… oder: Heimat 1, die noch immer lebendig in mir ist. Aktueller Anlass, mich dieses Ortes wieder einmal zu erinnern, ist ein prächtiger Bildband von Reinhard Feldrapp. Der wurde mit seinen Fotografien gestaltet anlässlich des 200. Jahrestages jenes verheerenden Brandes von 1817, der nach dem Einschlag eines Blitzes in eine Scheune das gesamte Stadtzentrum zerstörte. Rehau wurde danach modellhaft für ganz Bayern von Grund auf neu errichtet, ein kompletter Bach wurde trockengelegt, der Max-Platz (zur Erinnerung an den damaligen Regenten Max von Bayern) großzügig im Zentrum freigeräumt und darum herum sehr gradlinig großzügige Straßen um den früher sehr verwinkelten (und nicht nur dadurch immer brandgefährdeten) Stadtkern gelegt.

In einer dieser neuen Straßen bin ich aufgewachsen: der Bahnhofstraße (so später nach eben diesem Bahnhof an der Strecke zwischen Hof und Selb benannt). Bis ich im März 1956 mit der Familie nach München umzog. Beim Blättern in dem umfangreichen querformatigen Buch gab es viele Déjà-vu-Momente, wenn Details auftauchten, die mir zutiefst vertraut waren:
° als Spielplätze (wie gleich neben dem großväterlichen Grundstück die heute als Museum erhaltene Werkstatt von Gelius am Höllbach mit ihren schnurrenden Transmissionsriemen und den beim Schweißen und Feilen grell blitzenden Funken)
° und als Ziele für immer neu zusammengesetzte Horden von uns Kindern im Perlenbachgrund, im – damals noch sauberen (dann sehr verschmutzten und heute wieder sauberen) Höllbach mit diesem die Phantasie anregenden Namen.
Im Winter ein ganz besonderes Vergnügen waren die Steinleite und die Katharinenhöhe mit dem aufgelassenen Steinbruch – ein Abenteuerspielplatz für nicht ungefährliche Rodelvergnügen. Denn das Ziel war es, mit Karacho auf die querverlaufenden Bahngleise der Strecke Rehau-Hof zu gelangen – auf der eben manchmal auch ein Zug mit Dampflok dahergeschnauft kam.
Im Bildband entdecke ich beim aufmerksamen Blättern auf S. 43 in der unteren Hälfte (zweites Tor von links) ein schönes Portal mit der Hausnummer 15, das mir sofort bekannt vorkommt: Es ist, wie ein Foto aus meinem Archiv beweist, tatsächlich mein früheres Eltern- oder besser: Großelternhaus. Mein Foto ist nicht so scharf und farbig wie das von Meister Feldrapp – aber ich habe es vor vielen Jahren selbst geschossen, als ich noch viel fotografiert habe.
Das Haus hat mein Urgroßvater mütterlicherseits gebaut, der „alte Kropf“, wie wir ihn nur nannten, Er war Baumeister und Architekt und hat eine Karriere hingelegt, wie man sie nicht einmal in Amerika geschafft hätte –
° nicht nur „vom Zeitungsjungen zum Millionär“, sondern vom Halbwaisen, der nach dem frühen Tod seines Vaters als Vierzehnjähriger (!) auf dem Bau schuftete und mit dem mühsam verdienten Salär nicht nur die Mutter und seine vier (?) Geschwister (und sich selbst) ernährte
° sondern zum wohlhabenden Baumeister, Architekten und Grundbesitzer. Er wurde Stadtrat und war das, was man früher einen „Honoratioren“ nannte – wohlangesehen im Ort – „sehr beliebt und tüchtig, sein Rat wurde sehr geschätzt“.

Wenn er in den Nachbarort Hof mit dem Zug fahren wollte, dann ließ der Urgroßvater bei der Einfahrt (!) des Zuges einen seiner Angestellten zum Bahnhof telefonieren, dass er nun komme und machte sich mit seinen gut zwei Zentnern Lebendgewicht (das viele Bier!) auf den Weg. Und der Zug wartete auf ihn, bis der Conducteur den gnädigen Herrn in sein Abteil Erster Klasse gehievt hatte. Dann erst fuhr der Zug los und der Conducteur trug die Strecke in das Fahrtenbüchlein des „werten Herrn Stadtrats“ ein.
Wenn ich mal, vor dem Hintergrund vieler Jahre Beschäftigung mit dem Thema „Hochbegabung“, eine Ferndiagnose per Brainspotting riskieren darf, dann war er sicher ein Hochbegabter, dem trotz aller Anfangsbehinderungen ein sehr eindrucksvolles Leben gelungen ist. Leider habe ich ihn selbst nicht mehr kennengelernt.
