(Am 06. September 2024 wurde Alfred Hertrich von Bürgermeister Michael Abraham der „Kulturpreis der Stadt Rehau“ im Alten Rathaus, jetzt Stadtmuseum, verliehen. Die ausführliche Laudatio hielt W. Günther le Maire, Preisträger von 2010.
Dies ist meine zusätzliche Laudatio als lebenslanger Freund des Preisträgers. Aus verständlichen Gründen beschränkte ich mich bei der Preisverleihung auf fünf Minuten – hier meine ausführliche Würdigung.)
Als langjähriger Freund und Wegbegleiter von Alfred Hertrich (geb. 1939 in Rehau) während sieben Jahrzehnten will ich einen komprimierten Blick auf seine Persönlichkeit und zugleich auf unsere lange Freundschaft werfen – und darauf, was das alles mit meiner früheren Heimatstadt Rehau zu tun hat.


Bild 1: Alfred Hertrich 2023 bei Eröffnung einer seiner vielen Ausstellungen (01. Sep bis 01. Okt in Weiden – Foto: Stefan vom Scheidt) – Bild 2: AH als Fünfzehnjähriger 1954 bei einer Wanderung im Süden von Rehau (Archiv JvS)
Ich will dies in einer kleinen Szene zusammenfassen, die sich im Jahr 1954 abgespielt hat, und zwar genau am 04. Juli 1954. Warum ich das noch so genau weiß? An diesem Tag kannten Alfred und ich uns seit etwa zwei Jahren* und hatten schon viel zusammen gemacht: Waldläufe südlich vom Perlenbachgrund, auf ausgedehnten Wanderungen (s. Bild 1) die aktuellen Songs der Schlagerparade gesungen, mit dem Fahrrad Ausflüge rund um Rehau unternommen, vorbei am Kornberg bis nach Kulmbach zur Plassenburg, mit Kochen von Erbsensuppe über offenem Feuer auf einer Wiese neben der Straße.
* Zunächst war da Alfreds Cousin Dietmar Sammet, mit dem ich in der ersten Klasse – damals in der alten Rehauer Volksschule, heute Kunsthaus) ab Herbst 1946 in der selben Schulbank saß. Durch ihn lernte ich Alfred 1952 kennen. Dann verloren Dietmar und ich uns aus den Augen – bis wir uns etwa 2000 in München erneut trafen und bis zu Dietmars Tod 2022 Kontakt hatten. Die Freundschaft mit Alfred verlief parallel dazu.
Wir haben uns oft in der Küche von Alfreds Eltern in der Baugenossenschaft zu gemeinsamen Arbeiten zusammengesetzt. Nun saßen wir jedoch in meinem Zimmer in der Bahnhofstraße 15 und entwickelten gerade einen kleinen Comic, während im Hintergrund das Radio dudelte. Es ging in unserem Projekt um eine Szene, die sich im Urwald mit einem Orang-Utan abspielen sollte, der den Helden unseres Comics bedrohte.
Während ich fasziniert zuschaute, wie Alfred meiner Idee auf dem Papier Gestalt zu verleihen begann, Bäume skizzierte, dem Orang-Utan erste Konturen verlieh – da lief im Radio die Reportage von der Fußballweltmeisterschaft in Bern, die mit diesem berühmten begeisterten Rufen des Reporters Herbert Zimmermann ihren Höhepunkt erreichte:
„Tor! Tor! Tor! Wir sind Weltmeister!“
Das war der Moment der seltsamen Rückkehr des Paria Deutschland in die Völkergemeinschaft, nach der Nazi-Diktatur, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Leider ist dieses unser gemeinsames Comic-Unternehmen in eben diesem weltgeschichtlichen Moment nie über die ersten zwei, drei Seiten hinaus gediehen und – anders als das „Wunder von Bern“ – längst im Orkus der Vergangenheit verschwunden, ebenso unser zweites Projekt, ein Weltraumabenteuer, das Alfred mit Tusche von ungewöhnlicher sepiabrauner Farbe entwarf. Aber hier kommt bereits vieles zusammen, was die Persönlichkeit von Alfred ausmacht: Vor allem seine Fähigkeit, etwas Gedachtes in etwas Reales zu verwandeln. Das ist ja nicht nur beim Jazz wichtig (wir haben es vorhin im Konzert leibhaftig gehört und erlebt). Es steht auch in der Kunst der Grafik im Mittelpunkt und beim Fotografieren. Ständig muss man dabei auch den schwierigen Balance-Akt zwischen Kunst und Kommerz geschickt meistern. Dafür drei Beispiele:
° Es war Alfred, der den bekannten Hofer Filmtagen mit seinen Plakaten drei Jahrzehnte lang werbegrafikwirksam das unverwechselbare Gesicht verliehen hat.
