Die Queen, meine Mutter und die MultiChronie

Ich war erst sehr verwundert, dass ich die Trauer-Sendungen dieser Tage nach dem Tod von Queen Elisabeth II. von England so intensiv und auch so berührt verfolgt habe. Doch dann erinnerte ich mich, dass meine Mutter die damals ja noch sehr junge Königin in den 1950er sehr bewundert hat. Neben der selbstbewussten Schauspielerin Ingrid Bergmann war die Queen eine der Frauen, die wohl insgeheim Vorbild für sie waren.
Woher ich dies weiß? Ich muss es mitbekommen haben, weil bei uns zuhause die Zeitschrift Madame herumlag, die meine Mutter abonniert hatte und wo so etwas wie die Thronbesteigung der Queen am 06. Februar 1952 ganz bestimmt auf der Titelseite zu sehen war. Als „Allesfresser“ bei der Lektüre las ich ja nicht nur die Wildwest-Schundheftchen um Billy Jenkins und Tom Prox und die SF-Abenteuer von Jim Parker im Weltraum, sondern gelegentlich auch einen Band Trotzköpfchen oder Pucki von meiner Schwester, wenn nichts „Besseres“ (aus meiner Bubensicht) erreichbar war – oder eben Mutters Hauspostille.

Abb.: 1 Queen Elizabeth II (photograph) by Unknown photographer is licensed under CC-BY-NC-SA 4.0

Was meine Mutter (die 1952 nur 13 Tage später, am 19. Februar, 38 Jahre alt wurde) an der Queen so fasziniert hat, kann man nur ahnen. Aber wenn man das historische Photo oben sieht, teilt sich da schon eine Aura von Macht und Selbstbewusstsein mit, die meine Mutter beeindruckt haben wird. Was auch mir als damals Zwölfjährigen nicht verborgen blieb – habe ich meine Mutter doch stets als sehr starke und selbstbewusste Frau erlebt, obwohl sie nur die damals übliche klassische Mutter- und Hausfrauenrolle lebte.

Warum berichte ich davon hier im Blog?
Weil da auf zweifache Weise etwas von dem sichtbar wird, was ich als MultiChronie bezeichne. Diese „Vielzeitigkeit“ hat ja nach meiner Vorstellung zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte, die sich jedoch im Individuum (in diesem Fall: in mir) sinnvoll verbinden können:

° Die historische „äußere“ MultiChronie der Queen und ihrer doch recht antiquierten Rolle als Herrscherfigur aus dem Mittelalter (die aber die starken zentrifugalen Kräfte des britischen Commonwealth erstaunlich gut ausbalanciert hat) mit Thronbesteigung Mitte des 20. Jahrhunderts und nun ihr Tod in einem modernen Staat mit den Turbulenzen des 21. Jahrhunderts. Wozu ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung aus dem aktuellen Anlass anmerkte:
„Im St. James‘ Palace wird Prinz Charles zu König Charles III. vereidigt und ausgerufen. Mit einem Ritual, das einen beim Zuschauen ein paar Jahrhunderte zurück katapultiert. “ (Neudecker 2022)

° Die persönliche „innere“ MultiChronie führt mich ebenfalls einige Jahre zurück, und zwar zum einen zum Unfalltod meiner Mutter im August 1973 (also vor nunmehr fast 50 Jahren) und zu ihrer Beerdigung, die heute so lebhaft in meiner Erinnerung präsent ist wie damals, und interessanterweise zu drei Träumen von der Queen, die ich jedes Mal mit meiner Mutter in Verbindung gebracht habe. Ich zitiere, was sich hier wie das Auftauchen von drei verschiedenen Zeitschichten ausnimmt, aber in sich jeweils nochmals mehrfach verschachtelt und dadurch noch viel komplexer ist und weiter zurückreicht (worauf ich hier nicht eingehen will):

1993-06-29: DIE QUEEN IST NICHT GUT BEWACHT
Ich sehe die Queen durch mehrere offene Türen hindurch in einem Zimmer stehen; sie hat einen hellblauen Sommermantel an, ist jung und schön. Es ist kein Personal zu sehen, und ich denke: „Sie ist ja völlig schutzlos!“

