(Das Bild auf der Startseite dieses Blog zeigt den Höhenweg entlang der linken Seite des Rhonetals von Bürchen nach Brandalp entlang einer dieser alten Suonen, die jede Wanderung mit ihrem Plätschern und Murmeln begleiten und im Sommer für Kühlung sorgen. Schon daran, dass ich dieses Bildmotiv gewissermaßen zum Leitmotiv des ganzen Blogs gemacht habe, zeigt, wie wichtig mir die Zeit im Wallis war.)
Dieser kleine Ort CH-3935 Bürchen im Schweizer Kanton Wallis ist so etwas wie meine dritte Heimat geworden – nach Rehau am Rand des Fichtelgebirges und München. Eine Kleinstadt also (Rehau mit aktuell 10.000 Einwohnern), eine Millionenstadt (München mit umliegenden Vor-Städten bis zum Starnberger See) und ein Bergdorf mit 800 Einwohnern.
Warum nicht Leipzig? Weil ich dort nur geboren wurde, mich auch durchaus irgendwie zugehörig fühle – aber das ist mir nie Heimat geworden, weil ich in der sächsischen Metropole nur kurze Zeit nach meiner Geburt verbracht habe. Irgendwann 1940 ging nämlich meine Mutter angesichts des eskalierenden Kriegsgeschehens zurück in ihre Heimatstadt Rehau. Man nannte das damals „Evakuierung“. Aus den Aufzeichnungen des Leipziger Stadtarchivs weiß ich, dass in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1940 der erste Luftalarm die Leipziger mit dem schauerlichen Geheul der Sirenen aufschreckte. Erste Bombenabwürfe und entsprechende Explosionsschäden gab es am 10./11. November 1940.
Doch zurück zu Bürchen im Wallis. Ich habe es kennen und lieben gelernt durch meine Frau Ruth. Sie ist zwar in Spiez am Thuner See aufgewachsen, also im Berner Oberland auf der anderen Alpenseite, aber ihr Vater stammte aus Bürchen – genauer: aus einem der drei Dorfteile, die ursprünglich eigenständige Weiler waren. Dieser Ortsteil heißt Zenhäusern – genau wie der Familienname meiner Frau. Das hat nichts mit „Zen“ (wie Zen-Buddhismus) zu tun oder der Zahl „zehn“, sondern bedeutet: „zu den Häusern“ – oder „zä Hüschere“ (wie die Einheimischen auf Walliserdütsch sagen).
Interessanterweise gibt es auf der anderen Talseite der Rhone, nahe bei Brig und Luftlinie vielleicht 20 km entfernt, noch einen anderen Ort, dessen Name dasselbe bedeutet – aber auf dem Wegweiser steht „Tä Hüschinu“ (was ebenfalls „zu den Häusern“ bedeutet*). Sprache ist etwas wunderbar Wandelsames.
* Wenn man den Namen googelt – gelangt man nicht zu diesem Weiler – sondern zu meinem ersten Roman Männer gegen Raum und Zeit. Dort habe ich mir in der – leicht – überarbeiteten Neuausgabe 2015 den Spaß erlaubt, den Dialektausdruck einer meiner Figuren als Namensteil hinzuzufügen: „Alin ker Fugato tä Hischinu„.

Drei Jahrzehnte haben meine Frau und ich hier auf den großartigen Höhenwegen alle Seitentäler erkundet – bis hinter nach Zermatt mit dem weltberühmten „Horu“ – nach Saas Fee mit dem gewaltigen Gletscher, hinüber auf die Nordseite der Rhone zum Aletschgletscher – ins Lötschental – nach Leukerbad mit der Gemmi, wo man nach mühsamen Anstieg (über den schon Goethe geflucht haben soll, obwohl er sich in der Sänfte hochschleppen ließ) – von Visp im Tal hinauf nach Heida und hinüber zum Simplon auf gut sieben- bis zehnstündigen Wanderungen –
Ich könnte noch vieles mehr aufzählen. Aber machen Sie sich doch die Freude und erkunden Sie diese phantastische Welt selbst. Ich kann es leider nicht mehr – meine Knie würden protestieren.