° Er leitete auch über ein Vierteljahrhundert hinweg in Weiden den 1975 von ihm gegründeten Jazz-Zirkel und hat weltbekannte Größen des Jazz aus der ganzen Welt in die Oberpfalz gelockt – und natürlich auch selbst mit ihnen gejammed, wie man das im Jazz nennt.
° Und er hat schließlich über viele Jahre hinweg einen wunderbaren Kunstkalender gestaltet und mit eigenen Grafiken und fremden Texten in eigener Regie und im Selbstverlag und Selbstvertrieb herausgebracht.
Kreative Gestaltung von Wirklichkeit
Wenn ich all dies zusammenfasse, was in jener Szene mit der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern gewissermaßen zu einem multiChronalen Moment gerinnt, in dem persönliches Erleben und Weltgeschichte plötzlich zusammenfallen – dann zeigt sich da bereits beim Teenager Alfred die Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit, zu kreativer und fantasievoller Gestaltung von Wirklichkeit. Und dies alles später vor dem Hintergrund einer Familie mit seiner Frau Helga, seinen drei Kindern, seinen sechs Enkeln und inzwischen sogar fünf Urenkeln – das muss man ja auch alles managen und am Laufen halten.
Dass Alfred all dies gelungen ist und dass er heute – gewissermaßen als „Sahnehäubchen obendrauf“ – den Kulturpreis der Stadt Rehau für das bekommt, was er in all den Jahren auf die Beine gestellt hat – das zeigt zugleich, wie wichtig und hilfreich dieses Biotop Rehau für ihn war (und, das nur nebenbei, auch für mich). In diesem Paradies der fast autofreien Nachkriegszeit der 1950er Jahre sind wir sehr selbständig aufgewachsen. Vom Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg und ihren Schrecken bekamen wir zwar einiges mit – aber im Großen und Ganzen blieb Rehau davon ja wundersam verschont, hat sogar 4.000 Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudentenland verkraftet.
Die amerikanischen Besatzungssoldaten, die von uns Kindern als wundersame „Onkels aus USA“ erlebt wurden, bescherten uns die Musiksendungen von Rias Berlin und AFN, was zugleich so etwas wie die Initiation in den Jazz war. Unvergessen ist für mich auch der gemeinsame Besuch des Gitarrenunterrichts im Jahr 1953. Ich gab das nach einigen Wochen auf – Alfred übte eisern weiter. Sie haben vorhin im Konzert selbst gehört, was dabei herausgekommen ist an echter Meisterschaft.
Dass damals 1954 im Radio die Reportage über die Weltmeisterschaft lief – daran hat sich übrigens Alfred erinnert, als wir einmal über diese Szene sprachen, von der ich nur noch wusste, dass wir damals in der Küche in der Baugenossenschaft saßen. Er korrigierte das: „Nein, wir saßen in deinem Zimmer in der Bahnhofstraße.“ Auch daran kann man sehen, wie wir beide uns immer wieder ergänzt haben.
Noch ein Highlight: In einem Alter, in dem viele Männer in die Midlife-Crisis geraten und sich ein Motorrad kaufen, hat Alfred einen Schritt gemacht, den ich stets bewundert habe: Nach vielen Jahren als angestellter Werbegraphiker einer großen Firma hat er 1985 den kühnen Sprung in die Selbständigkeit einer eigenen Werbeagentur gewagt und gemeistert! Das muss man auch erst einmal hinkriegen!
„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ dichtet Goethe im Ersten Teil seines Faust-Dramas. Das nimmt gelegentlich die krasse Zwiespältigkeit von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ an – im Falle von Alfred Hertrich klafft das nicht ganz so weit auseinander, ist aber doch noch deutlich verschieden:
° Auf der einen Seite die Welt des „braven“ Werbegrafikers und Familienvaters
° und auf der anderen Seite die Welt des „expressiven“ Jazzmusikers in rauchigen Lokalen, des experimentierenden Malers und durch Skandinavien wandernden Fotografen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und dir, Alfred, vielen, vielen Dank für eine lebenslange Freundschaft – die nun schon 72 Jahre hält und 1952 hier in Rehau begonnen hat.

