„Sind Sie wahnsinnig!“ oder: Zeitreise in mein rechtes Knie

Warum träumte ich heute früh, dass ich in einer Arztpraxis auf der Liege ausgestreckt bin und gleich eine Spritze in mein rechtes Knie bekommen soll?
Ich bin da regelrecht in Panik geraten, rief der Ärztin nach, die gerade den Raum verließ (um die Spritze zu holen?): „Sind Sie wahnsinnig!“
Ich überlegte krampfhaft, wie ich aus dieser Situation wieder rauskomme, von der ich nicht einmal weiß, wie ich da hineingeraten bin. –

Eine ähnliche Situation habe ich tatsächlich vor gut zehn Jahren einmal erlebt, und zwar bei einer Orthopädin. Als die mir vorschlug, wegen meiner beginnenden Arthrose irgend so ein Zeug ins rechte Knie zu spritzen, lehnte ich heftig ab – Dabei bin ich sonst nicht so zimperlich (auch beim Zahnarzt nicht) – „der Indianer kennt schließlich keinen Schmerz“ – aber an mein Knie lasse ich niemanden heran. Und das aus gutem Grund:

Ich hatte mit diesem „Sulzknie“ (wie ich es manchmal selbstspöttisch bezeichne) nie Probleme gehabt. Bis ich 1984 einem saublöden Wandertipp des Alpenvereins folgte, mit dem Zug nach Garmisch und mit der Alpsitz-Seilbahn hoch zu den Osterfeldern fuhr und vor dort abstieg – durch die Höllentalschlucht und dann von Hammersbach idiotischerweise auch noch zu Fuß nach Garmisch – weil mir die Zugspitzbahn vor der Nase davon gefahren war.
Dabei „brummte“ mein Knie schon recht heftig und ich ahnte bereits am Ausgang der Höllentaleingangshütte (wie gesagt: Ich stieg die ganze Tour durch die Höllentalklamm und das Bergmassiv davor und danach, bergab bergab bergab), was sich da vorbereitete: ein kräftiger Bluterguss im Knie.

„Niemals bergab steigen, wenn es sich vermeiden lässt“ (oder wenigstens Bergstöcke zum Abfedern der unzähligen Stöße beim Auftreten dabei haben, wie ich einige Jahre später beim Abstieg von der „Ötzi“-Fundstelle lernte, wo es allerdings keine Alternative zum „Hinab hinab hinab“ gegeben hat.)

Dieser alte Leitspruch jedes einigermaßen erfahrenen Bergwanderers fiel mir leider zu spät ein. Und dem Alpenverein diese idiotische Empfehlung vorzuwerfen – Forget it.

Jammern auf hohem Niveau

Selber schuld, kann ich da nur sagen. Das Resultat war jedenfalls, dass ich gut drei Jahre lang ziemlich humpeln musste und unzählige Stunden bei einer Physiotherapeutin zubrachte (die zwar sehr gut mit mir gearbeitet hat – aber zufällig „Schwarze“ hieß, was mein Gemüt nicht gerade erheitert hat). Im Verlauf dieser Bein-Arbeit wurde mir etwas sehr Seltsames bewusst: Dass ich offenbar immer noch – gut drei Jahrzehnte nach dem Knieunfall – das rechte Bein schonte und mich so verhielt, als wäre das noch immer von diesem vermaledeiten Gehgips von damals umhüllt. Nach dieser Erkenntnis ging es zunehmend besser mit dem Laufen. Und heute? Wieder vier Jahrzehnte später?

Das Laufen wird von Jahr zu Jahr ein wenig mühsamer. Der Radius meiner Wanderungen wird zunehmend enger. Aber die anderthalb Stunden von Possenhofen nach Tutzing, entlang des westlichen Starnberger Seeufers schaffe ich schon noch. Auch in diesem Jahr. Hoffentlich.

Hab´s noch nicht ausprobiert in diesem Sommer. Das würde mir schon sehr abgehen – das Baden im See, der grandiose Ausblick auf die Werdenfelser Alpen hinter dem See, der weißblaue Himmel, genau zauberhaft schön und erholsam, wie die CSU es ihren Wählern verspricht –
Schaun mer amal.
Jammern auf hohem Niveau – kommt nicht in die Tüte. Es hilft mir viel mehr, wenn ich mir immer wieder voller Dankbarkeit sage: Bisher ist mir das Schicksal meines armen Großvaters mit seinem rechten Bein erspart geblieben. Was kann ich mehr wollen?

Aber warum träume ich das mit der Spritze?

Vielleicht liegt das daran, dass mich aktuell meine linke Schulter plagt? Dieses Problem kenne ich schon länger, ich merke nur jetzt immer genauer woher es rührt – nämlich tatsächlich von meinem rechten Knie. Denn beim Laufen belaste ich das linke Knie stärker, um das rechte zu schonen (bei dem ich zunehmend die Spätfolgen meines Unfalls aus dem Jahr 1953 plagen).

Allerdings merke ich auch, dass die Belastung des Schulterbereichs beim Schreiben (wohlgemerkt: mit der rechten Hand) gerade auch die linke Schulter beeinflusst.

Mein rechtes Knie ist gewissermaßen ein ‚“Mitbringsel“ aus meiner Jugend und meiner früheren Heimatstadt Rehau in die Großstadt München, in die meine Familie im März 1956 umgezogen ist. Der Unfall, bei dem ich ziemlich genau drei Jahre zuvor (Ostern 1953) mein rechtes Knie böse lädierte ist zwar – nachträglich betrachtet und eingeordnet – glimpflich verlaufen, denn das Knie wurde nicht „steif“ (wie ich zufällig eine Befürchtung des behandelnden Arztes Dr. Hanke mithörte). Aber dieses rechte Knie und Bein war immer meine Schwachseite und jetzt im Alter – so meine laienhafte medizinische Vermutung – verkalkt vielleicht das Gewebe aufgrund der großen und tiefen Narbe im Kniegelenk stärker und macht sich die altersgemäße Arthrose vermehrt bemerkbar.?

Wie auch immer: Mein rechtes Knie plagt mich. Ich kann zwar noch einigermaßen gut laufen, vor allem, wenn ich Wanderstöcke benütze. Aber das flotte Wandern auf den Höhenwegen des Wallis in dieser Traumlandschaft ist längst Vergangenheit. Nicht, dass ich das sehr vermissen würde – schließlich habe ich das mit meiner Frau Ruth und mit den Teilnehmern vieler Schreib-Wander-Seminaren, oder auch allein, ausgiebig genossen. Aber wenn e ums Thema „Altern“ geht – fällt mir eigentlich immer nur das recht Knie ein. Doch ich denke – hoffe – weiß: Wir werden noch einige Kilometer miteinander marschieren – mein rechts Knie und ich. Und ich kann froh sein, das es mir bisher nicht wie meinem Großvater Karl Hertel gegangen ist, dem man im 68. Lebensjahr den rechten Unterschenkel amputiert hat, weil –

– ich weiß nicht einmal genau, warum er sein Bein verloren hat und mühsam mit einer Prothese wieder laufen lernen musste. Doch dieser dadurch zunehmend verbitterte alte Mann und sein trauriges Schicksal haben mich sehr geprägt. Als die Probleme mit meinem eigenen Sturz auftraten, war dies nur ein Jahr nach seinem Tod, Ostern 1953. Vielleicht ist mein rechtes Bein und die damit verbundenen Problematik mir deshalb so tief eingegraben?

(Ich kann förmlich hören wie die Zahnräder der Zeitschichten in meinem Inneren multiChronal rasseln und rattern: 1948 Amputation von Großvaters Bein – 1953 mein Knieunfall – 1984 das Knieproblem beim Abstieg durch Höllental (ausgerechnet: Höllental!) – 1992 der mühsame Rückweg und Abstieg vom Tilsenjoch (wo man den Ötzi gefunden hat) – etwa 2010 die Konsultation der Orthopädin (die mir so gerne eine Spritze verpasst hätte) – die Wanderungen am Starnberger See seit 2019 nicht mehr bis Seeshaupt, sondern nur noch bis Tutzing –
Und in diesem Jahr 2021 der seltsame Traum heute morgen – Vorbote von noch mehr Einschränkung? Hauptsache, das Treppensteigen geht weiterhin und das Radfahren und die kürzeren Fußmärsche in der Stadt und am See! Davon träume viele Menschen in meinem Alter nur noch. Ich kann dankbar sein für das, was geht – buchstäblich.

Und eine Spritze in meine Knie? Niemals, Frau Doktor Unbekannt! Nicht einmal im Traum.

Abb.: Den Lotussitz (s. oben) schaffe ich mit meinen Knien nicht mehr – aber alle anderen Yoga-Übungen, die ich seit fünfzig Jahren jeden Morgen mache, gelingen nach wie vor. (Photo by Ivan Samkov on Pexels.com)

aut #1026 _ 2021-06-07/20:33

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