Ötzi: Das Zufalls-Wunder aus der Steinzeit

Seit man diese Mumie im September 1991 hoch oben in den Alpen fand, also seit nunmehr 32 Jahren, wird sie von geschätzten 70 wissenschaftlichen Institutionen systematisch erforscht. Es dürfte kein Ereignis und keine menschliche Gestalt geben, die jemals so intensiv untersucht worden ist, in weltweiter Zusammenarbeit. Und immer wieder tauchen neue und wirklich sensationelle Ergebnisse auf, weil die Wissenschaft Fortschritte macht. So hat man aktuell mit besseren Analysegeräten erneut die DNS des Leichnams analysiert und festgestellt, das die braune Farbe der Mumie (die man bisher für eine nachträgliche Verfärbung durch den langen Prozess der Mumifizierung hielt) in Wirklichkeit wohl seine Originalfarbe war. Und dass dieser Mann nicht aus dem Süden (Mittelmeerraum) kam, wie bisher vermutet, sondern aus dem Osten (Anatolien?).
Die Karikaturistin Teresa Habild hat mir erlaubt, ihre diesbezügliche Karikatur, in der sie u.a. die aktuelle Fremdenfeindlichkeit politisch rechter Kreise aufs Korn nimmt, hier im Blog zu übernehmen:

Abb.: 1: Karikatur von Teresa Habild (Südd. Zeitung vom 18. Aug 2023).

Dieser Beitrag ist eine passende Gelegenheit, wieder mal darauf hinzuweisen, dass eine wesentliche Funktion dieses Blog ist, anhand aktueller Ereignisse Elemente meiner eigenen Autobiographie dingfest zu machen → Grabstein zu Lebzeiten .

Beim „Ötzi“ fließt vieles zusammen und macht ihn zu einem Parade-Beispiel für MultiChronie. Vor allem gibt es viele Bezüge zu meiner eigenen Lebensgeschichte mit vielen „mein“:
° Mein Beruf als Journalist (Berichte für den Bayrischen Rundfunk etc. ).
° Mein Beruf als Seminarleiter (Schreib-Werkstatt im Kloster Marienberg).
° Mein lebenslanges Interesse an Geschichte.
° Mein Interesse an Naturwissenschaften.
° Mein Faible für Science-Fiction (die Mumie inspirierte mich sogar zu einem Roman, der allerdings nie das Stadium eines ausführlichen Exposees verlassen hat – aus Respekt vor dem unbekannten Toten.
° Meine Liebe zu den Bergen und zum Bergwandern.  
° Mein Faible für Zufälle.

Der Mann vom Similaun-Gletscher

Doch nun zum Ötzi oder wie ich ihn lieber nach seinem Fundort nenne: Der Mann vom Similaun. Similaun („weiße Lawine“) meint den Berg und Gletscher im Grenzgebiet von Österreich und Italien/Südtirol. Dort oben befindet sich das Hauslabjoch (auch Tisenjoch genannt), wo im September 1991 ein Hausmeister-Ehepaar aus Nürnberg, warum auch immer, einige Schritt vom Wanderweg abwich und dort in einer Mulde einen mumifizierten Toten fand. Das Foto (unten) hat ein mir unbekannter Wanderer mit Polaroid angefertigt und mir geschenkt (man entschuldige die schlechte Qualität – aber so ist das mit manchen Zeitdokumenten). Es zeigt ganz links einen (ebenfalls unbekannten) Wanderer, der die Leiche in ihrer letzten Stellung pietätlos nachäfft, daneben zwei weitere Unbekannte – dann Andreas Waldner aus Mals/Südtirol, der im September 1992 mit mir zur Fundstelle hochstieg, und ganz rechts am Bildrand mich selbst.

Abb. 2 Die Fundstelle am Hauslabjoch: Von links nach rechts: unbekannter Wanderer posiert als Mumie, zwei weitere unbekannte Wanderer, Andreas Waldner (Mals) und der Blogger JvS (Foto: Sep 1992, Fotograf unbekannt).

