Begegnung mit Urgroßmutter Anna Naumann

(In einem vorangehenden Beitrag haben wir meinen Urgroßvater Ferdinand Naumann ein wenig kennengelernt. Er schrieb viel Tagebuch – von diesen Notaten sind drei erhalten und in meinem Besitz, geerbt von meinem Vater, der sie wiederum (direkt?) von seinem Großvater Ferdinand bekommen hat. Die beiden anderen der insgesamt fünf Konvolute sind leider in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Notzeit danach verschwunden.)
Von diesem Mann wissen wir also recht viel. Aber was wissen wir von der Frau an seiner Seite, der Mutter einer vier Kinder: Anna Naumann, geb. Duhm?
)

Dieses liebevolle Lächeln – über den Abgrund der Zeit: Anna Naumann, geb. Duhm (21. Nov 1844 bis 28. Jan 1929)

Von den Frauen früherer Generationen weiß man in der Regel gar nichts. Da sind vielleicht einige Anekdoten, die in der Familie überliefert werden. Aber sonst? Nichts!

Der Glücksfall mit Anna Naumann ist, dass sie einen Brief geschrieben hat, der erhalten geblieben ist: im Tagebuch 1986/87 ihres Mannes – und dort offenbar von eigener Hand eingetragen (nachträglich vom Original abgeschrieben?) – denn diese Schrift im Tagebuch (rechts) unterscheidet sich deutlich von der ihres Mannes Ferdinand (links):

Ferdinand Naumann (links) und seine Frau Anna (geb. Duhm) vereint im selben Tagebuch (Archiv JvS)

Meine Cousine Ursula Wenzke, welche die alte deutsche Schrift noch lesen kann, hat sich der wirklich großen Mühe unterzogen, diesen Band der Tagebücher abzuschreiben und in digitale Form zu überführen. Dadurch ist es möglich, hier diesen ausführlichen Brief der Anna vom 05. Januar 1887 hier zu veröffentlichen – und sie auf diese Weise in unglaublicher Nähe über den Abgrund von 134 Jahren (!) fast persönlich kennenzulernen. Hier zeigt sich eine schreibbegabte Frau in einer Direktheit, die überwältigend ist. Und zugleich erfahren wir, in einem Satz gleich zu Beginn, dass dem Ferdinand sehr wohl bewusst war, wie begabt seine Frau war:

Brief der Anna Naumann, geb. Duhm

(Rechtschreibung und „Fehler“ wurden nicht korrigiert, sondern wie im handschriftlichen Original – die Orthographie vor im 19. Jahrhundert noch sehr „eigen“ – JvS.)

