Vom Blog zum Newsletter zum glü-Roman

Wie schaffe ich den Übergang zum aktuellen Newsletter für Januar – der heute, am 15. Februar, längst überfällig ist?
Eine Aufgabe, die ich – naheliegend – mal hier im Blog angehen und möglichst auch lösen will. Denn in dessen Dunstkreis bewege ich mit seit Dezember vergangenen Jahres sehr gern und sehr „leichtfüßig“ (leichtfingrig!) und entsprechend auch erfolgreich.

Das sollte eigentlich easy sein, denn im Newsletter will ich ja meinen Blog vorstellen, und zwar mit einem ganz speziellen Asket: den therapeutischen Effekten des Schreibens, wie sie sich beim Bloggen manifestieren. Deshalb drehe ich den (metaphorischen) Spieß jetzt mal um und schreibe mich im Blog zum Newsletter hin:

Das Virus ist eine Realität, die alle Gewohnheiten auf den Prüfstand stellt

Ich sehe nicht nur die negativen Seiten, sondern auch die neuen Möglichkeiten, die sich in der Pandemie bieten. Es war sicher auch die Bedrohung durch einen möglichen verfrühten Tod oder schwere gesundheitliche Schäden durch das Virus, die mich dazu angetrieben haben, mich mit meiner Autobiographie ernsthafter als in früheren Jahren zu befassen – was wiederum die Idee beflügelt hat, diesen Blog zu entwickeln. Es gab dazu schon einmal einen Ansatz, sogar deren zwei – die aber wieder versandet sind. Anders war das mit meinem Labyrinth-Blog, den ich im Rahmen der Bloggersphäre SciLogs mit ihren „Tagebüchern der Wissenschaft“ von 2007 bis 2016 gepflegt habe, mit  genau 300 Beiträgen. Dann verlor ich auch daran die Lust, immer nur auf dem Thema „Labyrinthe“ herumzukauen – und den Redakteuren von SciLogs waren meine Postings wohl nicht mehr wissenschaftlich genug, denn man hat mich freundlich, aber bestimmt „hinausbugsiert“ (was mir nur Recht war).

Was ist therapeutisch am Schreiben eines Blogs?

Schon der Gattungsname (Log- bzw. Tagebuch im Web) legt nahe, dass man sich hier zunächst mit sich selbst beschäftigt, wie das jeder Tagebuchschreiber und jede Logbuchführerin macht. Mir war das allerdings immer schon zu wenig. Ich wollte seit jeher immer auch für andere schreiben – sei es Kurzgeschichten in Magazinen und Anthologien, sei es Artikel in Zeitungen, sei es Interviews im Rundfunk. Und in meinen Büchern sowieso.

Was im Tagebuch therapeutisch wirkt, ist ja zunächst einmal die Beschäftigung mit sich selbst, das „sich klar werden“ über drängende Themen privater oder beruflicher, aber auch weltanschaulicher Art. Was man zu Papier bringt, erweitert automatisch die natürliche → Enge des Bewusstseins .

Der Blogger beim Bloggen (Carl Spitzweg, ca. 1839 – Neue Pinakothek München)

Die Entlastung dadurch, dass man sich „etwas von der Seele“ schreibt, war schon den Ägyptern der Pharaonenzeit vertraut – wie das eindrucksvolle „Gespräch eines Lebensmüden mit seinem BA“ bezeugt. Durch die Übersetzung und Veröffentlichung dieses Papyrus im 20. Jahrhundert können nun auch Menschen der Gegenwart an den Nöten eines vor Jahrtausenden lebenden Menschen teilnehmen – und staunend begreifen, dass es den Menschen damals im Grunde auch nicht anders ging als uns Heutigen. Ob der namenlose Ägypter schon daran gedacht hat, dass spätere Generationen an seine Seelennöten (schwere Depression, Suizidgedanken, Lebensängste) teilnehmen könnten? Vielleicht nicht so explizit – aber warum sonst hätte er sich die Mühe machen sollen ,das auf Papyrus niederzulegen? Vielleicht hat auch er schon erfahren, dass auf diese Weise „geteiltes Leid halbes Leid ist“ – auch wenn sein Gegenüber kein leibhaftiger Freund gewesen sein wird, mit dem er da teilte, sondern ein „Bruder im Geiste“ oder (wie wir das heute nennen würden) ein „virtuelles Gegenüber“.
Da ist es gleichgültig, ob diese mitfühlende Person jemand in der (damaligen ägyptischen) Gegenwart ist oder jemand am anderen Ende der Welt (im Hethiter-Land? In Indien? In China?). Oder ob das jemand in ferner Zukunft sein wird, in unseren Tagen von 2021. Oder vielleicht auch nur eine „Innere Figur“ im eigenen Selbst, die der ägyptische Schreiber als seinen „BA“ anspricht, nämlich als seine Seele.

Jetzt kennen wir bereits zwei therapeutischer Effekte des Tagebuchschreibens und damit auch des Bloggings.
Gibt es noch eine dritte? Oh ja. Im Aufschreiben vernetzen sich verschiedene Themen und auch verschiedene Zeitschichten – wie das vor allem auch bei Träumen manchmal (immer?) der Fall ist, wenn man sie aufdröselt und ihre einzelnen Elemente sichtbar macht und im Niederschreiben zusammenführt.