1993-11-04: DIE QUEEN MIT GOLDENEM SCHWERT
In London <Oxford Street?>. Viele Menschen. Ich sehe die Queen. Sie trägt ein goldenes Schwert aufrecht vor sich. Sie selbst ist ganz unscheinbar; niemand nimmt Notiz von ihr.  Ich denke, jemand könnte ihr das kostbare Schwert rauben und dass man sie beschützen muss. Also nähere ich mich ihr. Sie hat nichts dagegen. <Sie wirkt, während des gesamten Traums, distanziert, aber nicht unfreundlich.>

Diese beiden Träume sind, was die Zeitschichten betrifft, sehr unterschiedlich. Der erste Traum hat mich durch den „hellblauen Sommermantel“ sofort an meine Mutter erinnert – und zwar an der Zeit Anfang der 1950er Jahre, als sie so einen Mantel trug. Warum ich das im November 1993 träume, kann ich nicht mehr sagen. In der Regel kenne ich die traumauslösenden Tagesreste recht gut – dieser hier ist im Nebel der Vergangenheit verloren.
Der Traum vom „goldenen Schwert“ ist viel archaischer und führt noch viel weiter zurück. Aber auch da kann ich die Details nicht mehr rekonstruieren. Auf jeden Fall zeigt dieser Traum mir ganz deutlich, wie mächtig ich meine Mutter in der frühen Kindheit erlebt habe.
Nur zehn Jahre „entfernt“ ist der dritte Traum:

2012-06-13: ZU GAST BEI DER QUEEN
Im Buckingham-Palast bin ich zu Gast bei der britischen Königin. Prinzgemahl Philip ist auch dabei, ebenso meine Frau Ruth. Die Queen ist freundlich, aber neutral, so wie man sie aus den Medien kennt. Ich weiß, dass ich ihr keine Fragen stellen soll, sondern lediglich auf Fragen von ihr antworten darf. Aber bevor das Gespräch in Gang kommt…

  . . . wache ich auf aus diesem Traum. Aufmerksame Leser werden sich wahrscheinlich schon gedacht haben, dass da etwas nicht stimmt in meinem kleinen Bericht. Denn die Queen empfängt doch nur Menschen, die etwas sehr Außergewöhnliches geleistet haben oder sonstwie systemrelevant sind und schon gar nicht einen Blogger, der wahrscheinlich Dinge ausplaudert, über welche die Queen dann vielleicht „not amused“ wäre.
Nun, es ist ja mein Traum und wie oben nachzulesen, bringe ich ihn wohl zurecht in Zusammenhang mit der „mächtigsten“ Frauenfigur in meinem Leben, und das ist nun mal (nicht nur für mich) die eigene Mutter. Sie ist die Queen, vor allem wenn man noch ein sehr kleines hilfloses Kind und ihr total ausgeliefert ist.

Weitere Zeitschichten
Ich könnte hier natürlich meine verschiedenen Besuche in London als weitere Zeitschichten anführen:
° 1994 (als ich meinen in London studierenden ältesten Sohn traf).
° 1980 etwa (als ich ihm Rahmen einer Leserreise der Süddeutschen Zeitung die großartige China-Ausstellung im British Museum besuchte).
° 1959 (bei meiner ersten Auslandsreise ohne die Eltern, dafür mit meiner damaligen Freundin).

MultiChronalia
Viele Zeitschichten fügen sich hier in einer ganz neuen Kombination zusammen, anders als mir bisher bewusst war – und vor allem aufgrund des historischen Anlasses der Trauer um Queen Elizabeth II. die Erinnerung an meine Mutter und die Trauer um sie – die ja nie zu Ende ist.
Und genau darum geht es bei der MultiChronie: Um dieses Zusammenwachsen der Erinnerungen als Selbsterfahrung und Selbstvergewisserung.

Ich nenne diese einzelnen Ereignisse „MultiChronalia“, was so viel meint wie: Zeit-Punkte (in der Gegenwart), die zu Zeit-Ankern (in der Vergangenheit) Zeit-Fäden spinnen, die sich in ihrer Gesamtheit als Zeit-Netz zu dem verbinden, was man Persönlichkeit nennt.

Neudecker, Michael: (Inthronisation von König Charles III): Sueddeutsche-online vom 10. Sep 2022.

279 _ aut # 1424 _ 2022-09-11/19:55 Sonn

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