Gotha, den 5.1.87
Früher wurde öfter von meinem Ferdinand gebeten doch auch etwas in seinem Tagebuch zu schreiben, was auch einmal geschehen und zwar am 7en Februar d. J., wo wir gerade 15 Jahre verheiratet waren, heute bin ich zwar nicht aufgefordert zum Schreiben, doch denke ich, es auch mal ohne dem wagen zu dürfen, um 2 kummervolle Tage zu schildern, welche darin unvergeßlich bleiben werden. – Gestern früh den 4en Januar sagte mein Ferdinand, als er eben aufgestanden, er wolte um das Pferd Bewegung zu verschaffen nach Waltershausen fahren und bei der Gelegenheit die vierteljährliche fällige Pacht bezahlen, Albert könnte mitfahren und so ging es gegen 11 Uhr auch fort, ich dachte gegen Abend können beide wieder hier sein. Um 5 Uhr besuchte uns der Fleischer Blum aus Kabarz mit noch einem Fremden hielten sich vielleicht eine Stunde auf, wolten noch einkaufen u. dann mit der Bahn bis Waltershausen fahren, auf ihre Frage wann denn mein Mann wiederkäme – sie hätten ihn in Waltershausen gesehen sagte ich, jeden Augenblick muß er kommen, beide gingen, es wurde 8 Uhr, Papa kam immer noch nicht, ach denke ich, vielleicht sind sie auf Alberts Wunsch nach Kabarz gefahren, weil es übermorgen Donnerstag nach dem Inselsberg gehen soll, da wird Papa gleich wegen einen kleinen Schlitten mit raufnehmen, um etwas Sachen mit runter zu nehmen, nachfragen, und kann es 10 Uhr werden, alle Augenblicke sah ich aus dem Fenster. Um 11 Uhr wurde ich ernstlich besorgt, Marie die sehr Theilnehmend ist, ebenfals, ich bat sie doch zum Geschirrhalter Backhaus zu gehen ob Papa vielleicht gesagt, er käme wohl spät wieder, aber nein, der wartet auch noch auf´s kommen, ich sah wieder und immer wieder zum Fenster hinaus, es kam immer nichts, doch ½ 12 Uhr da, Marie! jetzt kommen sie, ich höre in der Ferne leises Schlittengeläute, flink wird noch mal nachgesehen, ob heißes Wasser da wäre, um noch ein Gläschen Punsch oder ein Täschen Kaffe zu bereiten, denn es war sehr kalt, ich horche wieder aus dem Fenster und war bitter getäuscht. Das Schellengeläute war verstummt, ich wurde meiner Sorge aufs neue überlassen, bat nun Marie sich ins Bette zu legen, ich könne doch nicht schlafen, wolte aufbleiben. Jetzt war ich allein, was ich in den 2 Stunden wo ich noch auf war (ich mußte vor Kälte um 2 Uhr ins Bette gehen, wußte vor Zittern nicht mehr zu bleiben) empfand, den kann ich nicht beschreiben, konnte kein Unglück passiert sein; wo doch vor 4 Wochen Papa mir nach dem Krankenhause hin schrieb, er hätte beim nach dem Inselsberg fahren vor Langenhain den Tod nehmen können mit samt dem Pferd, der Wagen wäre an mehreren Stellen gebrochen.
Konnte nun nicht auch der Schlitten gebrochen, glücklich umgeworfen u.s.w. sein, oder hatte vielleicht Jemand gesehen Papa hatte Geld bei sich nachgeschlichen oder vorweg gegangen sein wie es doch schon sehr häufig vorgekommen und – & – schrecklicher Gedanke ihm nach dem Leben getrachtet sein & ich durch lief das Zimmer, ich riß das Fenster auf und horchte wieder, aber alles war vergebens, mein Ferdinand kam nicht, lag er vielleicht nicht schon hilflos in einsamer kalter Nacht im Schnee irgendwo, vielleicht den Fuß gebrochen u. mußte erfrieren? genug, meine Qual war schrecklich, ich weinte, ich flehte den lieben Gott ihm beizustehen, fals er Unglück gehabt, und ihn mir lebend wieder zu geben, ebenso auch den Albert, (doch an den dachte ich weniger, denn den ließ man wohl laufen fals Mensch ein Unglück angerichtet, so dachte ich wohl) was ich da alles gedacht ich weiß es nicht mehr; denn mein Kopf fieberte und mein Körper zitterte, ich konnte mich nicht mehr aufrecht erhalten, war eine Gebrochene an Leib und Geist, begab mich ins Bette und dachte, o, was wird der morgende Tag bringen, wirst Du morgen früh ein Lebenszeichen von Deinem Ferdinand erhalten oder wie wirst Du ihn überhaubt wiedersehen (hätte ich eben noch depeschieren können, was war 1,50 gegen solche Seelenschmerzen wird wohl nicht öfter so viel in einer Stunde unnütz ausgeben wo es sehr gut gespart werden könnte:) war dann vor Mattigkeit eingeschlafen, aber nicht lange, hatte wohl schlecht geträumt, denn ich fuhr so heftig zusammen und mein Schlaf war dahin, und meine Sorge begann von neuem. So habe ich dann noch mehre[re] Stunden wachend im Bette gelegen, bin aber, trotz Elschen u. Nanny bei mir schliefen, nicht warm geworden.