Seltsame Zufälle zuhauf

Wie kann man es erklären,
° dass just in den kritischen Tagen, in denen der Wetterumschwung ins Warme (und damit in weiteres Abtauen des schützenden Schneeschicht) und hungrige Aasfresser diesen uralten Körper unwiederbringlich zerstört hätten
° der weltberühmte Bergsteiger und mediengewandte Schriftsteller Reinhold Messner mit einem Begleiter in der Hauslabhütte nahe dem Fundort einkehrte und vom Hüttenwirt von diesem rätselhaften Leichenfund erfuhr?
Messner schaute sich die Mumie sofort an, schätzte ihr Alter auf „mindestens 800 Jahre“ (also keiner der in dieser Gegend nicht seltenen toten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg) und mobilisierte ein Bergungsteam. Der Rest ist – buchstäblich „Geschichte“ – und zwar sensationelle Weltgeschichte mit vielen ZeitSchichten.

Es kamen noch eine Reihe weiterer „glücklicher“, also hilfreicher Zufälle ins Spiel, die ich in zwei Beiträgen in der Zeitschrift Esotera zusammengetragen habe. In einer Halbstunden-Sendung für den Bayrischen Rundfunk stellte ich den Fund und wie es mit dem „Krimi aus der Steinzeit“ um den „Gletschermann weiterging, ausführlich vor (BR 29. Sep 1992). Darin werden auch zwei kurze Interviews zugespielt, die ich in München mit Reinhold Messner und in Innsbruck mit dem zunächst für die Sicherung und Untersuchung des Fundes maßgeblichen Wissenschaftler Prof. Konrad Spindler (Innsbruck) geführt habe.

Zu diesen offiziell dokumentierten Zufällen kamen noch weitere hinzu, die ich in Zusammenhang mit der „Ötzi“-Geschichte selbst erlebt habe – und die man mir einfach glauben muss:
Zufall 1
betrifft meinen Besuch bei der Fundstelle oben am Similaun, den ich dem passionierten Südtiroler Bergsteiger und Literatur/Schreib-Fan Andreas Waldner zu verdanken habe, damals Leiter der Raiffeisen-Filiale in Mals im Vinschgau. Dort befindet sich das berühmte Benediktinerkloster Marienberg, in dem Andreas (s. Abb. 2) im September 1992 eine Schreib-Werkstatt unter meiner Leitung organisiert hatte. Gegen Ende des Kurses erwähnte ich mal so nebenbei, dass ich so fasziniert sei von der im Jahr davor entdeckten Gletschermumie des „Frozen Fritz“ (wie die Amerikaner ihn respektlos nennen).
Darauf meinte Andreas: „Magst mit mir zur Fundstelle hochsteigen?“ Zusammen mit einem anderen Kursteilnehmer habe er eine kleine Ausstellung zum „Ötzi“ im Schnalstal organisiert und die Fundstelle sei ihm wohlbekannt.
Wer kann bei so einem Angebot „Nein“ sagen? Und so führte mich dieser Zufall tatsächlich nach dem Ende des Kurses hoch zur Fundstelle (s. oben Abb. 2).
Zufall 2
Rein zufällig war Andreas als Südtiroler Bergfex mit Reinhold Messner bestens bekannt, und so fuhr er mit mir nach unserem Aufstieg früh am Morgen zur Fundstelle noch am selben Nachmittag zur nicht weit entfernten Burg Juval, wo Messner ein kleines Museum eingerichtet hat und auch lebt. Messner konnte uns nur kurz begrüßen, weil er Besuch von einer Bergführergruppe hatte – aber durch Andreas´ Vermittlung kam ich einige Tage später in München zu einem Interview-Termin, weil Messner (rein zufällig natürlich) sein damals gerade erscheinendes neues Buch Rund um Südtirol im Piper-Verlag vorstellte, so dass ich das Interview in mein eigentlich schon fertiges BR-Feature einbauen konnte.

