Willi Johanns (1934-2024): „Pennies from Heaven“

Warum publiziere ich diesen Nachruf erst ein halbes Jahr nach dem Tod von Willi Johanns?
Viel anderes hatte sich immer wieder dazwischengeschoben. Dazu die seltsame Überlegung, dass es ihm ja sicher egal sei, wann ich etwas über ihn schreibe. Nur dass ich das unbedingt tun wollte, war mir klar.
Dann starb ein anderer Freund, der ebenfalls eng mit der Welt des Jazz verbunden war. Bei dem es mir sehr leicht gefallen ist, den Nekrolog zu verfassen: Axel Melhardt , Begründer und fünf Jahrzehnte Manager des Jazzland in Wien und Freund aus früheren Science-Fiction-Zeiten. Aber jetzt bin ich bereit, auch meine Erinnerungen an Willi Johanns zu formulieren.

Bild 1: Cover CD „Scattin´“ von und mit Willi Johanns 2012 – Bild 2: Willi Johanns 2017 (Foto: Michael Glaesemer)

Scat singen und das Goethe-Institut grafisch gestalten

Es gibt Freundschaften, die ein Leben lang wachsen und über viele Jahre, ja sogar Jahrzehnte durchgehend Bestand haben. Und es gibt andere Freundschaften und Bekanntschaften, die immer wieder mal durch – oft zufällige – Begegnungen erneuert werden. Von der zweiten Art war meine Freundschaft mit Willi Johanns, der im März im hohen Alter gestorben ist: Er hat seinen 90. Geburtstag noch erlebt.
Er war nach außen hin das, was man salopp als „Münchner Lokalgröße“ bezeichnen könnte, noch enger eingegrenzt sogar als „Schwabinger Original“ – obwohl von diesem Schwabing, dass er viele Jahre mit seinem Scat- Gesang und seiner Präsenz in den Jazz–Kneipen wirklich originell und als Original verkörpert hat, nur wenig übrig geblieben ist.
Das vorletzte Mal, als ich ihm begegnet bin, war mitten in Schwabing in der Hohenzollernstraße. Rein zufällig liefen wir uns über den Weg. Obwohl wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatten, erkannten wir uns sofort. Wir waren ja in unserer Schwabinger Zeit in vielen Kneipen bei Jazz–Musik zusammengehockt.

Sein Scat–Gesang, mit dem er zu später Stunde bei einer Jamsession einstieg, war gewöhnungsbedürftig. Wenn man das nicht kannte, musste man sich erst einhören. Bis man begriff, was er da mit seiner Stimme wie mit einem Blasinstrument alles anstellte. Später habe ich in der indischen Musik genau das gleiche entdeckt: die Verwendung der menschlichen Stimme wie ein Instrument, was in der indischen Tradition seit vielen Generationen gang und gäbe ist. Für den Jazz hat es relativ spät in den 1920er Jahren Louis Armstrong zusammen mit Ella Fitzgerald erneut erfunden und zur eigenen Marke gemacht, bis andere das nachahmten. Willi Johanns war – wie man dem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung entnehmen kann – offenbar der erste, der diese spezielle Variante des Jazz in Deutschland für sich entdeckt und gepflegt hat. Das war für ihn nicht einfach, denn die Jazz–Combos, bei denen er „einsteigen“ wollte (wie man das in Musikerkrisen nennt), haben Ende der 1950-Jahre erst einmal erstaunt bis abweisend reagiert. Das hat sich später geändert, als er zu einer ganz eigenen „Marke“ geworden war und dann sogar Albert Mangelsdorff und dessen Band bei einer Welt-Tournee in viele ausländische Jazz–Lokale und Konzertsäle begleitete.
Einer der Songs, den er ganz konventionell anfing, wurde von seinen Fans bei den Auftritten immer mit großem Vergnügen erwartet: Seine ganz spezielle Variante des amerikanischen Schlagers „Pennies from Heaven“, was er in ein vergnügliches wortspielendes „Penis from Heaven“ verwandelte.
Dazu passte bestens, dass er Sammler von Erotika war und mir mit großem Besitzerstolz originale Drucke und entsprechende frivol illustrierte Bücher aus der Jugendstil-Zeit präsentierte, allen voran Illustrationen des berühmten Aubrey Beardsley.