Die Zukunft im alten Kontobuch
Aber während ich dies so hinschreibe, fällt mir (MultiChronie!) ein, dass dieser Vorfahre auf eindrucksvolle Weise weit über seine leibliche Existenz hinaus auf ähnliche Weise mein Schreiben beeinflusst hat wie der andere Urgroßvater Ferdinand Nauman auf der väterlichen Seite. Sogar noch intensiver – denn während der alte Naumann mir „nur“ seine Tagebücher und ein paar Anekdoten hinterließ – fand ich eines Tages (es muss 1954 oder 1955 gewesen sein) beim Stöbern im Dachboden der Bahnhofstraße 15 etwas Unglaubliches: Ein Kontobuch des alten Kropf. Ich weiß nicht mehr, ob es völlig leer war und ich aus diesem Konvolut von erinnerten 25 x 30 cm und gut 5 bis 6 cm dick einige beschriebene Seiten am Anfang herausriss – jedenfalls habe ich im Dezember 1955 in genau dieses Kontobuch mit den leeren Zeilen, das so viele Jahre auf mich oben in der Düsternis des Dachbodens auf mich gewartet hatte – den Anfang meines ersten Romanversuchs notiert.
Es ging um den Flug des ersten interstellaren Raumschiffes zum nächsten Fixstern Alpha Centauri, gerade mal 4,3 Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt. Der Start war vermutlich im Jahr 2021 (kleiner Scherz) – jedenfalls unendlich weit von 1955 entfernt in der Zukunft. Es war ein Kugelraumschiff und flog schneller als das Licht und es hieß – wie denn sonst – „Albert Einstein“. Das war´s dann schon.
Würde ich Fantasy-Romane schreiben, käme mir nun die Idee, dass da in diesem Buch tatsächlich so etwas wie der „Geist“ meines Urgroßvaters auf mich übergangen ist und gerade die Leere dieser Seiten mich geradezu aufforderte, sie zu füllen. So war es aber wohl nicht. Sonst hätte ich diesem Buch mit dem abgeschabten Rücken aus (Büffelleder?) und nun Träger meines ersten Romanversuchs viel mehr Respekt entgegengebracht – mal ganz abgesehen davon, dass der alte Kropf wohl eher ein nüchterner Zahlenmensch war. Andrerseits: Mein Großvater, sein Schwiegersohn, war auch Architekt, spielte Klavier, las den Simplicissimus (jedenfalls in jungen Jahren), hatte eine recht gut sortierte Bibliothek, war ein schlechter Geschäftsmann und Bauunternehmer und viel lieber Major und in zwei Weltkriegen unterwegs als auf den Baustellen.
Ob der Urgroßvater Kropf vielleicht auch eine heimliche Liebe zur Kunst hatte oder gar zum selbst Schreiben? Der alte Naumann, Gastwirt von Beruf, jedenfalls hat in seinem Tagebuch Wünsche notiert, mal was für eine „Zeitschrift“ zu verfassen (vielleicht gar einen Roman? aber diese Stell habe ich noch nicht gefunden, die alte deutsche Schrift ist so mühsam zu lesen). Er war Freimaurer, machte 1904 eine → Reise an die Riviera (die ich irgendwann hier im Blog einbauen werde – schon wegen der multichronen Vernetzung) und war einmal drei Monate spurlos verschwunden ohne mehr als diesen einen Satz auf dem Küchentisch zu hinterlassen: „Ich mache nach Ägypten“.
Was wissen wir schon von unseren Vorfahren – wo wir doch nicht einmal von uns selbst viel wissen – da kann so ein Blog noch so umfangreich Erinnerungen und Gedanken und Gefühle sammeln!
Rehau sorgt für seine Vergangenheit…
Die Stadt Rehau pflegt heute noch die Familiengruft, in welcher der einstige Stadtrat Eduard Kropf mit seiner Frau Katharina, geb. Press, beerdigt wurde.
Sein Schwiegersohn Karl Hertel, Vater meiner Mutter, übernahm nach dem Tod des Patriarchen das Baugeschäft. Wen wundert´s, dass ich als sein Nachkömmling und durchaus vertraut mit dem Ansehen, das die Familie in Rehau genoss, in jede Werkstatt und jeden Laden hineinspazieren konnte mit dem Türöffner: „Ich bin der Enkel vom Architekt Hertel“. Hätte ich damals, als Drei-, Vierjähriger schon besser Bescheid gewusst, wie das so lief in Rehau, hätte ich mich bestimmt angekündigt mit dem Satz: „Ich bin der Urenkel vom Baumeister Kropf“.
