Beschleunigung im Entschleunigungs-Paradies Rügen

Beschleunigung und Entschleunigung sind Gegensätze, die mich schon seit vielen Jahren beschäftigen: Die Phantasien der Science-Fiction-Autoren lassen Raumschiffe mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit durchs Universum rasen – schneller geht es nicht (und so schnell wird es wohl auch niemals möglich sein, falls man nicht eine völlig neue Physik entdeckt, die Albert Einstein „Lügen straft“).
Und das Gegenteil, die Entschleunigung, hat es mir spätestens seit 1968 angetan, als ich Yoga für mich entdeckte und eigentlich (ohne dass mir das damals bewusst war) schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor, als ich 1956 mit dem Schreiben begann – der Entschleunigung par excellence.

Abb.: Kreidefelsen auf Rügen (Photo by Nick on Pexels.com)

Paradoxe Auswirkung des „LNG-Beschleunigungs-Gesetzes“ vom Mai 1922: Einer dieser LNG-Terminals, wo Schiffe verflüssigtes Erdgas anliefern können, soll auf der Insel Rügen gebaut werden, deren Einwohner gerne möchten, dass die Insel „ein Ort der Entschleunigung“ bleibt (Meinhof 2023).

Im Juli vor einem Jahr wurde anlässlich des 80. Geburtstag von Sten Nadolny interessanterweise speziell an seinen Roman Die Entdeckung der Langsamkeit“ von 1983 erinnert. Zufällig gedachte man in derselben Ausgabe in einem anderen Artikel der Süddeutschen Zeitung eines früheren Historikers, der sich bereits mit der im 18. Jahrhundert beginnenden rasanten Beschleunigung der Welt befasste (Quelle leider nicht auffindbar). 1970 hat Alvin Toffler viele Anzeichen dieses beunruhigenden Phänomens in seinem Sachbuch mit dem warnenden Titel Future Shock beschrieben – und dieser Tage befasst man sich zunehmend mit dem Anthropozän, das von eben dieser menschengemachten Beschleunigung vieler globaler Prozesse gekennzeichnet ist, deren Beginn man symbolisch auf 1950 datiert (Eichhorn 2023).

Was aktuell auf und über Rügen diskutiert wird, ist das Auseinanderklaffen der Bedürfnisse: ° Einerseits ist da die berechtigten Forderung der Rügener (und vieler Naturschützer), ihre entschleunigte Idylle am Leben zu erhalten und nicht durch die Betriebsamkeit eines Schiffsanlegers und die Zerstörung der Natur durch Pipeline-Rohre zu beeinträchtigen (wobei ja auch das Geld eine wichtige Rolle spielt, das die Feriengäste auf die Insel bringen).
° Und andrerseits muss man auch sehen, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine die Energieversorgung Deutschlands total durcheinander gebracht hat und man nun mit anderen Energiequellen wie dem Flüssigerdgas einen Ausgleich finden muss – und dieses Erdgas muss mit Schiffen irgendwo angeliefert werden, und sehr möglichst rasch.

(Wie man auf dem Foto oben mit zweispuriger Teerstraße und Parkbucht sehen kann, ist es mit der „Rügener Idylle“ an manchen Stellen allerdings schon länger nicht mehr weit her.)

* Oxymoron ist der sprachliche Kunstgriff, in einem einzigen Wort oder Begriff zwei total gegensätzliche Themen zusammenzufügen. „Dröhnende Stille“ ist so ein Beispiel (das 2021 in der Corona-Pandemie die gähnende Leere in den Hallen der Buchmesse in drastische Worte fasste) – oder eben „Rasender Stillstand“. Das „Stillstand“ im Titel zielt ja auf das Gegenteil des „Rasens“: die Entschleunigung.

Quellen
Eichhorn, Christoph von: „Zeuge des Anthropozäns“. In: Südd. Zeitung Nr. 158 vom 12. Juli 2023, S. 12.
Meinhof, Renate: „Ein Rohr durchs Paradies“. In: Südd. Zeitung Nr. 166 vom 21. Juli 2023, S. 3 (Seite Drei).
Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. München 1983 (Piper).
Virilio, Paul: Rasender Stillstand (Paris 1990). (München 1997, Hanser). Frankfurt am Main 2015, 5. Aufl. (Fischer Taschenbuch).
Toffler, Alvin: Der Zukunfts-Schock. (Future Shock, New York 1970). München 1970 (Scherz).

312 aut #1414/2023-07-23/11:15

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