Ein Flaneur durch die Münchner Antiquariate

Ich studierte Anfang der 1960er Jahre noch, kannte Willi aber schon seit 1958 als direkten Nachbarn im Haus nebenan. Gelegentlich traf ich ihn auf dem Nachhauseweg oder auf dem Weg in die Universität, und wenn das vor einem der vielen damals noch existierenden (und heute leider fast alle verschwundenen) Antiquariate geschah, dann nahm er mich am Arm und sagte: „Komm, ich muss dir etwas zeigen –“.

Das war dann immer eine bibliophile Kostbarkeit, manchmal etwas Erotisches, aber stets von hoher Qualität der Illustrationen. So einem Zufallstreffen, beim Antiquar Renka an der Schelling- Ecke Türkenstraße, verdanke ich eine echte Trouvaille: Eine wunderbare Ausgabe des Märchens von Sindbad der Seefahrer aus der Sammlung Tausendundeine Nacht – illustriert von dem legendären Edmond Dulac. Einband in edlem Schweinsleder, nummerierte Ausgabe auf handgeschöpftem Bütten, die Bilder von Hand eingeklebt.

Ein andermal – es war im Antiquariat Kitzinger oder beim Hauser (beide längst ebenfalls aus der Schellingstraße verschwunden) – hob er ganz begeistert ein altes Buch in Augenhöhe und wies darauf hin, was für eine hochwertige Qualität dieses Papier habe: „Das kann man mit einem Skalpell in zwei Blätter spalten! Und hörst du, was das für einen tollen Klang hat, dieses Papier?“ Dabei wedelt er leicht mit dem aufgeklappten Blatt, und ich konnte tatsächlich einen ganz speziellen Sound vernehmen, der für ihn, den Musiker, wahrscheinlich noch viel ausdrucksstärker war als für mich.

Er war ja nicht nur Musiker, sondern von Berufs wegen Zeichner. Damit verdiente er als Hausgrafiker beim Goethe–Institut sein Geld, (von dem er viel in seine Sammlung antiquarischer Kostbarkeiten und vor allem für Comics und Stiche in die Antiquariate trug).

„Lass uns einen Comic machen.“

Wir waren ab 1958 direkte Hausnachbarn in der Heßstraße in der Maxvorstadt (was für uns, nicht ganz korrekt, ein Teil von Schwabing war), sogar beide im selben fünften Stockwerk, er neben an in der Nummer 8 und ich in der Nummer 6.
Ich weiß nicht mehr, wie das zustande kam – jedenfalls fragte er mich eines Tages, ob ich Lust hätte, mit ihm zusammen einen Comic zu entwickeln, den wir dem Verleger Kauka für seine Jugendzeitschrift Fix und Foxi anbieten könnten. (Mögliche andere Variante: Kauka fragte mich an, ob ich so einen Strip texten könnte, und ich brachte dann Willi ins Boot.) Gesagt, getan. Für mich war diese Art, eine Geschichte zu erzählen, neu (bis dahin hatte ich nur Science-Fiction–Stories verfasst) – aber warum nicht einmal was ganz anderes ausprobieren? Der Rahmen war vorgegeben: Eine utopische Serie mit dem Titel „Mischa im Weltraum“. Ich entwickelte einige Drehbücher, und Willi skizzierte die Tableaus dazu. Diese Exposees brachten wir dann in die feudale Jugendstil-Villa von Kauka draußen vor den Toren Münchens in Geiselgasteig, gleich bei dem bekannten Filmgelände der Bavaria Studios. Meine Geschichten fanden Anklang (zwei oder drei davon wurden tatsächlich realisiert) – aber leider nicht die Bebilderung von Willi, dessen Zeichenstil offenbar nicht zu dem bei Fix und Foxi üblichen Stil passten, für den die jugoslawischen Zeichner im großen Studio sorgten.