Ich nenne dies MultiChronie und habe mir im Blog angewöhnt, am Schluss eines Beitrags die einzelnen im Text angeklungenen „MultiChronalia“ gewissermaßen in einem kleinen Resümee miteinander zu vernetzen und zu verknoten. Eine Übung, die ich sehr empfehlen kann und die man sich  genauer anschauen kann, wen man in der „Tag-Wolke“ auf der Startseite am unteren Rand die Kategorie „MultiChronalia“ anklickt.
° Den betreffenden Artikel lesen – am Schluss die Zusammenfassung
° und dann selbst mal so einen kleinen Erinnerungs-Text verfassen und auf seine verschiedenen Zeitschichten „abklopfen“,
° diese schließlich benennen (oder hier im Blog mit einer Kategorie versehen).
Fertig – aus den MultiChronalia ist das geworden, was man als „MultiChronat“ bezeichnen könnte.

Das MultiChronat ist etwas anderes als das Abstract, das man bei wissenschaftlichen Aufsätzen am Anfang oder als Zusammenfassung am Schluss findet – s. den Schluss dieses Beitrags. Dort wird das Thema mit seinen Verästelungen komprimiert – beim MultiChronat geht es um das Zusammenfügen der verschieden Zeitschichten, aus denen der Text sich speist. Das könnte man auch in Form einer kleinen Zeittafel machen (die ich gerade für wissenschaftliche Aufsätze und Bücher sowieso für unabdingbar halte.)

Fehlt noch etwas?

Ja. Der Gewöhnungseffekt, der sich durch die Wiederholung solcher Übungen einstellt. Alle unsere großen und kleinen Lebensthemen werden uns ja immer wieder von der Welt (und von uns selbst) präsentiert. Vor allem wir selbst konstellieren die uns umgebende Wirklichkeit immer wieder neu aus unseren Vorlieben und Macken und Ängsten. Auch wenn wir ans andere Ende der Welt auswandern und in Neuseeland eine neue Existenz gründen: Uns selbst nehmen wir immer mit.

Die wirklich wichtigen Themen (Autoritätskonflikte erst mit den Eltern, dann mit anderen Autoritätspersonen; Geschwisterrivalitäten; narzisstische Defizite; Jähzorn und gefährliche Leidenschaften; Zweifel, Ängste, Hoffnungen, Einsamkeit) kehren in immer neuen Varianten wieder. Sigmund Freud nannte dies 1920 sehr anschaulich den Wiederholungszwang. Dies geschieht in der Regel sehr unbewusst; eine Psychoanalyse oder andere Therapie kann, wenn sie kunstgerecht durchgeführt wird, die „alten Geschichten“ und die „unerledigten Geschäfte“ sichtbar machen und dadurch ein allmähliches Loslassen bewirken. So wird man erwachsen.
Das Aufschreiben im Tagebuch – mehr noch aber im Blog (weil durch das Veröffentlichen verstärkt) hat einen ähnlichen Effekt. Das mag bei wirklich heftigen, sehr tief verwurzelten und entsprechend unbewussten Konflikten neurotischer Art nicht genügen – aber einen Versuch ist es allemal wert.

Der wesentliche Effekt ist meines Erachtens, dass man in einem „öffentlichen Tagebuch“ genauer hinschaut, eigene Meinungen nicht nur hinausposaunt und für ewige Weisheiten hält – sondern sie mit Argumenten begründet und mit Quellen belegt – und vor allem immer wieder auch in Frage stellte.

Schauen Sie mal um hier in meinen Blog und probieren Sie es dann selbst aus. Zum Thema MultiChronie finden Sie hier einiges → MultiChronie oder Mehrzeitlichkeit und über die Tag-Wolke auf der Startseite.

Vom Newsletter zum glü-Roman

Bleibt noch der zweite Schritt, den der Titel dieses Beitrags ankündigt: „[Vom Blog zum] Newsletter zum glü-Roman“. Dieses Buch-Projekt, an dem ich seit August 1982* arbeite, kam vor zwei Jahren ins Stocken und dann fast zum Erliegen, weil sich mit zunehmender Vehemenz das Bedürfnis nach einer Autobiographie immer lauter meldete – erst durch das Näherrücken des 80. Geburtstages, dann verstärkt durch die Todesnähe, welche die Corona-Pandemie seit Februar 2020 forciert hat.

* Vier der geplanten fünf Bände sind einigermaßen als Rohmanuskripte fertig, vom abschließenden fünften Band, an dem ich aktuell arbeite und der den kryptischen Titel „glü“ trägt (der auch kryptisch, also „verborgen“, bleiben soll), existieren an die tausend Seiten Notizen und 3.661 Datenbankeinträge.  