Nicht ganz so zufällig war das Interview, das ich damals in Innsbruck mit Prof. Konrad Spindler führen konnte, der in einem internationalen Verbund von (damals schon an die 60!) renommierten Instituten überall in der Welt die Mumie mit den modernsten Methoden untersuchte – in einem eigens dafür eingerichteten (gekühlten) Labor. Bald danach wurde sie auf Betreiben der italienischen (für Südtirol zuständigen) Regierung nach Bozen überführt wurde (weil man inzwischen die Fundstelle genauer im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich lokalisieren konnte und sie Italien zusprach).
Der weitere Zufall war dabei, dass der viel gefragte Prof. Spindler überhaupt einen Interview-Termin mit dem Journalisten aus München freischaufelte, sodass ich auch ihn als den Ötzi-Experten mit in die BR-Sendung einbeziehen konnte. So etwas macht man natürlich nicht per Telefon – da fährt man nach Innsbruck, denn nur durch mein persönliches Erscheinen dort in der Universität war es mir möglich, die Mumie selbst in Augenschein zu nehmen – angesichts ihrer Geschichte und dem, was man damals, September 1992, allmählich zu erahnen begann, ein wirklich sensationelles Erlebnis für mich. Das ich nur dem Bayrischen Rundfunk (als Auftraggeber der Sendung) zu verdanken habe, denn damals (wie auch heute noch) wollte alle Welt diese Mumie in Augenschein nehmen – die man aber nur in größeren Zeitabständen und auch dann nur jeweils für wenige Minuten in ihrem „Schneewittchen-Sarg“ vorführte.
Spindler hat damals in einem großartigen Sachbuch die verfügbaren Erkenntnisse über den Mann im Eis, zusammengetragen, die ich heute noch einigermaßen korrekt sind – wenn auch inzwischen interessante neue Details hinzukamen (was ja der Anlass für die obige Karikatur war). Ein Buch, das ich – Zufall wiederum – druckfrisch noch vor dem offiziellen Erscheinen vom Bertelsmann-Verlag bekam (Abb. 3).

Das hat schon was: Auge in Auge mit dem Original dieses geheimnisvollen Menschen zu sein – und nicht nur mit einer – wenngleich einigermaßen lebensechten – Nachahmung, wie man sie bald darauf in München in der Kaufingerstraße im Jagdmuseum bestaunen durfte (s. auch oben die Karikatur) – oder in der sehr glaubwürdig inszenierten Doku-Fiction Der Mann aus dem Eis mit Jürgen Vogel als sehr überzeugendem Steinzeitmenschen (s. Abb. 4.)

Abb. 3: Die erste renommierte Publikation über die Mumie (es gab auch andere) – Abb. 4: Der sehr glaubwürdige, realistische Film über die möglichen Umstände von der Ermordung des Similaun-Mannes (Bertelsmann Verlag – Elite Film AG).

Parade-Beispiel für MultiChronie

Ich habe mich ja schon seit vielen Jahren und mit vielen interessanten Beispielen mit dem Phänomen der „Viel-Zeitigkeit“ befasst – hier im Blog speziell in der SEITE MultiChronie und u.a. im Glossar MultiChronie. Aber ich kenne kein besseres Beispiel für MultiChronie als die vielen Facetten der Gestalt des „Ötzi“ (den ich viel lieber als „Similaun-Mann“ bezeichne, weil das nicht so despektierlich daherkommt).

° Da ist zum einen der wirklich weltgeschichtliche Aspekt eines in seinen Details (wie genaue Herkunft und soziale Stellung) völlig unbekannten Mann mittleren Alters – der durch die Umstände des Fundes und ihrer Erforschung heute so bekannt und berühmt ist wie der ägyptische Pharao Echnaton, der deutsche Kaiser Karl der Große oder Königin Kleopatra vom Nil: der „bekannte Unbekannte schlechthin“, könnte man zugespitzt formulieren. Ein Mann, bewaffnet mit Pfeil und Bogen und einem Kupferbeil, den man hinterrücks mit einem Pfeilschuss getötet hat – hoch oben im Gebirge. Vor etwa 5.300 Jahren.
° Da sind die bizarren, zufälligen Umstände des Fundes – gerade noch rechtzeitig, in der Gegenwart von 1992.
° Da ist die weit in die Zukunft weisende Erforschung dieser Mumie mit den modernsten Techniken wie DNS-Analyse und Scans mittels Computer-Tomographie und das alles in internationaler Zusammenarbeit.