Der metallene Traum – ins Bild gesetzt

Aber Willi war kein Kind von Traurigkeit, solche Enttäuschungen gehören zum Leben eines Werbegrafikers und eines Künstlers überhaupt. Kurz darauf ergab sich eine ganz andere Möglichkeit der Zusammenarbeit: Ich hatte eine Novelle geschrieben mit dem Titel „Der metallene Traum“. Sie sollte veröffentlicht werden in dem SF–Fanzine Munich Round Up der Münchner Ortsgruppe des Science-Fiction Club Deutschland (SFCD). Ob er mir dazu ein paar Illustrationen schaffen könne? Ich fand die fünf Bilder, die er in schwarzer Tusche entwickelte, sehr gelungen. Hier sind sie:

Bild 3: Titelbild zu der SF-Novelle „Der metallene Traum“. (Willi Johanns Dez 1963, schwarze Tusche).

In dieser Erzählung, die in München etwa 100 Jahre in der Zukunft nach einem Atomkrieg spielt, wird die Stadt von einer KI gesteuert. Mongolen erkunden Möglichkeiten, in die Stadt einzudringen (Bild 4), die Hauptfigur (stehend) besucht sie in ihrem Lager nahe Starnberg (Bild 5)

Bild 4 und 5: Innenillustrationen zu „Der metallene Traum“ (Willi Johanns Dez 1963, schwarze Tusche)

Am Starnberger See erhängt sich ein Verzweifelter in einem Turm (Bild 6) und bei einem Fest im Nymphenburger Schloss, in dem der Stadtkönig residiert, gerät ein Roboter außer Rand und Band (Bild 7)

Bild 6 und 7: : Illustrationen zu „Der metallene Traum“ (Tuschezeichnungen: Willi Johanns Jan 1964)

„It don´t mean a thing – if it ain´t got that swing.“

Einen seiner letzten Auftritte in der Unterfahrt in München-Haidhausen habe ich leider verpasst – weil ich zeitgleich ein Schreib-Seminar nebenan in der Akademie U5 hinter der Unionsbräu durchführte. Ich hatte im Vorbeigehen zu meiner Veranstaltung das Plakat entdeckte , das Willis Konzert für denselben Abend ankündigte. Da muss ich nach dem Seminar hin, dachte ich sofort. Im abendlichen Trubel am Ende des Schreib-Tages vergaß ich dann leider das Konzert im Jazz-Keller direkt darunter in den Katakomben der Gastwirtschaft, wo der Jazzverein Unterfahrt seine Konzerte durchführt. Schade, habe ich später immer wieder gedacht – ich hätte ihn gerne noch einmal erlebt und gehört…

Als ich Willi das letzte Mal persönlich traf, war der Anlass ein sehr ungewöhnlicher. Ich hatte ihm einen Brief geschickt (weil seine alte Telefonnummer nicht mehr funktionierte) und darin angefragt, ob er mir gestatten würde, seine Illustrationen von 1963/64 in meinem Blog und eventuell auch in einer neuen Ausgabe meines Romans Der geworfene Stein noch einmal zu veröffentlichen. Er schrieb freundlich zurück – keine E-Mail, sondern ein richtiger handgeschriebener Brief – und gab mir die Erlaubnis. Dann hörten wir wieder nichts mehr von einander, bis er mich vor etwa einem Jahr, Mitte 2023, anrief und fragte, ob ich ein paar Besorgungen für ihn machen könnte – er sei gestürzt, habe lange im Krankenhaus gelegen, sei gerade erst aus der Reha zurückgekehrt und hätte Mühe mit dem Gehen: „Kannst du mir einige Lebensmittel und Schreibzeug besorgen?“

Klar, dass ich zu ihm fuhr und ihm das Essen für ein Wochenende besorgte; mit dem Fahrrad waren das fünf Minuten. Wir wohnten ja beide, wenngleich ein paar Straßen weiter, immer noch in Schwabing, er nun wirklich mittendrin. Bei dieser Gelegenheit zeigte er mir begeistert wie eh und eh neue Erwerbungen von Grafiken und Büchern, die auf einem großen Tisch ausgebreitet waren. Die ganze Wohnung war voll von seinen gesammelten Objekten – es kam mir so vor, als sei er selbst in diesem Archiv so etwas wie ein Ausstellungsstück.