Die Einfälle zum Roman sind nie völlig versiegt, fast jeden Tag ist da ein Gedanke aus dem → GeiQuaFlu  herbeigetröpfelt und wurde auch schriftlich registriert. Aber all dieses Material in einem Manuskript zu bändigen, habe ich erst einmal ans hintere Ende der Pipeline verschoben. Ich denke, wenn der Blog einigermaßen gefüllt ist und damit der Grundstock für die Autobiographie gelegt, kann ich mich wieder vorrangig dem glü widmen und das Lämpchen nicht nur sanft glühen, sondern kräftig und hell leuchten lassen.


Kleiner Scherz auf Kosten von Carl Spitzweg

Wenn Sie sich das Bild vom „Armen Poeten“ oben im Text mal genauer anschauen, wird Ihnen auffallen, dass dieser biedermeierliche Betthase mit der rechten Hand eine deutlich zu ahnende Bewegung macht – so als würde er etwas abzählen. Meine Vermutung: Er kontrolliert gerade die Silben eines Haiku, an dem er laboriert. Wie wäre es damit:

Bin ein armer Poet
Der von Geld gar nichts versteht
Und das ist saublöd

Das ist für rhythmusgewöhnte Europäer etwas ungewohnt – aber die Silbenzahl stimmt: 5 -7 -5. –

Im Newsletter folgt an dieser Stelle der Hinweis auf meine nächsten Schreib-Seminare. Warum nicht auch mal hier im Blog, der Sie ja sonst nicht mit Werbung belästigt. (Den Newsletter können Sie gerne bei mir abonnieren – ist gratis: jvs@hyperwriting.de.)

Nächste Seminare

FREminare (die digitale Mikro-Schreibwerkstatt von 18:00-20:00 Uhr zum „Reinschnuppern“ am Freitagabend) – wieder ab 05. März.
SAMinare (der digitale Schreibtag jeweils am Samstag) ab 06. März.
Die Roman-Werkstatt, die traditionell immer in den Faschingsferien stattfand, und das seit 1991 (damals noch als „Bücher-Werkstatt), muss dieses Jahr coronabedingt ausfallen. Das Interesse an digitalen Webinaren ist auch sehr gedämpft, so dass ich erst einmal abwarten will, wie der Lockdown sich entwickelt. Vielleicht gelingt es an Pfingsten wieder, ein Präsenz-Seminar zum Romanschreiben anzubieten.
Hoffnung setze ich auf das Seminar Biographie und Phantasie, das traditionell an Ostern stattfindet, auch das seit vielen Jahren. Meine Frau Ruth hat dieses Format entwickelt und allein oder mit mir gemeinsam durchgeführt.
Aber das Virus ist eine Realität, die alle Gewohnheiten auf den Prüfstand stellt.
Details zu den Seminaren finden Sie im KALENDER auf der Seminar-Website (mit vielen Informationen zur Praxis des Schreibens).

MultiChronalia
Das wird jetzt ein bunter Mix von Zeitschichten – bis weit zurück in die Pharaonenzeit (Gespräch eines Lebensmüden um 2.600 v.Chr. – also vor viereinhalbtausend Jahren). Spitzwegs „Armer Poet“ führt uns nicht ganz soweit zurück: ins Jahr 1839 etwa. 1920 datiert Sigmund Freuds „Weiderholungszwang“ – ich nehme das als eine Art Zeitanker für die intensive Beschäftigung mit Freuds Gedanken ab 1959 (als ich einen Arzt in meinem zweiten Roman Sternvogel einerseits meinem Mathe- und Deutschlehrer Dr. Gottfried Weiß nachbildete und andrerseits meinem Hausarzt und späteren Psychoanalytiker Dr. Ulrich Otto – Ehre ihrer beider Gedenken).
Mein eigenes Schreiben und Publizieren begann so richtig 1956; damals begann ich auch ein Tagebuch. 1982 begann ich mein Roman-Projekt Weg nach O°Thar – dessen letzter und aktueller Band glü sich 2012 zu rühren begann – und der spätestens 2022, also in naher Zukunft, erscheinen sollte.
1991 startete ich die Bücher- und Roman-Werkstätten. Das Bloggen kam in ersten Versuchen um 2000 – so richtig los ging es mit dem Labyrinth-Blog (2007-2016). Den Tod meiner Frau Ruth erwähne ich oben nicht – aber er war 2016 eine mächtige Zäsur in meinem Leben – und die Weiterführung von Biographie und Phantasie eine wichtige Aufgabe, etwas Gemeinsames am Leben zu erhalten. Die Corona-Pandemie hat sich 2020 in mein Leben und in diesen Blog gewanzt (oder gefledermaust?). Mit dem Seminarangeboten am Schluss des Artikels lande ich in der Gegenwart des 15. Februar 2021.
Was für eine Zeitreise!

Quellen:
Franz, Marie-Louise von und Jacobsohn, H. und Hurwitz, S.: Zeitlose Dokumente der Seele. Zürich 1952 (Rascher Verlag: Studien aus dem C.G .Jung-Institut Zürich)
Freud, Sigmund: „Jenseits des Lustprinzips“ (Wiederholungszwang). (1920) In: Gesammelte Werke Bd. XIII.
.Jacobsohn, H. „Das Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba“ (2600 v. Chr.) in: Franz 1952.

.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: