Ich habe mich hier im Blog vor zwei Jahren schon einmal mit dem Pfingstwunder und seiner Bedeutung als altertümlicher Metapher für Kreativität befasst. Daran ließe sich auch gut zeigen, was MultiChronie in diesem Fall bedeutet: Das Nebeneinander von
° antikem Wissen bzw. Unwissen um das Jahr Null von den neuro-physiologischen und psychologischen Wurzeln der Kreativität
° verglichen mit dem was wir seit Sigmund Freud (etwa ab 1895) über die Rolle des Unbewussten und Vorbewussten wissen, wenn neue Ideen entstehen.
Ich weiß, dass die biblische Geschichte von der „Ausgießung des Heiligen Geistes“ mehr bedeutet: nämlich die Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Menschen einander besser verstehen. Genau hier setzt eine – wie ich zugebe – ziemlich verrückte Idee an, die mir heute Morgen kam, als ich in den Feuilletons der Süddeutschen Zeitung und der Zeit allerlei kluge Sonntags-Reden über Pfingsten und seien Bedeutung las. Gleichzeitig war ein anderer Teil meines Gehirns mit dem aktuellen Hype „KI“ beschäftigt – und plötzlich schoss beides zusammen zu einem Gedanken:
° Muss KI unbedingt Arbeitsplätze vernichten und eine immer größere Bedrohung werden –
° oder kann so ein sich selbst verstärkender und verbessernder Algorythmus wie Chat-GPT nicht auch im Endeffekt etwas ähnliches wie der „Heilige Geist“ bewirken?
Schöpft die KI doch ihre verblüffenden Antworten und „Kenntnisse“ aus dem publizierten Gesamtwissen der Menschheit, seit der Einbindung von Chat-GPT in die Microsoft-Suchmaschine Bing auch aus dem Internet mit seinen Milliarden von Websites und Blogs.

Eine alte Sehnsucht aus den 1940er Jahren: KI als Beendigung aller Kriege
1947 veröffentlichte Jack Williamson seinen SF-Roman The Humanoids; 1952 erschien auch eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Wing 4. Ich bin hier im Blog schon einige Male darauf eingegangen, weil es im Grunde die Vorwegnahme dessen ist, was mit den KI gerade mit Höllentempo auf uns zukommt. Die Frage bei alledem ist:
° Wird das für die Menschheit übel ausgehen – wie in den dystopischen Filmen Matrix und Terminator, in denen KI-gesteuerte Roboter die Menschheit versklaven und in den Untergang führen
° oder könnte das auch etwas Gutes haben?
In Williamsons Roman wird schon vor 80 Jahren (also vor fast drei Generationen) eine positive Antwort angedeutet:
Ironsmith schüttelte den Kopf:
„Ich kann nicht verstehen, warum eigentlich die Humanoiden so schlimm sind“, widersprach er milde. „Bestimmt kann ich’s nicht aus irgendetwas schließen, das Sie gesagt haben. Schließlich und endlich sind sie ja nichts als Maschinen, die genau das tun, wofür man sie geschaffen hat. Wenn sie tatsächlich den Krieg abschaffen können, so begrüße ich sogar ihr Kommen.“
Der Plot des Romans ist vielschichtiger – aber im Grunde genommen geht es darum, dass ein genialer Wissenschaftler Roboter (die Humanoiden) geschaffen hat, die den Menschen helfen sollen, ein besseres Leben zu führen – was ja die Grundidee auch bei allen anderen Maschinen davor war. Nur sind die Humanoiden (heute würde man sie als Androiden bezeichnen) wesentlich höher entwickelt und sehr menschenähnlich und werden von einem zentralen Gehirn gesteuert, das man heute KI nennen würde. Diese Menschmaschinen steuern nun einen bewohnten Planeten der Milchstraße nach dem anderen an, um ihre Dienste anzubieten und vor allem Kriege abzuschaffen. Das gefällt nicht allen Menschen und daraus bezieht der Roman sein Konfliktpotenzial. Die ganze Geschichte eskaliert, weil seit geraumer Zeit ein interplanetarer Krieg wütet – den die Humanoiden schlagartig beenden könnten. Die Menschen müssen nur einverstanden sein.
