Staub fraß ich uns soff Sternenlicht
(Arno Holz)
(Ibiza – November 1963)
Er wurde geboren in der Mitte eines Krieges. Die Unrast der Zerstörung überzog den Planeten. Er lag auf dem Rücken und schrie, um die kleinen Lungen zu stärken, um Lust von seiner Mutter zu gewinnen und Unlust abzuwenden.
Das Erbgut spielte eine große Rolle.
Die ersten Atompilze wuchsen in den Himmel Neumexikos und Japans. Er tobte mit ersten Freunden über den hoch ummauerten Schulhof. Er bekam erste Ohrfeigen, als der Hausmeister ihn beim Wegschütten von Kinderspeisung ertappte, die der weißbemützte Koch mit der kieksenden Kastratenstimme versalzen hatte.
Wie er bemerkte, begann auch die Umgebung ein große Rolle zuspielen.
Später jagten künstliche Monde einander auf weltumspannenden Bahnen.
Bratfischduft war die Erinnerung an die Konfirmation, dazu die vorbeiwirbelnden Sitze eines Kettenkarussells mit kreischenden Mädchen und brüllenden Burschen, im Hintergrund die Pfeifen und Tschinellen der Jahrmarktsorgel. Seine erste Freundin küsste er im Herbstnebel vor einer Bahnschranke. Seine Abiturnoten wurden wohlwollend aufgenommen, an einem föhnigen Maitag begann er ein Studium.
Er bemerkte ein gewisses Talent, konnte es jedoch nicht entwickeln.
(Warum hatte er das von diesem Talent eigentlich in sein Tagebuch geschrieben? Es war ihm unbemerkt aufs Papier gerutscht, aber da es ihm, auch ohne dass er den Sinn verstand, sinnvoll vorkam, ließ er es stehen.)
Eines Tages steuerten Raumsonden die benachbarten Planeten an, erst Venus und Mars, dann Merkur und Jupiter, den mystisch beringten Saturn und endlich die Sonne selbst.
Es war fast schon Winter. Er setzte sich in den fahrplanmäßigen Bus und reiste nach Spanien. Eine Peseta kostete in Barcelona die Fahrt mit der Metro. In einem Restaurant am Hafen aß er paniert ausgebackene Tintenfischringe, Calamares á la Romana. Anlässlich einer Weltausstellung war die Seilbahn gebaut worden, von der man das Gewimmel des Hafens wie ein lebendiges Mosaik tief unten verfließen sah. Drei Minuten nach dem Verlassen der Gondel hielten ihm Zigeunerinnen mit düster verhangenen zahnlückigen Gesichtern ihre bettelnde Kleinkinder entgegen. Er gab die Münzen, die er zufällig bei sich hatte.
Das stimmte ihn kurze Zeit nachdenklich.
Riesenhafte Rechenautomaten übersetzen russische Chemiebücher ins Englische. Aber bei anderen Sachgebieten türmten sich bald so unüberbrückbare Schwierigkeiten auf, dass man die Forschungsobjekte zur Computer-Übersetzung wieder einschlafen ließ.
Eine Viermotorige der staatlichen Fluggesellschaft Iberia brachte ihn nach Ibiza. Beim Anflug war die Insel ein sauber aufgeteiltes Brettspiel mit weißen Klötzchenhäusern und Windmühlen, die sich noch an Don Quichote erinnerten. In den Bodegas saßen müde die Flamenco-Tänzer und die Gitarristen. Doch die Saison war längst vorbei.
Der Kellner im ,Alhambra‘ glich Charlie Chaplin und brachte allmorgendlich Café con leche und leckeres Gebäck aus Blätterteig, mit Puderzucker bestreut und von den Fliegen träge begehrt, und wohl auch dem Kellner schien es zu schmecken, denn seine Schnurrbarthaare waren manchmal weiß bestäubt.
Joe brachte eine Liebesgeschichte zum traurigen, einzig möglichen Abschluss. Zwischen langen Spaziergängen saß er allein am Strand, las Stapledon und Joyce und naturwissenschaftliche Sachbücher über Weltraumfahrt und die Herkunft des Menschen. Wenn er nachts allein auf der Festungsmauer kauerte, hoch über dem kaum erleuchteten Spielzeug, konnte er die Denker des Altertums verstehen. Der Himmel war hier wirklich eine Kuppel aus Kristall. Auf dem fernen Kontinent Amerika wurde der Präsident erschossen, und in den Cafés weinten anderntags die deutschen Touristen mehr als die amerikanischen Hippies. Ein Kurzwellensender trug den Klang der arabischen oud und von Tontrommeln übers Mittelmeer. Trauriger konnte nichts sein.
Er streichelte ihre Haare, ohne Hoffnung. Als sie ihn wortlos stehenließ und ging, stolperte er über ein seltsames Objekt, ein vom Meer ausgewaschene Stück Sandstein, etwa zehn Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit wie hoch. Es sah aus wie ein winziger Altar, auf dem man der blutrünstigen Gottheit Menschenopfer darbrachte.
Psychoanalytiker auf der ganzen Welt drangen mit Lysergsäure in die entferntesten Seelenschichten ihrer Patienten vor.
