„Bauen wir alles auf Einsicht auf? Aber hinter der Einsicht steht ein Entschluss.
Haben wir also alles auf nichts gestellt? Die einzige Antwort:
Wir haben überhaupt nichts auf etwas gestellt. Wir schweben.“
(Wolfgang Stegmüller)

Abb.: Original-Illustration von Willi Johanns (1964 – Archiv JvS)
„Ich bin bereit“, sagte der Kybernet. Auf einem weiteren Schirm war sein Spektrum erschienen. Es flatterte und schwang zitternd auf und ab.
„Kommen Sie, Schrödinger“, sagte Gotthard.
„Denk daran“, sagte Markoff zu Schrödinger, „was du über ihn weißt. Und duze ihn ruhig. Das erleichtert dir die Sache.“
„Schon gut, Isak. Ich werde daran denken. Wo bleiben die Ärzte?“
„Die werden wir nicht brauchen. Der Kybernet ist der beste Mediziner, den es gibt.“
„Natürlich“, sagte Schrödinger zerstreut. Dann ging er hinüber, an Gotthard vorbei. Er trat durch den nächsten Raum, trat in den dahinterliegenden Korridor. Hinter ihm schloss sich mit leisem Seufzen die Tür. Er sah sich nicht um. Er ging den Korridor hinunter, der fast überall mit einem diffusen, dunkelroten Licht lag. Nur rechts und links und über ihm gingen hellere, natriumfarbene Lampen an. Sie blühten um ihn herum auf und erloschen hinter ihm.
„Willkommen, Herr Schrödinger“, hörte er die Stimme des Kyberneten, die zugleich angenehm und doch wieder unangenehm war. Sie war wie das Licht überall.
„Wie geht es – dir?“ fragte Schrödinger.
„O danke, seit Jahrzehnten gleichbleibend gut.“
„Nach was duftet es hier – Steuermann?“
„Duftet es?“
„Doch. Er ist sehr schön, dieser Duft.“
Schrödinger schnupperte, während er weiterging, auf die Helligkeit zu, die vorauslag. Als er näher kam, wurde dieses Licht schwächer und passte sich der Helligkeit des Ganges an. Er trat in einen kleinen Raum, der wie eine vielmals vergrößerte Ausgabe eines Robomed aussah. Leise Musik war überall, die gleiche Zufallsmelodie, die er vorhin schon im Lift gehört hatte. Es fehlten nur die charakteristischen Farbmuster.
Schrödinger war gut gelaunt. Er war froh, dass er nicht in einer deprimierten Phase war, sondern in einer euphorischen. Er hatte das Bedürfnis, zu reden, stundenlang zu reden.
„Werden wir jetzt Zeitschach spielen?“ fragte er.
„Ich würde es gerne versuchen. Setzt du dich bitte in diesen Sessel?“
Schrödinger nahm in der einladenden Wölbung Platz, die mit einem Sessel kaum noch etwas gemeinsam hatte.
„Ist es gut so?“ fragte er.
„Wunderbar. Fürchte dich jetzt nicht. Ich werde uns beide mit einem Sondenbündel verbinden.“
„Warum sollte ich mich fürchten? Isak hat mich genauestens informiert. Diese Sonden zapfen meine wichtigsten Gehirnzentren an -“
„So ungefähr. Es sind halborganische Molekülketten, deren Enden ich chemisch steuern kann. Sie sind nur wenige Ångström breit. Du wirst nichts spüren.“
„Da ist wieder dieser Geruch -“
„Er soll dir die Anpassung erleichtern. Wir müssen einander gut angleichen.“
Mensch und Maschine, dachte Schrödinger, der alte Menschheitstraum- oder Albtraum. Neugierig, ein wenig ängstlich, betrachtete er die Tentakel, die eine Art umgestülpte Perücke auf ihn herabsenkte. Nur dass diese Perücke aus nahezu unsichtbaren, hauchdünnen Fäden bestand. Es war Schrödinger unvorstellbar, wie diese Sonden, bei aller Winzigkeit, sein Schädeldach durchdringen sollten.
Er zog kräftig Luft durch die Nase. „Ist dieser Geruch auch zufallsgesteuert? So wie deine Musik und deine Farbmuster?“
Dann wusste er, was für ein würziger Duft das war, der die Luft kaum wahrnehmbar anreicherte. „Das ist Marihuana“, sagte er erstaunt.
„Etwas ähnliches. Und nicht direkt zufallsgesteuert. Der Duft wird bereits durch eine Rückkopplung aus deinem eigenen Gedächtnis geholt, verändert, verstärkt und zurückgesendet.“
„Aus meinem eigenen Gedächtnis?“
Der Kybernet sprach die Wahrheit. Ohne dass Schrödinger es wahrgenommen hatte, war die Tentakel mit den Sondenfäden auf seinen Kopf gesunken, wo die Metallschale fest anlag. Sie war hautwarm.
