°Die Wunderheilung (Story)

Sie wollte sich heilen lassen – aber der Analytiker gab ihr weit mehr

Die Frau nahm in dem ihr zugewiesenen Stuhl Platz. Es war ein sehr unbequemer Stuhl, auf dem man es nicht lange aushielt; man musste dann entweder bald wieder gehen – oder sich auf der Couch gleich dahinter niederlassen.

Der Psychoanalytiker schaute die Frau sehr lange schweigend an (so kam es ihnen beiden jedenfalls vor).

„Ich kann Sie nicht behandeln“, brach der Analytiker endlich das Schweigen.

„Warum können Sie mir nicht helfen, Herr Doktor?“

„Soll ich ehrlich sein?“

„Ich bitte darum. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen – weil ich Ehrlichkeit brauche – so dringend wie ein Verdurstender in der Wüste -„

“ – das Wasser?“

Sie nickte. „Warum nicht? Warum wollen Sie mich nicht behandeln?“

Er räusperte sich, rutschte verlegen auf seinem Stuhl herum, wenn auch kaum merkbar und sehr kontrolliert. Er nahm den Kalender in die Hand, als hätte er es sich anders überlegt. Dann legte er den Kalender wieder zurück auf das kleine runde Beistelltischchen. Er schüttelte den Kopf. „Nein, es geht nicht.“

„Weshalb, Herr Doktor!“

„Weil Sie eine sehr schöne und sehr begehrenswerte Frau sind. Außerdem sind Sie dazu noch -„

„Was denn?“

„Sehr intelligent. Ich habe im Internet ein wenig recherchiert – ihre Liste von Publikationen ist so beeindruckend wie die ihrer akademischen Titel. Und außerdem -„

„Was außerdem?“

„Außerdem sind Sie auch noch sehr wohlhabend – stammen zumindest aus einer sehr reichen Familie -„

„Na und?“

„Das ist das Problem – Zumindest was die beiden ersten Punkte angeht, ist das ein Problem – für mich jedenfalls -„

„WARUM!“

„Ganz einfach. Ich kann schönen, begehrenswerten Frauen nicht widerstehen. Ich würde mich in Sie verlieben. Das geht einfach nicht.“

„Jetzt reden Sie sehr offen mit mir – wo bleibt da die Asbtinenzregel?“

„Sie wollen doch Offenheit, oder?“

Sie nickte heftig. „Aber warum können Sie mich denn deshalb nicht behandeln? Das wäre doch eine geradezu ideale Voraussetzung für eine Psychotherapie -„

„Nein. Ganz im Gegenteil. Und das wissen Sie genauso gut wie ich. Oder wollen Sie mir weismachen, Sie hätten während Ihres Psychologiestudiums, das Sie mit Bestnote abgeschlossen haben und nach Verfertigung einer Dissertation über Möglichkeiten und Grenzen der psychoanalytischen Heilbehandlung, für die Sie summa cum laude bekamen -„

„Sie sind bestens informiert, Respekt -„

“ – Ja – und da wollen Sie so tun, als wüssten Sie nichts von Übertragungsgefühlen und Gegenübertragungen und wie das funkt zwischen Patientin und Analytiker und wohin sich das entwickeln könnte -„

Könnte, Herr Doktor, könnte -„

„Nein. Es könnte nicht – es würde – Frau Doktor -„

„Aber -„

„Kein aber. Die Antwort ist: Nein. Definitiv: Nein.“

„Auch nicht als Analysandin – im Rahmen einer Lehranalyse?“

„Dann erst recht nicht. Der Supervisor würde davon erfahren. Und bald wüsste es das ganze Institut und weiß der Himmel, wer sonst noch alles -„

„Aber es gibt doch eine ärztliche Schweigepflicht, die auch für Psychoanalytiker verpflichtend ist!“

„Ach ja? Soll ich Ihnen mal aufzählen, was in dieser Hinsicht alles schon gelaufen ist – und dass beispielsweise Sabine Spielrein, Carl Gustav Jungs kleine Gespielin, nicht die erste und letzte Patientin war, auf die ein Therapeut abgefahren ist – – und dass das inzwischen alle Welt längst weiß?“

Wieder sickerte das Schweigen aus den Wänden (so kam es jedenfalls beiden vor), in die schon so viele Wörter und so viel beredtes Schweigen hineingesickert waren.