(Das Erwachen in München, wo ich zunächst niemanden außer einigen Schulkameraden und Freunden vom Science-Fiction-Club kannte und schon überhaupt niemanden aus der Haute volee der Großstadt war dann 1956 umso heftiger.)

Eigentlich müsste ich hier nun über den Großvater Karl Hertel und die Großmutter (Betty Hertel, geb. Kropf) berichten – aber das soll an anderer Stelle geschehen.
.. und ist gut aufgestellt für die Zukunft
Sie sind unübersehbar, wenn man von außerhalb in den leicht abgesenkten Talkessel kommt, am Nordrand der Stadt: mindesten 25 Windräder. Eine gewaltige Stromliefermaschine, die vermutlich die halbe Stadt mit Elektrizität versorgen kann.
Schon bald nach dem Krieg gründeten die Brüder Wagner eine kleine Klitsche für Kunststoffprodukte, aus der in den 70er Jahren jene Weltfirma wurde, die heute nur noch Rehau heißt und im Internet unter rehau.com leicht zu finden ist (während die Stadt mit dem Domainnamen stadt-rehau.de vorliebnehmen muss) .
In einem umfangreichen Bericht in der Südd. Zeitung las ich einmal, dass die Produkte der Rehau AG in aller Welt zu finden sind, „in der U-Bahn von Tokio“ – und sogar hoch oben im Weltraum in der International Space Station ISS.
(Was nicht in der Zeitung stand: Das ich als Zehnjähriger mit meinem Freund Klaus Strobel auf dem späteren Gelände dieses Unternehmens an einem Samstagnachmittag mit einer Kipplore das Nebengleis hinuntergerast sind, wir gerade noch abspringen konnten und in dem umgekippten Ding leicht hätten zu Tode kommen können oder wenigstens schwer verletzt. Böse maltraitiert wurde hingegen mein rechtes Knie etwas näher bei der Hoferstraße von demselben Fabrikgleis, als ich im Winter den Hoferberg mit dem jüngeren Bruder meines Schulkameraden Ernst Wettengel (er hieß tatsächlich so) um die Wette diese Straße hinunter rannte. Sechs Wochen Krankenhaus waren die Quittung .
So war das eben: Für den „Enkel vom Architekt Hertel“ war ganz Rehau war ein Abenteuerspielplatz und wir Kids waren frech und selbstbewusst genug, ihn zu „bespieleben“ – was halt gelegentlich unangenehme Folgen hatte.)
Es gibt in Rehau einige Industriebetriebe, die mindestens europaweit bekannt sind. Die Südleder AG gilt als größte Lederfabrik Europas. Ihre Vorformen waren die Linhardtsche Lederfabrik und die vielen kleinen Gerbereien, deren Gestank lange Zeit ein weniger angenehmes Wahrzeichen von -Rehau war. Aber das hat sich längst bändigen lassen. Was zu meiner Kindheit und Jugend noch wichtige Firmen waren: die Porzellanfabriken, die Schuhfabrik, die Kartonagenfabrik, die Bonbonfabrik (!) – das meiste davon existiert heute nicht mehr. andere Firmen sind an ihre Stelle getreten.
Else Köster, die später Puck hieß und für mich in den ersten Lebensjahren wo etwas wie eine zweite Mutter war, wusste gut Bescheid über Rehau (obwohl sie im Nachbardorf Kautendorf lebte). Mit sichtlichem Stolz erzählte sie mir mal, dass Rehau sogar in Schulbüchern als „der ideale Mix von je einem Drittel Handwerk, Landwirtschaft und Industrie gegeben“ sei. Das mag heute nicht mehr ganz so stimmen – aber Rehau ist, nicht zuletzt wegen des riesigen Arbeitsgebers Rehau AG (mit etwa 3.000 Mitarbeitern allein im Ort), eine der wenigen Vorzeigestädte nicht nur in Bayern, die einen ausgeglichenen Stadthaushalt haben.
Erloschene Industriefeuer – und ein Rehau-Krimi
Ich vermute mal, dass so tüchtige Leute wie mein Urgroßvater Kropf und der andere Uropa, der Viehhändler Adam Hertel (der mit 50 so viel Geld hatte, dass er Pensionär werden konnte) und die vielen anderen tüchtigen Rehauer, die um 1900 jede Menge Fabriken gründeten – dass die für eine DNA des Ortes gesorgt haben, welche diesen einigermaßen unbeschadet durch zwei Weltkriege und eine schreckliche Inflationszeit führte und sogar die Abschnürung durch den Eisernen Vorhang während des Kalten Kriegs überleben ließen.