Nachdem MultiChronie, so wie ich sie verstehe, immer auch mit der Frage verbunden ist: „Was hat das mit mir zu tun?“ (also mit dem Menschen, der sich mit einem solchen Thema wie dem „Ötzi“ befasst), kann ich da eine Fülle von Bezügen zu mir selbst herstellen.

„MultiChronie pur“ also – dieser rätselhafte „Mann aus dem Eis“. Und mit dem Umständen seines Tod außerdem ein perfekter Krimi (dessen „Täter“ man nie vor Gericht stellen wird – wie den biblischen Bruder-Mörder Kain). Und ein „gefundenes Fressen“ (pardon – aber dieser Kalauer musste sein) für unzählige Wissenschaftler, die sich in Artikeln und Filmen und Dissertationen und Habilitationsschriften noch in Generationen nach uns mit diesem Steinzeit-Gesellen befassen werden.
Allein in meinem eigenen Leben reicht diese Forschungs-Geschichte schon weit über eine Generation (25 bis 30 Jahre) hinaus: Von 1991 (als ich die ersten Zeitungsmeldungen las und die ersten – zum Teil hirnrissig blöden – TV-Dokumentationen sah und man tatsächlich Bücher wie die einer bescheuerten Frau präsentiert bekam, die sich als Reinkarnation des Ötzi ausgab und publikumswirksam verkaufte) bis in die Gegenwart von 2023 (hier wieder mein Hinweis auf die köstliche und politisch so aktuelle Karikatur oben).

Mein Fazit?
Mir wäre es eigentlich am liebsten, man hätte diese Mumie pietätvoll begraben oder verbrannt – so wie wir es uns für uns selbst wünschen – und würde sie nicht im Museum in Bozen zur Schau stellen.
Aber es gibt eben auch die faszinierende andere Seite der großartigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit und Erforschung dieses Unbekannten, der mit seinem toten Körper etwa 5.300 Jahre überbrückt – mehr Jahre als die Mumie irgendeines ägyptischer Herrscher in seinem Pyramiden-Sarg. Und der uns mehr über diese ferne frühe Epoche der Menschheit „erzählt“ also sonst jemand – einfach weil er da oben tot im Eis lag und wie „Schneewittchen im Sarg“ dort überdauerte (oder wie vielleicht irgendwann in ferner Zukunft die Passagiere künftiger Raumschiffe in ihren Kälteschlafkammern).

Nur zum Vergleich: Die ältesten erhaltenen Mumien der Welt sind etwa 7000 Jahre alt und stammen von der Chinchorro-Kultur im heutigen Chile. Die Ägypter begannen vor rund 5000 Jahren damit, die Körper von hochrangigen Verstorbenen zu konservieren, um sie für ein Leben nach dem Tod zu erhalten.

Und dann sollte man auch noch eines bedenken: Diese aus dem Gletscher ausgeaperte Mumie ist das für alle Zeiten wohl auch ein unübersehbarer Beleg für den menschengemachten Klimawandel und das Anthropozän.

Quellen
Habild, Teresa (Karikatur): In: Südd. Zeitung vom 18. Aug 2023, S. 3.
Messner, Reinhold (Konrad (Interview: Jürgen vom Scheidt): Einspielung in „Der Mann im Eis“. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 26. Sep 1992.
Randau, Felix (Regie): Der Mann aus dem Eis.
Scheidt, Jürgen vom: (Projekt eines SF-Romans über den Similaun-Mann – nie realisiert). 13. Juli 1992.
Ders.: Der Gletschermann – ein Krimi aus der Eiszeit. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 28. Sep 1992.
Ders.: „Mehr als ein Zufall“. In: Esotera Sep 1992.
Ders.: „Eine besondere Hieroglyphe im Menschheitstraum“. In: Esotera Okt 1992.
Spindler, Konrad: Der Mann im Eis. München 1993 (Bertelsmann).
Spindler, Konrad (Interview: Jürgen vom Scheidt): Einspielung in „Der Mann im Eis“. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 26. Sep 1992.
Wetzel, Jakob: „Wie Ötzi wirklich aussah“. In: Südd. Zeitung Nr. 188 vom 17. Aug 2023, S. 12 (Feuilleton).

316 _ aut #0676 / 18. Sep 2023/14:55

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