Inmitten von Viertausendern ein wirklich schräges Labyrinth
2002 konnte ich hier mit Hilfe einer Schulklasse und der Unterstützung vieler Einheimischer auf einer phantastisch gelegenen, leicht schrägen Bergwiese inmitten von Birken ein Begehbares Labyrinth auslegen – mit einem Gang von gut 300 Meter Länge (150 Meter vom Eingang bis zum Kern und zurück) und phantastischen Ausblicken in eine der großartigsten Landschaften der Welt.
Eine Schautafel am Rand informierte über dieses Landart-Objekt und was es mit Labyrinthen auf sich hat. Man konnte hineingehen und über ein Thema meditieren. Mit den Teilnehmern vieler Schreib-Seminare zum Thema „Wandern und Schreiben“ (oben im Chalet Pluto) habe ich dieses Labyrinth immer wieder zur Selbsterfahrung und als Schreibanlass verwendet.

Die Kinder der Schulklasse aus der örtlichen Zwergschule trugen in ihren Kraxen die Steine einige Meter weiter zur Wiese, wo sie auf der vorher von mir mit Sägemehl aus der Schreinerei Lehner vorgezeichneten Struktur das Labyrinths abgelegt wurden – an die tausend etwa faustgroße Brocken.

Robert Jez aus Wien, Teilnehmer einer Seminare „Wandern und Schreiben“ und passionierter Bildhauer gestaltete aus einem auf dem Gelände liegenden kleinen Findling mit vielen Hammerschlägen eine Skulptur, die er am Eingang aufstellte – mit seinem faunartigen Kopf ein wunderbar zum antiken Labyrinth-Motiv passender „Wächter“:

Mit Lehrer Wehrlen und seiner Schülern wurde das Projekt an einem Nachmittag vorbesprochen. Was ein Labyrinth ist, wussten fast alle – weil sie davon in Harry Potter und der Feuerkelch gelesen hatten; ich musste nur noch den Unterschied zwischen Irrgarten (mit verwirrenden Wegverzweigungen wie bei Harry) und einem klassischen kretischen Labyrinth mit nur einem Gang erklären. Dann ging es los – gut vier Stunden Steineschlepperei. Zur Belohnung gab es Eisbecher im Alpenrösli (s. oben erstes Bild) – aber zuvor wurde das Labyrinth noch erstmals begangen und inoffiziell eingeweiht:
Am Freitag den 13. September 2002 wurde das Birkenlabyrinth mit vielen Dorfbewohnern und einem Apéro offiziell eröffnet.
Am Abend, als alle Helfer und Besucher nachhause gegangen waren, genoss ich noch den Blick aufs Bietschhorn – einer der vielen wunderbaren Ausblicke vom Labyrinth in die Umgebung. Hier konnte man wirklich gut entschleunigen – und das Schreiben ging einem wie von allein von der Hand.

„Freitag der Dreizehnte“ war wohl kein so guter Termin für die Einweihung. Nur fünfzehn Jahre später wurde das Labyrinth von der Wiese entfernt. Schade. Sehr schade. Nun existiert nur noch dieser Bericht und diese Bildstrecke davon. Aber alles hat eben „seine Zeit“, wie es schon in der Bibel heißt: „Saat und Ernte, Sommer und Winter – tausend Labyrinth-Steine zu einem großartigen Exponat von LandArt auslegen – und wieder verschwinden lassen.“
Leider war man 2017 wirklich so töricht, diese einzige örtliche Sommerattraktion des „Birken-Labyrinths“ im Verlauf des „Birkenlehrpfads“ zu vernichten. Anders kann ich es nicht nennen. „Die Steine wurden entfernt“, hat man mir auf Anfrage lakonisch mitgeteilt. Was man auf Google Earth auf Satellitenfotos noch eine Weile später gut erkennen konnte und entsprechend gekennzeichnet war – verschwunden ist es wieder. Die Kühe oder die Schwarznasenschafe, die hier nun wieder grasen, freut es.
Tempi passati.

MultiChronalia
Das beginnt gleich eingangs dieses Textes mit der Zeit im Wallis (1980 bis 2008 jeden Herbst als Urlaub, oft auch noch um Pfingsten – ab 1988 jeweils verbunden mit mindestens einem Schreib-Seminar – 31 waren es insgesamt).
Dann die Geburtsstadt Leipzig 1940 und die Heimaten ab vermutlich 1941 bis 1956-03 Rehau, 1956-03 bis heute München.
Die Zeit des Birken-Labyrinths war eine ganz spezielle – 2002 bis 2008 unzählige mal besinnlich meditierend begangene LandArt im Hochgebirge. (Da war ich auch so etwas wie mein Urgroßvater Kropf und mein Großvater Hertel in Rehau: ein richtiger „Baumeister“.)
Quelle
Scheidt, Jürgen vom: „Das Birkenlabyrinth von Bürchen“. In: Walliser Bote vom 20. Sep 2002.