Er setzte nach Formentera über, einer winzigen Insel, noch zwei Stunden tiefer im Mittelalter. Ein Schwarzamerikaner, Maler und Schriftsteller, wie es hieß, schickte ihn hilfsbereit ins nächste Dorf – da sei einer, der solche Haschischpfeifen schnitze, nur den kleinen Tonkopf müsse er sich aus Marokko besorgen, oder drüben im Hafen vielleicht . Eine Stunde lief er durch eine Nacht ohne Straßenlampen. Hin. Und nachdem er bekommen hatte, was gesucht, wieder zurück. Manche Wolkenmasse schob sich vor die Sterne, die er mit weit in den Nacken gebeugtem Kopf anstarrte, während unten zwei Beine ihren Weg wussten. Fünf Meteore verglühten in dieser Nacht. Einer von ihnen hätte ein Nachrichtensatellit sein können, lang und hell grub sich seine Spur in die Kristallkuppel und versprühte Grün und Blau und Orange.
Er trat einige Schritte von der Straße herunter auf ein Feld, stolperte auf eine der vielen langen Felsplatten, die da herumlagen wie die Grabsteine eines gigantischen muslimischen Friedhofs. Noch immer starrte er in die Milchstraße, ins unglaubliche Feuer des Sirius. Die Luft war warm. Er verlor sich ins Gewimmel der vieltausend Sonnen , erkannte Orion mit seinen Nebelwüsten, das rote Auge der Beteigeuze, Deneb im Schwan, das W der Kassiopeia. Dann spürte er das Rauschen der Luft auf seinem Gesicht, spürte, wie er schneller und schneller aufstieg, wie das Brausen gewaltiger wurde, spürte, wie der Druck in seinen Ohren zunahm, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Unter ihm sendeten Leuchttürme chiffrierte Botschaften aufs Meer. Sein Name hämmerte rhythmisch von innen gegen sein Schädeldach. Er roch den Rauch von Kaminfeuern, den der Aufwind mit sich trug. Das stoßartige Heulen eines Hundes war da. Ihn fröstelte.
Überall war auch die von fahler Brandung umgischtete Insel, der er sich wieder näherte.
Er zeigte den Sternen den Rücken und schrie…
Am anderen Morgen gingen zwei ungewaschene und unrasierte Männer die gleiche Straße. Sie wollte zum Hafen, wollten nach Ibiza übersetzen, um dort ihre Passbilder erneuern zu lassen. Sie fanden den Körper. Dem einen wäre fast übel geworden. Aber sie hatten im Krieg Entsetzlicheres gesehen.
Sie nahmen seine Brieftasche. Dort fanden sie einen Namen: Joseph Schlesinger. Ein beiger Leinenausweis mit vielen Stempeln, an den Rändern schon ausfasernd: Student der Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität. Ein geknicktes Farbfoto mit dem Bild eines etwas verquält lächelnden Mädchens: Schade – Deine C., in kindlich-unsicheren Zügen hinten draufgeschrieben.
Zwei Briefmarken mit dem Kopf des greisen Bundespräsidenten, eine Fahrkarte München-Barcelona und zurück, mehrere Geldscheine in spanischer und deutscher Währung.
Den Hundert-Peseten-Schein nahmen die beiden mit. Dann gingen sie weiter, jeder eingesponnen in das Netz seiner Gedanken.
Sie schrieben nämlich an einem Buch der Welt, wie sie es nannten, schrieben seit einem Jahr ununterbrochen, immer nur nachts, beim leise zischenden Schein einer Petroleumfunzel. Märchen und Novellen, Gedichte, selbsterfundene Mythen, Kurzgeschichten, Romanfragmente und Sinnsprüche, alles für ein Buch der Welt, eine Fortsetzung der Apokalypse des Johannes. Beide beschäftigten sich bald auch mit dem leblosen Körper auf jener Felsplatte, jeder auf seine Weise.
Als der Dampfer ungeduldig tutete, beschleunigten sie ihre Schritte. „Vielleicht ist er aus einem Flugzeug gefallen“, meinte Phil mit dem eisgrauen Vollbart.
„Kann schon sein“, brummte Poul mit dem künstlichen Auge „Oder Rauschgift?“
„Der arme Teufel -“
„Wer weiß – es gibt Schlimmeres -“
Dann waren vor ihnen die ersten Hütten und die Mole, neben der sich das Schiff sachte auf der Dünung wiegte.
Spät am Abend, nach ihrer Rückkehr auf die kleinere Insel, versuchte Poul, eine Geschichte über den Körper zu schreiben. Er hatte auch schon eine ungefähre Vorstellung davon, wo man sie in das große Buch der Welt einfügen könnte. Er schrieb die ganze Nacht hindurch, während Phil sich mit Albträumen auf seinem Lager wälzte. Dann rasierte er sich, auch die Haare auf seinem Kopf. Während auf dem Kocher das Wasser für den Kaffee zu sprudeln begann. Etwas Brot vom Vortag und Butter und Kirschmarmelade hatten sie ja noch.
Staub fraß ich und soff Sternenlicht – wer hatte das einst gesungen?

167 _ aut #591 _ 2021-04-10/22:33