„Ich muß also weiterhin krank bleiben, nur weil Sie sich weigern -„

„Nicht ich weigere mich, genau genommen, sondern Sie selbst tun das.“

„Ich? In welcher Hinsicht sollte ich mich weigern?“

„Gesund zu werden! Es bedarf nur dieser einen und einzigen Entscheidung: Ich möchte gesund werden.“

„Aber das will ich doch – um alles in der Welt -„

„Es bedarf zwar nur dieser einen wesentlichen Entscheidung – aber sie ist die schwerste von allen. Zu viel Krankheitsgewinn steht dem im Wege. Und Reichtum und hohe Intelligenz und Schönheit – das sind riesige Hürden auf dem Weg, alte Gewohnheiten aufzugeben. Aber mit alledem erzähle ich Ihnen ja nichts Neues. Sie haben es in Ihrer Dissertation seitenweise selbst ausgeführt.
Nein. Es bleibt beim Nein.“

Sie schwiegen beide wieder eine ganze Weile. Der Sand war aus der 55-Minuten-Uhr schon fast nach unten durchgelaufen, als sie aufstand, eine Zweihundert-€uro-Note aus ihrer Brieftasche zog und sie auf dem Beistelltischchen ablegte. Sie zögerte. Dann nahm sie den Schein zurück und gab ihn dem Analytiker direkt in die Hand.

„Danke“, sagte sie und schaute ihm tief in die Augen.

„Danke meinerseits“, gab er lächelnd zurück.

„Es geht mir jetzt schon viel besser als am Beginn unseres Gespräch. Meine Migräne hat sich wie in Nichts aufgelöst -„

„Oh -„

„Doch, ja. Als ich kam, hatte ich rasende Kopfschmerzen. Aber ich habe bewusst keine Tablette genommen. Wollte sehen, ob das etwas Psychodynamisches ist und sich vielleicht durch unser Gespräch auflöst.“

„Und – hat es das?“

„Offensichtlich. Es war die Festigkeit und Klarheit, die ich bei Ihnen gespürt habe. Alle Leute, die ich kenne – die ich an mich heranlasse – sie schmeicheln mir entweder, oder sind zu abweisend -„

„Hm -„

„Vielleicht haben Sie mich ja sogar eben geheilt. Vor allem haben Sie der Versuchung widerstanden, mich tausend Stunden lang finanziell ordentlich zu melken, wie eine Milchkuh. Das wird Ihnen nicht leicht gefallen sein. Ich weiß, dass Sie zur Zeit nur wenige Patienten haben. Psychoanalyse ist nicht mehr der Renner wie vor Jahrzehnten noch -„

„Oh – Sie haben sich aber ebenfalls gut informiert.“

„Das war ich mir schuldig. Aber ich merke, daß Sie mir wirklich sehr geholfen haben.“

„Fast eine Wunderheilung -„

„Es wird sich zeigen, ob das hält. Oder ob das nur der Übertragungsliebe zu schulden ist. So nennt man das doch, oder?“

„Na klar. Steht doch so deutlich in Ihrer Dissertation, in Kapitel drei, wenn ich es recht erinnere.“

Sie lachte hell auf. „War doch alles nur abgeschrieben. Aber jetzt habe ich eine echte Erfahrung gemacht – eine eigene Erfahrung.“

„Und die wäre?“

„Daß man Zuneigung wirklich nicht kaufen kann. Zuwendung aber schon. Sie waren mir in dieser Stunde sehr zugewandt. Ich glaube, das habe ich noch nie wirklich erlebt – oder jedenfalls schon sehr lange nicht.“

„Unsere Zeit -„

„Ja, ich weiß. Der nächste Patient – Falls ich Ihre Hilfe noch einmal brauchen sollte -„

„In Notfällen immer. Aber ich denke nicht, dass es nötig sein wird.“ Er reichte ihr ein Papiertaschentuch aus der Packung auf dem Beistelltischchen. Sie nahm es und ging.

Ende

Abb: So könnte es abgelaufen sein… (Photo by cottonbro on Pexels.com)

aut 1089 _ 2021-07-09/ 13:02  

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