Nun steckte ich mir ein Ziel, wenn um 10 Uhr nichts erfahren hätte, wollte ich depeschieren, aber wohin? Nach Waltershausen? Nein, da ist Papa nicht, nach Cabarz? Ja, Künzel muß fragen, ob er dort war, am Inselsberg dachte ich nicht, weil am Donnerstag Meta raufsollte, da wurde sicher Papa nicht raufgehen, solte er´s aber doch gethan und gleich Laura mit runterbringen? Das war wieder fatal, denn Metas Mutter war hier und sagte, ihre Tochter könnte nicht auf den Inselsberg, hätte es im Hals und bei Herrn allein ohne Frau das wäre nichts und so ging es noch weiter, (deßhalb depeschirte an Künzel was es so sein könne). „Ist mein Mann dort? große Sorge. Meta kömmt nicht. Laura oben bleiben“). war nun vielleicht Laura unterwegs konnte sie wieder ausgehen, daß es nicht so war, konnte ich nicht wissen, aber wie groß war die Freude als ich unter bangen Hoffen die Depesche aufmachte und las „Ich komme, war oben.“ Ich sah, mein Ferdinand lebte, er kam, was war da los wie wolte ich ihn empfangen, auch wohl einige Vorwürfe wolte ich ihm machen, mich so in Angst gesetzt zu haben, aber wie wolte ich mich doch freuen und freute mich so unendlich auf sein Kommen, aber es wurde mir das Wiedersehen doch sehr getrübt, so sehr verbittert und wodurch?

Ja, ich muß, wenn auch mit blutendem Herzen gestehen durch meinen lieben Ferdinand, mit den Worten (als ich eben im Begriff war ihn so herzlich zu begrüßen) „Du willst sonst so sparsam sein, giiebst so viel Geld aus „für eine unnütze Depesche“ und so ging es noch weiter, was ich nicht mehr gehört, ich konnte nur sagen, ist das der Empfang? hatte es mir anders gedacht, ging aus dem Zimmer und konnte mich lange nicht beruhigen, es schmerzte mich so unendlich, und thut mir noch so weh wo ich dieses schreibe, daß mein Ferdinand doch öfter so sehr kaltherzig ist gegen mich, trotzdem er doch so gut sein kann, hat den armen Patz (Batz) zu Weihnachten 6 M. gegeben, weil er so gebarmt, hat selbst gesagt, hat selbst gesagt, der Tag wo er mit noch 6 Mann nach dem Inselsberg ging, um zu sehen wie es den Beiden oben ging, hätte ihn an 100 M. gekostet, hat, wie er wiederkam noch vor Rührung geweint als er erzählte die Leute hätten gesungen „ Nun danket alle Gott“, weil die beiden lebten und ich bekam so bittere Vorwürfe wegen 1,50, wenn ich um meinen Mann, um mein Alles, was ich nebst meinen Kindern habe auf der Welt, wegen großer Sorge eine unnütze Depesche aufgebe! Das waren 2 Dienstboten, warum 100 M ausgeben, dies war mein Mann & Vater von 7 Kindern und der Ernährer, da konnten 2 Mann, wo schon 55 Personen Weg machten mit rauf, konnten 4 gespart sein, ich habe kein Wort darüber verloren, das ich es hier erwähne sage nur, das ich die heutige bittere Kränkung nach so viel ausgestandener Angst und Sorgen (wo ich doch nicht wissen konnte, daß mein Ferdinand, anstatt nur nach Waltershausen gleich auch nach dem Inselsberg fährt) gewiß nicht verdient hatte wegen 1,50. Hiermit werde ich schließen, Papa ist ausgegangen, da benutze ich die Zeit zum Schreiben, werde gewiß den 4. und 5. Januar 1887 nie vergessen. Anna

aut #806 _ 2021-03-12/21:35

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