Bild 3: Der Prager Bassist František Uhlíř und Alfred Hertrich nach dem gemeinsamen Konzert bei der Preisverleihung am 06. September 2024 in Rehau (Foto: JvS)
„Train and the River“

Bild 4: Alfred Hertrich (Gitarre) mit Werner Weinelt (Bass) und Uwe Brandner (Saxophon) 1965 im Jazzstudio Nürnberg (Archiv JvS – Fotograf unbekannt)

Kleine philosophische Abschweifung zur Abrundung meiner Laudatio, die zugleich Alfreds zeichnerische und musikalische Ambitionen verknüpft und zudem so etwas wie ein symbolischer Ausdruck unserer lebenslangen Freundschaft ist, die ja viel mit diesen beiden künstlerischen Seiten von Alfred zu tun hat. Dazu ein beherzter Griff in die Metaphernkiste in Gestalt eines launigen Gedichts. Ein berühmter „philosophischer“ Limerick geht so:
There was a young man who cried „Dam´n!
I´ve just found out who I am:
A creature that moves
In determinate grooves –
– not a bus, not a bus, but a tram.“
* Frei übersetzt:
Da war mal ein Mann, der schrie „Mist!
Ich fand eben heraus und bin angepisst:
Ein Wesen zu sein
Nicht beweglich, oh nein,
Sondern ´ne Tram, die auf starrem Schienenweg ist.
*
Dieser Limerick fällt mir immer wieder ein, wenn es um die Frage nach dem Sinn des Lebens geht: Wird uns dieser Sinn vorgegeben (von Gott, vom Schicksal, vom Universum) – oder bestimmen wir dank unseres „Freien Willens“ selbst, was diesen Sinn ausmacht? Der junge Mann des Limericks hat sich der Fremdsteuerung ergeben: Nicht der frei bewegliche Bus – sondern die Tram mit ihrem festgelegten Schienenverlauf erkennt er als sein Schicksal. Ich gehe, glaube ich, nicht fehl in der Annahme, dass Alfred wie ich die „bewegliche“ Variante vorziehen – die in einer anderen Metapher noch deutlicher wird: Der „Fluss“ (engl. River) mit seinem Wasser als Bild des frei dahinströmenden Lebens – der durch seine Ufer doch eine Art festen Verlauf aufweist (der sich freilich im Lauf der Jahre und Jahrtausende immer wieder ändert).
Ein wunderbares Jazz-Stück von Jimmy Guiffre, das Alfred und ich sehr schätzen (und das er in sein Repertoire als Jazz-Musiker schon sehr früh aufgenommen hat), bringt die beiden Varianten zusammen: Der „River“ fließt einfach so dahin – und der „Train“ folgt der festgelegten Spur: „Train and the River“ von Jimmy Guiffre ist ein Stück Kammer-Jazz, wie auch Alfred ihn meisterhaft zelebriert. (Auf YouTube kann man in einem Ausschnitt des großartigen Dokumentarfilms Jazz an einem Sommerabend das Stück hören (Link s. unten)

Bild 6: Eines meiner Lieblingsbilder aus Alfred Hertrichs Werkstatt: „The Train and the River“ nach Jimmy Guiffre (Details und Link s. unten – Aquarell von Alfred Hertrich aus dem Jahr 2005)

Bild 7: Alfred Hertrich vor drei seiner Bilder 2023 in Weiden (01. Sep bis 01. Okt 2023) (Foto: Stefan vom Scheidt)
Quellen
Brqndner, Uwe (1941-2018): Innerungen (München 1968), Drei Uhr Angst (München 1970), Mutanten-Milieu (München 1971).
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Brandner .
Guiffre, Jimmy (Tenorsaxophon – mit Jim Hall, Gitarre und Bob Brookmeyer, Posaune): „The Train and the River“. Eröffnungs-Sequenz des Films Jazz on a Summer´s Eve (Jazz an einem Sommerabend). Dokumentation des Newport Jazz-Festivals 1958 – s. Stern, Bert (Regie) und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=eRKkYO5qEis .
Hertrich, Alfred (Website).
Maire, W. Gunther le: Laudatio auf Alfred Hertrich anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Rehau.
Stern, Bert (Regie): .Jazz on a Summer´s Day. USA 1959.
Uhlíř, František (Wikipedia).
322 _ aut #2495 / aktualisiert 2024-09-30 (2024-09-21/20:07)