschlossen als auch die Höhe der Intelligenz.

Das ganze Procedere dauerte einen ganzen Tag und war enorm anstrengend. Wenn ich es richtig erinnere, wurde das an späteren Tagen noch mit einem längeren persönlichen Gespräch ergänzt (bei dem vielleicht sogar ein Rorschach-Test eingesetzt wurde). Meine Ergebnisse genügten wohl den Anforderungen, denn ich wurde zum Studium zugelassen.

Bei dieser Eignungsprüfung ging es um dreierlei:
° Zum einen lernte man auf diese Weise die Bewerber in „einem großen Aufwasch“ kennen und konnte sie leicht anhand vorher festgelegter Kriterien aussortieren (und nebenbei deren Fähigkeit zur Stress-Bewältigung evaluieren).
° Dann war die ganze Prozedur so etwas wie das Kernstück des ganzen Psychologie-Studiums „in der Nussschale“ – denn solche Tests sind gewissermaßen das „tägliche Brot“ später in der praktischen Arbeit als Psychologe, das man auf diese Weise in der Selbsterfahrung kennenlernte.
° Und drittens umging die psychologische Fakultät auf elegante Weise damit das damals politisch geforderte Verbot eines „Numerus clausus“ nicht nur bei diesem hoffnungslos überlaufenen Studium: Die „Eignung“ zu prüfen konnte man der Fakultät nicht verwehren – während eine rein mathematisch festgelegte Zahl von Bewerbern um die vergleichsweise wenigen Studienplätze nicht erwünscht war.

Viele Psycho-Tests haben den „Zahn der Zeit“ nicht überlebt

Die Zeiten haben sich sehr geändert. Verfahren wie der Wartegg-Test, die Graphologie und der Rorschach-Klecks-Test, die in den 60er Jahren während meines Studiums noch sehr geachtet und als psychodiagnostische Werkzeuge sehr beliebt waren (und eine Weile auch von mir eingesetzt wurden), sind damals schon umstritten gewesen, weil sie äußerst schwierig zu evaluieren und zu standardisieren sind. Solche Standardisierungs-Prozeduren sind äußerst zeitraubend und teuer, wenn sie den modernen Ansprüchen genügen sollen. Wie soll man auch aus der Handschrift eines Menschen in Gestalt einer Schriftprobe so etwas wie eine zuverlässige Auskunft über den Charakter und die Intelligenzhöhe sowie etwaige Begabungsschwerpunkte herausfiltern? Aber damals waren die Testpsychologen noch sehr von ihrer eigenen Intuition überzeugt. So etwas hat heute keine Berechtigung mehr (wird allerdings sicher noch angewendet, vor allem von älteren Psycholog*innen – wie auch bei den esoterisch angehauchten Kolleg*inne die Astrologie sicher immer noch herumspukt).

Das einzige, was von diesen ganzen diagnostischen Verfahren all die Jahre einigermaßen unbeschadet überlebt hat, sind einige standardisierte (und immer wieder neu auf den Prüfstand gestellte) Intelligenz-Tests – mit denen man dann auch so etwas wie Hochbegabung herausfiltern kann: als (künstlich) festgelegtes Testergebnis „130 plus“.

Um dies abzurunden und abzuschließen: Solche Tests, nachzumal die ganze Fragen-Batterie eines Intelligenz-Tests, verlangen bereits drei der Hauptmerkmale, die ich als ganz zentrale Hinweise auf Hochbegabung in den folgenden Beiträgen noch genauer betrachten werde:

Lesen und Schreiben als Kern von Hochbegabung

Man muss lesen können (nämlich die Fragen); man muss das Gelesene verarbeiten und richtig verstehen können; und man muss die Antworten in das Testblatt hineinschreiben – und sei es nur in Form eines Kreuzchens im richtigen Kästchen (das heute meistens automatisch von einer Art rudimentärer KI ausgewertet wird). Informationen aufnehmen (lesen), verarbeiten und abgeben sind drei der vier Aspekte jeder intelligenten Tätigkeit – mit dem Speichern der Informationen (in diesem Fall als archiviertem I-Test) als viertem Aspekt. Das Absolvieren eines Intelligenz-Tests ist also nicht nur die Essenz des Psychologiestudiums – sondern auch das wohl beste Beispiel, wie sich Hochbegabung äußert: Indem man nämlich so einen Test möglichst fehlerfrei und schnell absolvieren kann.
Wenn ich mal (science-fiction-erprobt wie ich bin) in die Zukunft schaue – dann sehe ich allerdings eine völlig andersartige Form von Intelligenz-Tests: Nämlich in Gestalt eines komplexen Computer-Spiels mit Virtual Reality, mit dessen vielfältigen, leicht zu standardisierenden (aber immens teuer zu erstellenden) Details der Proband wie bei einer Heldenreise knifflige Aufgaben und Prüfungen sehr lebensecht meistern muss. Ich nenne dies das WeltSpiel.

