°Bin ich schön? (Film)

(Dieser Beitrag setzt im ersten Teil eine Reihe fort, die ich in sechs Folgen in meinem Newsletter IKAros im Jahr 2020 veröffentlicht habe: Filme rund ums Schreiben (F.r.u.S. 7). Man findet sie im Archiv des NL.)

Wenn man Filme als Schreibender anschaut, entdeckt man überraschend viele Streifen, in denen das Schreiben eine zentrale oder zumindest wichtige Rolle spielt. Gestern (09. April 2021) habe ich zufällig den sehr berührenden Episodenfilm Bin ich schön? von Doris Dörrie angeschaut. Auch beim fünften Mal Anschauen überzeugt diese komplexe Geschichte wieder.
Verschiedene Schicksalslinien kreuzen sich in München und in Spanien. Das Schreiben spielt dabei zweimal eine winzige, aber essentielle Rolle in den sich immer wieder kreuzenden Schicksalslinien der 16 Figuren:

° Linda zeigt (betrügerisch) im Auto dem Düngemittelvertreter Werner ein Kärtchen, mit dem sie sich als Taubstumme bezeichnet.

° Für Vera endet die spanische Urlaubsliebe mit Felipe am Flughafen, wo sie sich von ihm absetzen lässt, um zur Hochzeit ihrer Schwester Franziska zu fliegen. Dort erscheint sie mit einer alten Frau im Rollstuhl, die sie kurz vorher von deren Verwandten ausgesetzt auf der Straße findet – und in deren Mantel sie einen Zettel finden, dass ihre Tochter sie aussetzt, weil sie ihr eigenes Leben wieder führen will – und dass sie sich freut, wenn sie gestreichelt wird – was auch – dank Veras Streicheln, ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert.
Würden diese beiden scheinbar so unbedeutenden Schriftstücke fehlen – wäre es ein anderer Film.

Im Film Bin ich schön? von Doris Dörrie kreuzen sich die Schicksalslinien – und zwei kleine Schriftstücke spielen eine wesentliche Rolle (Constantin Film)

MultiChronalia
Das war so nicht geplant. Aber nun, nach diesem Film, öffnen sich die Pforten der Erinnerung. Die Musik von Ahmed Abdul Malik, mittels Bluetooth vom CD-Player direkt in meine Hörgeräte gespielt, lässt die Erinnerungen fließen, sie berühren sich, gewinnen Konturen – ergänzen und erweitern das, was im Film „künstlich“ und künstlerisch überzeugend gestaltet eine ganz eigene Welt erzählt (1998 erstmals im Kino gesehen).

Spanien hat in meinem eigenen Leben zweimal eine wichtige Rolle gespielt, beide Male zentriert um eine Frau: Als ich 1963 meiner Liebe Karin nachreiste und mich auf Ibiza in einem der traurigsten (und frierendsten) Herbstmonate meines Lebens fand. Auf der Nachbarinsel Formentera eine hübsche kleine Hanfpfeife von einem schwarzen Künstler erwarb, in derselben finsteren Nacht wie betrunken (nur ein wenig bekifft) zur Fonda Pepe am Hafen zurückwanderte. In den Sternhimmel staunend, der hier zwischen Europa und Afrika so unglaublich klar und intensiv ist wie jene Kristallkuppel, an welche die Altvorderen glaubten – und mir stolpernd zwischen den dunklen Felsen beinahe alle Knochen brach.
In einem kleinen Café erlebte ich einige Tage später die Ermordung John F. Kennedys im fernen Dallas mit. Im Hafen von Ibiza Stadt aß ich nicht nur, fast jeden Tag, köstliche Hot Dogs mit noch köstlicherem Relish und versank in meiner Traurigkeit – sondern hörte auch zum ersten Mal die unglaublich intensive Longplay Jazz Sahara von Ahmed Abdul Malik – noch heute einer meiner Jazz-Favoriten. So traurig diese Tage auch an der Oberfläche waren – sie haben einen meiner besten Text generiert, der all dies auf drei Seiten in so etwas wie einem Mini-Roman zusammenpresst – mehr Gedicht als Geschichte. Ich habe diesen Text → „Staubfraß“ dann 1975 in meinen Roman → Der geworfene Stein integriert – und nun hier im Blog recycelt.

Die Oud war 1962 im Jazz ein neuer Klang – der wie von Afrika herüber nach Ibiza wehte. 1965 habe ich diese Platte Karin geschenkt, in Amsterdam. Lange habe ich danach gesucht – und sie endlich im November 1997 wieder entdeckt – nun als CD (Riverside Records)

Als Karin mich fast ein Jahrzehnt später (da lebte sie in London) 1971 überraschend zu ihrer Hochzeit nach Ibiza (!) einlud, hätte ich beinahe zugesagt. Wenn meine erste Frau Elke nicht – zu Recht – rasend eifersüchtig reagiert hätte. Dabei war ich seit 1968 in Elke längst ebenso verliebt – und sehr gut in diese Beziehung hineingewachsen, aus der zwei Kinder entstanden. Was hätte da schon mit einer „alten Flamme“ (wie man so altmodisch sagt) passieren können…

Die zweite Erfahrung mit Spanien war wieder ein Jahrzehnt später: 1977. Es war, nach Trennung und Scheidung von Elke und viel einsamer Traurigkeit*, die erste gemeinsame Reise mit meiner zweiten Frau Ruth. Wir flogen nach Barcelona, mieteten uns einen R4 und bummelten durch die Gegend, bis wir in dem winzigen Ort Arnes (bei Orta) eine Terrassenwohnung im Haus des Züricher TZI-Lehrers und Psychotherapeuten Louis Lambelet bezogen. Es wurde ein wunderschöner verliebter Urlaub – bei dem unter anderem mein vierter Roman → Rückkehr zur Erde entstand.

* Das war meine Seite der Geschichte. Dass Elke, nun Ex-Frau, und unsere beiden gemeinsamen Kinder das auf ihre Weise völlig anders erlebt haben – mit nicht weniger Traurigkeit und Verzweiflung – ist mir ebenfalls sehr bewusst. Auch deshalb schreibe ich das auf – um es nicht zu vergessen. Aber man darf das nicht „gegenrechnen“ – man muss die Erfahrungen für sich bestehen lassen.

Elke ist nun schon seit zehn Jahren tot, Ruth seit fünf Jahren – ob Karin noch lebt, weiß ich nicht. Ich weiß nur – und spüre es sehr deutlich – dass man sich mehr als einmal verlieben kann. Und dass mit dem zeitlichen Abstand jede dieser Erfahrung ihren ganz eigenen Charakter annimmt und an wertvoller Intensität gewinnt.

1963 war eines der Schlüsseljahre meines Lebens. So traurig es endete – für meine Kreativität war es ungemein bereichernd. Was ich allerdings erst viel später begriffen habe.

Was so ein Film, zufällig im Fernsehen „erwischt“, alles auslösen kann – wenn man es anschließend in Worte zu fassen versucht.

Quellen
Dörrie, Doris (Regie): Bin ich schön? Deutschland 1998 (Constantin).
Malik, Ahmed Abdul : Jazz Sahara. Longplay New York 1958. CD Berkeley 1993 (Riverside Records).
Scheidt, Jürgen vom: „Staubfraß“. Ibiza Nov 1963.
ders.: Der geworfene Stein. Percha bei München 1975 (R.S. Schulz).
ders.: Rückkehr zur Erde. Pfaffenhofen (Ludwig).


166 _ aut #840 _ 2021-04-10 / 21:44 Uhr



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