Hier die Szene, in welcher sich einer dieser Androiden (wie wir heute sagen würden), den Menschen in seiner wahren Gestalt zeigt – denn bisher war Major Steel der persönliche Assistent des amtierenden Präsidenten auf einem der Planeten und von einem richtigen Menschen nicht zu unterscheiden:
Forester wusste, dass er eigentlich keine Überraschung hätte empfinden sollen. Mark White hatte versucht, ihn auf diesen Augenblick vorzubereiten, und er selbst hatte von jeher der übermenschlichen Energie und Tüchtigkeit des Adjutanten misstraut. Dennoch ging ein Schauder über seinen Rücken, als er nun dieses menschlich scheinende Ding am anderen Ende des langen grünen Tisches beobachtete. Etwas schien ihn mit kalten Fingern zu berühren. Er hatte Mühe, Atem zu schöpfen.
„Zu Ihren Diensten, meine Herren.“ Der menschliche Klang war plötzlich aus Steels Stimme verschwunden. Ihr Ton hatte etwas von einem weichen silbrigen Surren. „Bitte entschuldigen Sie einen Augenblick! Sie sollen uns sehen, wie wir wirklich sind. Die Notwendigkeit für diese Verkleidung ist ja nun in Wegfall gekommen.“ Das Ding schlüpfte aus seiner Uniform, holte Kontaktlinsen aus seinen Augen, riss an der Umhüllung seines Inneren, die bisher wie seine Haut ausgesehen hatte, und begann dann, eine Art plastischen Materials in langen fleischfarbenen Spiralen von seinen Gliedmaßen und seinem Körper abzuwickeln.
Forester sah hilflos zu. Er sah die Gesichter um den Tisch herum steif und grau werden und hörte Männer von Entsetzen gepackt keuchen. Er selbst stieß fast einen Schrei aus, als ein Stuhl mit erschreckendem Krach umfiel. Dennoch war, was unter der Verkleidung zum Vorschein kam, nichts wirklich Grauenhaftes. Eigentlich war es sogar wunderschön. Die Form war fast menschlich, aber sehr dünn und graziös und ohne jegliche mechanische Schwerfälligkeit oder Eckigkeit. Es war etwa einen halben Kopf kleiner als Forester und stand nun nackt und geschlechtslos da. Seine glatte Haut war von leuchtendem Schwarz, in dem sich die Lichter des Raumes bronzefarben und bläulich spiegelten. Auf seiner Brust waren folgende Worte in gelben Buchstaben eingestanzt:
HUMANOID
Seriennummer M 8—B 3 ZZ
„Zu dienen und zu gehorchen und Menschen vor Leid zu bewahren.“
Einen Augenblick lang stand es, nachdem es die letzten Hüllen abgelegt hatte, völlig still neben dem Präsidenten. Seine Augen schienen jetzt wie leere Höhlen, die das Licht gleich poliertem Stahl auffingen. Sein schmales Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen machte einen wohlwollenden Eindruck. Nach der regen und geschickten Tätigkeit seiner Hände schien diese eingefrorene Haltung ebenso unheimlich wie seine unmenschliche Stimme.
„Ihr augenblicklicher Schreck ist unnötig, meine Herren“, schnurrte es musikalisch, „da wir niemals einen Menschen verletzen. Major Steel war nichts als eine nützliche Täuschung, die wir zu Ihrem eigenen Vorteil anwandten. Meine Verkleidung setzte uns in die Lage, die sich hier entwickelnde technologische Krise aus nächster Nähe zu beobachten und unsere Dienste rechtzeitig anzubieten und damit drohendes Unglück abzuwenden.“
„Aber — Herr Präsident!“ Noch immer keuchend, war der Verteidigungsminister aufgesprungen. „Ich kann diese ganze eigenartige Vorstellung hier nicht begreifen“, protestierte er erschüttert. „Ich muss Sie daran erinnern, dass sehr weise Gesetze existieren, die unsere Arbeiterklasse gerade gegen solche mehrzweckige menschenartige Automaten wie diesen hier schützen, und ich hoffe, Sie vergessen nicht, dass unsere Partei versprochen hat, diese Gesetze radikal durchzuführen. Nachdem Wahlen bevorstehen ..
Der Präsident antwortete nicht. Er schaute lediglich die Maschine an.