Wer mehr über Rehau erfahren möchte, kann das über die Gegenwart im schon erwähnten Bildband von Reinhard Feldrapp bekommen. Über die Vergangenheit (nicht nur) von Rehau informiert ein Buch von Gerald Sammet, auch ein Rehauer „Gewächs“: Erloschene Feuer. Industrie & Glück.
Eine völlig andere Seite der Stadt, die sich mit der Spezialität der Perlmuschelzucht im Perlenbachgrund östlich von Rehau befasst, ist der erste „Rehau-Krimi“ von Thorsten von Wurlitz: Flussperlmuschel. Der Untertitel sagt es: Rehau: Kommissar Wunderlichs erster Fall“.
Der Autor, auch ein „Rehauer“, der heute in der Nähe von München lebt, versteht es, den Ort mit vielen Schauplätzen aus meiner Kindheit zu garnieren, die viele Erinnerung wachriefen – und vergisst auch nicht die Windräder der Moderne. Doppelt gut gefallen hat mir das Buch, weil r an mehreren Stellen von „Entschleunigung“ spricht – und diese Eigenschaft nicht nur der „sehr langsam wachsenden“ Perlmuschel zuordnet, sondern auch der typischen Gemütsverfassung der Rehauer. Letztere könnte man etwas kritischer auch als „spießbürgerliche Lahmarschigkeit“ disqualifizieren (so habe ich Rehau mit 15 erlebt, als es mich mehr und mehr in die pulsierende Großstadt zog) – oder wertschätzend als Behäbigkeit, die sich nicht aus der Ruhe bringen lässt (wie ich mir immer meinen Urgroßvater Kropf vorgestellt habe).
„Honni soi qui mal y pense – ein Schelm, wer Böses denkt.“
MultiChronalia
An anderer Stelle werde ich noch genauer würdigen, was ich meiner „ersten Heimat“ Rehau alles noch zu verdanken habe außer den obigen Erinnerungen. In meiner launigen Kurzgeschichte vom → kleinsten Weihnachtsmann der Welt habe ich einiges darin verarbeitet. Aber der Ort, in dem man die ersten 15 Jahre seines Lebens verbracht hat und der so vielfältige Ecken und Kanten hat, ist mehr wert als so einen kleinen Erinnerungs-Trip. Allein die oben anklingenden Zeitschichten sind es wert, genauer ausgearbeitet zu werden:
° Aus der Überlieferung die Zeit der Vorfahren mit Viehhändlern (wegen denen Rehau berühmt und berüchtigt war), Schweineschmugglern über die böhmische Grenze, Fabrikgründern und Bauunternehmern.
° Die beiden Weltkriege (in Fotos meines Großvaters Hertel sehr präsent).
Dann, schon selbst erlebt, die Nazizeit mit → „´eil ítle“ und die Nachkriegszeit mit der Befreiung durch die Amerikaner (und als man auf der Bahnhofstraße noch problemlos spielen konnte, weil es keine Autos gab).
° All die Ausflüge mit Freunden in die vielfältige Umgebung des Ortes.
° Dann die Bezüge zur Zukunft – sowohl in Gestalt der Schundheft- und Leihbuchlektüren ab 1950 wie in ersten Schreibversuchen an 1953.
° Die ersten Erfahrungen mit einer Rauschdrogen (1954 – ausgerechnet Eierlikör!)
° All die Verliebtheiten in all die schönen Mädchen nicht nur in Rehau.
° Und nun in der Gegenwart des 11. Februar 2021, in der beim Tippen all dieser Erinnerungen etwas wundersam zusammenkommt als das, was ich als „lange vergessenes Rehau-Gefühl“ bezeichnen könnte.
Mehr dazu an anderen Stellen dieses Blog – der ja im Grunde nichts anderes ist als eine Zeitreiseschreibmaschine, die Ausflüge zu den wichtigen Lebensabschnitten und Momenten ermöglicht, den guten wie den schlechten.
Quellen:
Horn, Birgit: Leipzig im Bombenhagel – Angriffsziel „Haddock“ (Sonderband des Leipziger Kalender 1998). Leipzig 1998 (Schmidt-Römhild).
Sammet, Gerald: Erloschene Feuer. Industrie & Glück. (1917) Schwarzenbach/Saale 2012. (Transit Verlag).
Wurlitz, Torsten von (= Torsten Küneth): Flussperlmuschel. Rehau März 2014 (Burg Verlag).
<aut #439 – am 11. Feb 2021/ 20:10 Uhr>