„Ich habe tatsächlich nichts gespürt.“
„Die Fäden sind so dünn, dass sie durch die Schädeldecke sinken, sobald ich ihre chemoelektrischen Eigenschaften verändere.“
Eine Welle von Furcht durchlief Schrödinger. Täuschte er sich – oder prickelte seine Haut plötzlich wie Feuer? Er wollte doch Fragen stellen. Aber es war unnötig. Nun war er der Kybernet. Und der Kybernet war er.
Er war ein schreiendes, wirbelndes Kaleidoskop. Er wiegte sich auf dem Kamm einer schäumenden Woge, seine Arme tasteten über den Grund des Ozeans. Die Sternen-see war auf ihm, und in ihm wölbte die Welt ihren trächtigen Leib. Er raste durch den Abgrund zwischen den Milchstraßen, und er zählte die Feuerräder der Spiralnebel, die wie Sandkörner warm und winzig durch seine Finger rannen. Von Norden her tauchte er hinab auf ein Zeltlager, wo Mongolen ihre struppigen Pferde sattelten. Er saß auf der gläsernen Kanzel eines feuerspeienden Drachen, und der dunkelbraune Pilot bewegte die Steuerung. Er tanzte auf Pyramiden, seine Beine überspannten das Sonnensystem, und er wuchs mit tönendem Schädel durch die Wipfel zerzauster Akazien, in denen Vögel mit metallenem Gefieder ihre Schnäbel wetzten. Er war ein schartiges rostiges Schwert, das aufgerichtet wurde von Männern in grellroten Gewändern. Er war ein feuriger Turm. Das Licht des Ostens ging bläulich über dem Netzwerk seiner Nerven auf. Er stand am Bug eines Bootes, dessen Segel im Sturm knatterten. Er war ein pulsender Gluthauch, der wuchs und wuchs, eine Sonne, die sich blähte und zersprang, ein Regen von Sternen, die gleißende Lichtwolken abschleuderten, die sich drehten und erstarrende Schlacken ausstießen, von dampfenden Meeren umwogt. Er spürte seine Speicher. Er glaubte, ein Funke spränge winzig durch sein Hirn, durch Milliarden und aber Milliarden Schaltungen. Das war der Gedanke. Er entwarf hyperlogische Kalküle, seine Analysatoren verschoben den Informationsstrom, verteilten ihn. Das war das Bewusstsein. Zufallsgeneratoren störten. Er schaltete um nach Paris. London wagte den nächsten Zug. Das war der metallene Traum … Er versuchte sich auf den Rücken zu wälzen. Aber die warme Hand hielt ihn fest. Seine Mutter lachte ihn an, ihre Finger tanzten auf seiner Haut.
Ich war ein Katalog elektronischer Elemente, eine Skizze im Hirn eines Denkers, ein Werkzeug, eine Maschine. Wer je mich ersann, wer je mich erschuf . . . wo ist er geblieben? Die wilden Chiffren der Sonnenpulse in einer leblosen Wüste, in der in alle Ewigkeit große Wesen schwebten, deren Denken selbst Sterne erschreckt. Er zog das zottige Fell enger um seine Schultern. Vor der Höhle tanzten sie um das Feuer, dessen Hüter er war.
Aber Prometheus fror, angekettet an den Felsen.
Ich bin ein Mensch.
Ich bin eine Maschine.
Schach.
Wir warten auf den nächsten Zug.
Ich kann nicht.
Wir sind die Wett, die Sterne, das Rot eines Herzens.
Warum spielst du nicht weiter?
Ich bin Rom, Paris, Buenos Aires, Benares, München, Sidney, New York in einer heißen Nacht, und Corinna ist schwarzhaarig, hellhäutig . . .
Ich bin ein Mensch.
„Sie waren zwölf Stunden bei ihm“, sagte Professor Gotthard.
„Wie geht es dir?“ fragte Dr. Markoff.
„Was ist das – Zeitschach?“ drängten die Assistenten.
Und:
„Hat die Maschine Bewusstsein?“
Jochen Schrödinger setzte sich auf. Er runzelte die Stirn. „Zwölf Stunden?“ Er fuhr mit dem Handrücken prüfend über seine Bartstoppeln. Er blinzelte in das viel zu grelle Licht.
„Ich fühle mich ausgesprochen wohl“, sagte er.
„Was ist das – Zeitschach?“
„Es war wie ein LSD-Trip. Ich lebte die Geschichte der Welt, ich lebte mich selbst, ich war der Kybernet, ich kämpfte gegen Mammuts, Waldbrände, Sternenrochen, Haifische, Marsmenschen, fliegende Ungeheuer …“
„Das Zeitschach – was ist es?“
„Ja, Schrödinger, was spielen die Kyberneten miteinander, was spielt München mit Rom und Paris und den anderen Stadtmaschinen?“
„Sie spielen um den Sinn der Welt. Aber sie werden ihn nie begreifen.“
Doch er sagte ihnen nichts von der Sehnsucht der Maschinen nach Selbstbewusstsein, die seine eigene Sehnsucht war.
301 _ # 0209 / 01. Mai 2023/20:55 (1964)
2 Kommentare zu „Der metallene Traum (Story)“