groTESC REAL: Feuchter Traum der Ultra-Milliardäre

„Eine religiöse Ideologie, die halb als Scherz in einem kalifornischen Studentenwohnheim begann, beherrscht heute das Silicon Valley und verändert die Welt: Die Geschichte der Extropianisten“ – so fasste dieser Tage Philipp Boverman von der Südd. Zeitung eine neue utopische Bewegung zusammen, die derzeit unter verschiedenen Bezeichnungen vor allem in intellektuellen Kreisen grassiert. Nicht alle haben deutsche Entsprechungen: Transhumanism,
Extropianism,
Singularitarianism,
Cosmism,
Rationalism,
Effective Altruism
Longtermism.

Abb.1:  Frühere Propheten predigten einer kleinen Menschengruppe – moderne Propheten predigen gleich dem ganzen Universum (Tusche-Grafik JvS 1959)

Zusammen ergeben diese sieben Begriffe ein etwas sperriges Akronym, das die KI-Ethikerin Timnit Gebru und der Wissenschaftshistoriker Emile Torres ersonnen haben und mit dem sie diese sich tatsächlich vielfach überschneidenden Entwürfe zu dem verknüpfen, was sie offenkundig sind: Eine neue Ideologie für das Dritte Jahrtausend, für manche ihrer Vertreter offenkundig sogar so etwas wie eine neue Religion -die aber weit über das hinausgeht, was L.R. Hubbard einst mit der Scientology in die Welt gesetzt hat – nämlich eine ähnliche Weltvorstellung und soziale Bewegung, die nicht zufällig von einem ehemaligen Science-Fiction-Autor stammt.
Bill Gates (Microsoft), Elon Musk (Tesla) und Jeff Bezzos (Amazon) und etliche andere dieser durch moderne Technologien in wenigen Jahren zu den reichsten Männern (!) der Welt geworden Weltveränderer und ihre Vor- und Nachbeter träumen von einem „neuen Menschen“, der alle Schwächen des „alten Adam“ überwunden hat und demnächst sogar unsterblich wird.

Science-Fiction wird allmählich Realität

Als Science-Fiction-Leser und -Autor kommt mir das alles sehr bekannt vor – und es ist ja kein Zufall, dass diese Milliardäre als Jugendliche heftig an der Flasche „SF“ genuckelt haben oder SF-Phantasien von Weltraum-Tourismus (Bezzos und Musk) und Flügen zum Mars (Musk) und dem Transfer von menschlicher Persönlichkeit auf Computer-Festplatten (Ray Kurzweil) hegen.

GroTESC REAL

Das Akronym verlockt dazu, damit zu spielen. So entstand meine Abwandlung von TESCREAL zu „groTESC REAL“ – denn genau das sind diese „feuchten Träume“ der Reichen: So sind leider sehr REAL (weil so viel Reichtum und Macht zu ihrer Verwirklichung bereitstehen) – und sie sind sehr groTESC, weil sie auf einem viel zu simplen Weltbild basieren: Der Gleichsetzung von Physik (Computer-Technologie und KI) und Psychologie (der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Persönlichkeit). Typischer Fall von „Deformation professionelle“: Viele Physiker haben leider kaum bis keine Ahnung von Psychologie (die der eigenen Person eingeschlossen) – viele Psychologen allerdings auch keine Ahnung von Physik. Da gibt es also eine große Lücke – die zu entsprechenden Fehleinschätzungen und Vor-Urteilen führt.

Macht ist ja noch viel „sexier“ und wichtiger als Geld – noch dazu eine Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist, sondern sich aus Eigen-Macht speist – was ja nichts anderes ist, als der populistische Impetus und Machtanspruch aller Autokraten und eben irgendwann auch Diktatoren.
Nicht zuletzt geht es einigen von diesen Tec-Fuzzies um die „heißeste“ Macht von allen: Geistige Macht. Was könnte das noch toppen? Genau: Die Gründung einer neuen Religion. Diesmal mit der Heilsbotschaft der „alle Probleme lösenden Technologie“ – allen voran KI – was gerade als angeblich „künstliche Intelligenz“ eindrucksvoll das Denken und die Medien beschäftigt. 
Aber bei genauerem Hinsehen entpuppt sich TESCREAL nur als technikaffine Variante der  Esoterik, von UFOs über Kornkreise bis zu Astrologie und Handlesen. Wer´s mag, soll gerne dran glauben. Aber mit REALität hat das nichts zu tun – nur im aktuellen Fall mit TESCREALität.

Ich muss zugeben, dass meine eigenen Experimente mit KI mich sehr beeindruckt haben mit ihren durchaus kreativen und phantasievollen Ergebnissen, von denen ich einige schon  veröffentlicht habe. Aber Anlass zu religiösen Höhenflügen sollten ChatGPT (Texte) und Stable Diffusion (Bilder) nicht sein, denn sie bedienen sich nur äußerst geschickt bei der Kreativität vieler Generationen von Autoren und Malern und inzwischen auch Musikern. Genau gesagt: Sie plündern sie (was das korrekte Wort dafür ist). Aber sie sind fraglos auch ein neues anregendes Werkzeug. Meine Beispiele hier im Blog:
KI schreibt ein Koch-Buch
ChatGPT schreibt (m)ein Buch
KI generiert Bilder aus HAIKU

Abb.2: Die obige Grafik ist nur ein Ausschnitt – hier die ganze Zeichnung, die den Größenwahn noch mehr hervorhebt und andeutet, wohin das immer führt: zu Krieg (Tusche 1959 JvS)

Quelle
Boverman, Philipp: „Unser Wille geschehe“. In: SZ Nr. 178 vom 04. Aug 2023, S. 10 (Feuilleton).

314 _ #1856 / 09. Aug 2023/14:56

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