Das nächste, was ich dann über ihn erfuhr, war am 24. Februar dieses Jahres 2024 der Nachruf im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung.

„It don´t mean a thing – if it ain´t got that swing“ – dieses berühmte Zitat von Duke Ellington gaben seine Freunde ihm mit der Traueranzeige auf den Weg. Besser kann man Willi Johanns nicht charakterisieren.

Der lebenslustige und fantasievolle Künstler und Genießer hat sich zu Lebzeiten gerne mokiert über jene Atheisten, die auf dem Sterbebett reumütig in den Schoß der Kirche zurückgekriechen und sich vom Priester die letzte Ölung geben lassen, um nicht in der Hölle zu landen. Hat Willi am Ende diesen Weg der Umkehr selbst eingeschlagen? Die Feier in der Kirche (siehe Bild 7) spricht dafür. Vielleicht war das aber auch gar nicht sein eigener Letzter Wille – sondern der von wohlmeinenden Gefährten seiner letzten Stunden?

Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Jeder Mensch ist nicht eindeutig – sondern vielschichtig. Und wenn einer viele „Pennies from Heaven“ verdient hat, dann wohl er, der mit diesem Song so oft das Leben in den Jazzkellern gefeiert hat, und nicht nur dort.

Und hier kann man ihn live kennenlernen oder wieder entdecken: In einem Video-Clip auf YouTube, einem Konzertmitschnitt seiner Ad-Hoc-Band Be Bop City beim Jazz-Festival in Burghausen 1990. Auf dieser Plattform gibt es auch sonst noch einige seiner Auftritte als Video-Clips (s. unten).

Bild 7: Trauerfeier für Willi Johanns im Ostfriedhof am 08. März 2024 (Foto: Stefan vom Scheidt)

Quellen
Hochkeppel, Oliver: „Freiheit ohne Worte“ (Nachruf). In: Südd. Zeitung Nr. 46 vom 24. Feb 2024, S. R02.
Johanns, Willi (vocal): Be Bop City – 1990 beim Jazz-Festival in Burghausen (ARD alpha TV). Mit etwas Glück findet man diese Aufzeichnung auf YouTube oder in der Mediathek von ARD alpha.
ders.: & Ulf Kleiner Trio: https://www.youtube.com/watch?v=K4g07jeWggc
ders. mit Ulf Kleiner Trio: „Satin Doll“- live @ Atrane Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=-IBvArTe6Bs 
ders. and Jimmy Wormworth Band: Scattin‘:  https://www.youtube.com/watch?v=1-wi7KtkOSg
ders.: Scattin‘: https://www.youtube.com/watch?v=O6dB_1Y7lEg
Scheidt, Jürgen vom: Der metallene Traum. In: Munich Round Up Nr. 62/63. München 1963/64 (Titelgrafik und Illustrationen: Willi Johanns). Diese Novelle wurde 1975 zur Episode in meinem SF-Roman Der geworfene Stein. Percha 1975 (R.S. Schulz).
Ders.: Nachruf „Jazz oder Science-Fiction? In memoriam Axel Melhardt (1943-2024) am 05. Juli 2024: https://hyperwriting.de/2024/07/05/jazz-oder-science-fiction-in-memoriam-axel-melhardt-1943-2024/

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Johanns

320 _ #2270_ Aktualisierung: 2024-09-27 (01. Sep 2024 _ 17:35)

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