Der Junge mit der Panzerfaust

Ein Krieg ist mit Sieg und Kapitulation noch lange nicht beendet. In Deutschland wird fast jeden Tag irgendwo ein Blindgänger ausgebuddelt und muss dann unter oft gewaltigen Schutzmaßnahmen gesichert und vernichtet werden. Solche Bomben, schätzen Experten, wird man noch hundert Jahre nach Kriegsende finden – und noch manche wird bei unvorsichtigen Bauarbeiten explodieren*.

Außer diesen direkten materiellen Schäden gibt es die seelischen Spätfolgen bei den Flüchtlingskindern, bei den Vertriebenen, bei Kriegskindern und Kriegsenkeln. Manches ist harmloser – manches ist „gerade noch mal gut gegangen“ – wie die folgende aktuelle Meldung zeigt:

Obige kleine Meldung hat mich sofort an eine wahre Geschichte aus der Kindheit erinnert – nicht aus meiner eigenen, sondern aus der eines Freundes aus der Rehauer Zeit. Bei Kriegsende im Mai 1945 warfen viele desertierende oder flüchtende Soldaten ihre Waffen weg. In der Gegend um Rehau lag etliches davon noch lange später in den Wäldern und Wiesen herum – denn der Ort befand sich nahe bei der damals sehr fließenden Grenze zur bald darauf „sowjetisch besetzten Ostzone“ und zur Tschechoslowakei – im „Dreiländereck“.

Abb. 2: Dietmar Sammet (links oben) war der Junge mit der Panzerfaust – rechts unten im Eck ich – auf einem Klassen-Foto aus dem Jahr 1949 (Archiv JvS)

Mein späterer Klassenkamerad (ab der ersten Klasse Volksschule Herbst 1946) Dietmar Sammet erzählte mir Jahrzehnte später folgende Geschichte:
Beim Umherstreunen in der Geierloh auf der nördlichen Anhöhe des Talkessels, in dem am nordöstlichen Rand des Fichtelgebirges der oberfränkische Ort Rehau liegt, fand er als damals kaum sechsjähriger Knirps eine Panzerfaust. Er erinnerte sich, dass man solches Zeug bei der Polizei abgeben sollte und marschierte brav damit zur Dienststelle der Gendarmerie beim Schützenhaus, jenseits der Bahnlinie Hof-Selb. Dort war man begreiflicherweise entsetzt über diesen Fund und brachte sich erst einmal in Deckung – was in so einem Dienstraum nicht leicht ist. Das Entsetzen war berechtigt, denn anders als in der obigen Zeitungsmeldung befand sich die panzersprengende Granate noch immer im Abschussrohr und die ganze Angelegenheit war wirklich hochgefährlich. Bei anderen Funden ging das nicht so glimpflich aus. In der selben Zeit nach Kriegsende entdeckten Kinder im Perlenbach im Süden von Rehau eine Handgranate und spielten damit – was einer mit dem Leben bezahlte und ein anderer mit schweren Verletzungen, wie sich Dietmar Sammet erinnert. (Vergl. auch → Waffenfetischismus bei uns Buben.)

* So geschehen in München-Schwabing, wo man ein riesiges Areal im Herzen des Viertels evakuieren musste – um dann bei der künstlich herbeigeführten Sprengung dieser US-amerikanischen 250-Kilo-Fliegerbombe alle Fensterscheiben in der direkten Umgebung zu zerstören. Das ganze Areal war noch Monate danach sowohl direkt beschädigt als auch – die Anwohner – traumatisiert.
Wir wohnten damals nicht weit davon entfernt in der → Seestraße – aber im nicht mehr direkt gefährdeten Bereich, aus dem evakuiert wurde. Unser nachträglicher Schrecken war allerdings groß, als sich anderntags nach der einigermaßen glimpflich (!) verlaufenen Sprengung herausstellte, dass ein gewaltiges Trumm Metall (von der Bombe?) über unser Wohnhaus hinweg in die nördliche Wand des Hauptgebäudes der Münchner Rückversicherung eingeschlagen war – gut 30 cm groß und mehr als einen halben Kilometer vom Ort der Explosion entfernt, die innerhalb eines Häusergevierts gezielt gezündet worden war. Das Teil hätte genauso gut bei uns in der Küche landen können, wo wir gerade beim Abendessen saßen, oder im Arbeitszimmer gleich daneben.
Claudia Wessel, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, hat diese Explosion vom Abend des 27. August 2012 in einem packenden Thriller detailgenau verarbeitet, den sie Die Bombe nannte. Als Widmung schrieb sie mir in das Buch: „Bei dir fing das alles an im Schreibkurs anno 1995.“ (Das war die Große Schreib-Werkstatt, die zufällig genau in jenem erwähnten Arbeitsraum stattfand – wo 17 Jahre später zum Glück nicht eines der Trümmerteile von der Explosion landete, die diesen Roman auslöste. )

Quellen
DPA: „Panzerfaust im Keller entdeckt“. In: Südd. Zeitung vom 03. April 2021.
Wessel Claudia: Die Bombe. Tübingen 2015 (Gehrke).

164 _ aut #1027 _ 2021-04-10/14:30

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