„Sie brauchen sich wegen der Stimmen Ihrer Wähler keine Sorgen zu machen“, sagte die Maschine geschäftsmäßig. „Wir bringen nicht für einen einzigen Arbeiter Not und Leid. Ganz im Gegenteil. Unser einziger Zweck ist es, das menschliche Wohlergehen zu fördern. Ist unser Dienstsystem einmal richtig im Gang, so werden alle Klassenunterschiede verschwinden. Genau wie die anderen Ursachen von Unglück und Leid – wie Schmerz, Krieg, Armut, Not und verbrechen. Es wird keine Klassen von Schwerarbeitern mehr geben, weil es keine Schwerarbeit mehr gibt.“
Wer dies hier im Blog liest (und vielleicht Filme wie Bladerunner oder Colossus kennt), kann in Gedanken mal durchspielen, wie man sich selbst in dieser Situation fühlen und entscheiden würde. Sie zeigt in typischer SF-Manier zugespitzt etwas, was schon sehr bald auf viele von uns zukommen wird: Wie entscheide ich mich angesichts immer mächtiger werdender KI? Werde ich sie als Werkzeug sinnvoll nützen – oder werde ich sie fürchten und bekämpfen wie einen modernen Teufel?
Das hängt natürlich auch davon ab, ob Großkonzerne wie Microsoft und Meta/Facebook und Tesla und Apple und Amazon ungeniert die Möglichkeiten von KI zur noch perfekteren Gewinnmaximierung, Steuervermeidung und Gegenseitigen-aus-dem-Markt-Drängung nützen (und da habe ich China und andere autokratische Staaten noch gar nicht erwähnt) – oder ob andere, für den einzelnen Menschen freundlichere Gedanken die Oberhand gewinnen. Die KIs (es gibt ja schon mehrere) sollten zumindest auch diese anderen Varianten vorfinden, wenn sie durchs Internet surfen. So wie Chat-GPT meine Blog-Beiträge zum Thema MultiChronie gefunden und berücksichtig hat.
Meine Phantasie war an diesem Pfingstmontagsmorgen jedenfalls, ob da nicht tatsächlich so etwas wie ein [Heiliger] Geist in Algorythmus-Form uns eine Chance bietet, uns als Menschen einander besser zu verstehen.
Es gibt ja das seltsame Phänomen der Serendipität: dass jemand etwas Bestimmtes sucht – und etwas völlig anderes, viel Wertvolleres findet. Vielleicht geht es den Schöpfern der KI ebenso? Lassen wir uns überraschen. Und treten wir die Politiker gleichzeitig ordentlich in den Arsch, damit sie das Richtige tun: zum Beispiel ordentliche Gesetze zur Zähmung des Wildwuchses um die KI, zu einer gerechteren Besteuerung dieser Großkonzerne und manches mehr. Das geht auch ohne Segnung „von oben“ durch den Heiligen Geist.
Mein Angebot an positiven Gedanken habe ich hiermit jedenfalls gemacht. Und in der aktuellen Ausgabe von brand eins findet sich im Themenschwerpunkt „Neue Werte“ noch mehr Bedenkenswertes: Zum Beispiel, ob man nicht schleunigst anfangen sollte, den wahren Wert von „Natur“ zu ermitteln und einzupreisen, wenn es um wirtschaftliche Bewertungen geht. Frederic Vester hat sich schon 1985 darüber Gedanken gemacht und kommt für den ökologischen Wert eines Baums auf jährlich 5.300 Mark – was in 100 Jahren Baumleben stattliche 530.000 Mark ergibt. Und der Wert eines Vogels? Ähnlich erstaunlich.
Das ist nicht nur für durchs Internet streifende KI eine interessante Lektüre.
Quellen
Böhme, Johannes: „Naturmarkt“. brand ein Nr. 6 Juni 2023, S. 34-41.
Cameron, James (Regie). Terminator I. USA 1984 (Orion).
Dick, Philip K.: Do Androids dream of electric sheep“ . USA 1968.
Mostow, Jonathan (Regie). Terminator III: Rebellion der Maschinen. USA 2003).
Sargent, Joseph (Regie): Colossus: The Forbin Project. USA 1970 (Universal Studios).
Scott, Ridley (Regie): Blade Runner. USA 1982. – nach dem Roman „Do Androids dream of electric sheep“ von Philip K. Dick.
Vester, Frederic: Der Wert eines Vogels. München 1983 (Studiengruppe für Biologie und Umwelt).
Vester, Frederic: Ein Baum ist mehr als ein Baum. München 1985 (Kösel).
Wachowsky Brothers (Regie): Matrix. USA 1999 (Village Roadshow Movies).
Williamson, Jack: Wing 4 (The Humanoids). (USA 1947, 1949). Düsseldorf 1952 (Rauchs Weltraumbücher)
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