Aber das wird noch eine Weile dauern. In meinem glü-Roman gibt es das jedenfalls bereits. Und ich bin guten Mutes, dass diese meine Vorhersage irgendwann in nicht allzuferner Zukunft (vielleicht sogar noch zu meinen Lebzeiten?) Realität wird. Das Geschäft mit der Intelligenzmessung ist zu vielversprechend, auch in finanzieller Hinsicht. Mit dem Labyrinth-Computer-Spiel, das ich in meinem ersten Roman Männer gegen Raum und Zeit 1958 vorgestellt habe – beschrieb ich doch recht treffend das ganze spätere Genre der Computerspiele überhaupt, die ja meistens auf der Struktur eines Labyrinths basieren.

MultiChronalia

Die Eignungsprüfung 1961 für die Zulassung zum Psychologiestudium war nicht meine erste Heldenreise dieser Art. Bereits 1949 mussten wir neunjährigen Steppkes eine ähnliche Eignungsprüfung absolvieren, die den Übergang von der (vierten Klasse) Volksschule in Rehau in die (erste Klasse) Oberrealschule Selb ermöglichte. Auch die habe ich wohl mit Bravour bestanden.
Die Zwischenprüfung zum „Vordiplom“ (heute „Bachelor“) verlief 1963 ebenfalls ganz passabel – allerdings unter enorm schwierigen Begleiterscheinungen, weil mir da ein wahnsinnig das Lesen und Lernen störender Heuschnupfen in den Augen (!) und mein ADHS in die Quere kamen – verstärkt durch den Prüfungsstress (von beidem wusste ich damals allerdings nicht – weder vom Heuschnupfen noch vom ADHS).  
Total missraten ist mir allerdings 1965 der nächste „Schaulauf“: Die Abschlussprüfung für das Hauptdiplom (heute „Master“) in Psychologie. Die mündlichen Prüfungen waren wohl okay. Mein gutes Gedächtnis und meine Vorbereitung (auch in einer Lerngruppe zu viert) mit an die tausend Karteikarten mit den möglichen Fragen des Prüfungsstoffes waren da sicher hilfreich.
Völlig versemmelt habe ich hingegen die schriftliche Prüfung, bei der aus vorgegebenem lebensechtem Material (Gesprächsprotokolle und Testergebnisse eines Probanden) ein schriftliches Gutachten erstellt werden sollte. Auch die zweite Chance dieser Prüfung habe ich (nicht zuletzt wegen vielen Studentenjobs zum Geldverdienen) vergeigt. Erst der dritte Anlauf (mit „ministerieller Sondergenehmigung“) gelang dann.

Und die Promotion 1976? Die schriftliche Arbeit war kein Problem; sie hat sich nur neben Fulltime-Job als praktizierender Psychologe und Journalist und Schriftsteller über sechs anstrengende Jahre hingezogen (weshalb ich eine berechtigte Wut bekomme, wenn mal wieder herauskommt, das da ein prominenter Politiker bei seiner Dissertation geschummelt hat). Schwieriger waren die mündlichen Prüfungen. Vor allem die in Philosophie machte große Mühe – weil ich das angesagte Schriftgut von Leuten wie Habermas so unlesbar und langweilig fand, dass ich mich da wirklich nur dank verständnisvoller Prüfer durchmogeln konnte.

Wen ich heute, im Jahr 2021, in der Rolle des Privatdozenten und Prüfers die Mündlichen von Studierenden meiner Kurse „Kreatives Schreiben“ abnehme, ist mir das alles nur zu bewusst – vor allem weil die alle berufsbegleitend studieren und sehr anstrengende soziale Berufe meistern müssen.

244 _ aut #1127 _ 2021-08-22/21:09

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