In einem Interview zur Corona-Pandemie wies der Soziologe Armin Nassehi darauf hin, dass wir ja nicht nur in einer gemeinsamen, klar definierten Gegenwart leben, sondern
„wir sind eine „Gesellschaft der Gegenwarten“, eine Gesellschaft, in der gleichzeitig unglaublich unterschiedliche, nicht eindeutig miteinander vermittelbare Dinge passieren – ökonomische, politische, wissenschaftliche, familiale, alltagsweltliche. Wir tun uns in einer solchen Gesellschaft enorm schwer, kollektiv zu handeln und vor allem die Zukunft einzubeziehen.“

Ich finde die ungewöhnliche Pluralform „Gegenwarten“ so bemerkenswert. Auch dies würde ich als MultiChronie bezeichnen, wenngleich als eine von ganz besonderer Art – eben ganz auf das Präsens bezogen. Schaut man allerdings genauer hin, so entsteht diese Vielfalt ja letztlich dadurch, dass jeder Mensch aufgrund der „Enge des Bewusstseins“ nur einen winzigen Ausschnitt von Gegenwart wahrnimmt, bedenkt und darin handeln kann – während er / sie gleichzeitig einen großen „Schweif“ von Vergangenheiten und auf die Zukunft gerichteten Entwürfen mit sich schleppt – die im Kontakt mit anderen Menschen rasch kollidieren, weil sie mit unterschiedlichen Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen verbunden sind.
Warum sonst sollte jemand, der AfD wählt, sich nach einer „großdeutschen Vergangenheit“ ohne bedrohliche Fremde sehnen und Corona leugnen – obwohl es diese Vergangenheit nie gegeben hat – jedenfalls nicht als etwas Gutes und für die heutige Zeit Wünschenswertes?
Aber das ist natürlich meiner Meinung und meine Erfahrung aufgrund meiner Vergangenheit und vor allem wegen meiner so ganz anderen, optimistischen und weltoffenen Zukunftserwartungen.
Quelle
Nassehi, Armin (Interview: Illinger, Patrick): “ „Tu, was du willst, aber wolle das Richtige!“ In: SZ #31 vom 08. Feb 2021, S. 13 (Feuilleton).
Raman-Schlichter, Ely: OH-Karten. (c) OH-Verlag Moritz Egetmeyer – OH-Cards.com.