Heute mal was ganz Verrücktes…

… in diesem Blog: die Realität. Und zugleich die Suche nach einem geheimnisvollen Foto, das verschwunden scheint – um plötzlich doch wieder gefunden zu werden.

Die Quellen der Inspiration für Beiträge sind bei mir sehr vielfältig. Manchmal wache ich mit einem Traum auf (oder auch ohne Traum) und weiß: Dies (was immer das jeweils sein mag) ist ein Thema für meinen Blog.
Spätestens wenn ich die Zeitung lese, purzeln die Einfälle nur so. Anderes ploppt einfach aus dem Unbewussten hoch – oder aus dem  → GeistQuantenFluxus.
Manchmal suche ich etwas in meinem Bücherschrank oder in der Küche – aber statt das gesuchte Buch zu greifen oder mir, wie geplant, einen Kaffee zu kochen, fällt mir etwas ein – und ich schaue etwas ratlos den Kaffeelöffel an und frage mich: Was will ich denn damit? Denn die Idee beginnt zu wuchern und dann muss ich sie notieren. Ob sie jemals ausgeführt wird und in diesem Blog landet (oder Teil meines glü-Romans wird oder meiner Autobiographie oder was auch immer) – keine Ahnung.
Wenn es gut geht, gelingt der Beitrag oder eine Roman-Szene entsteht, und das ist dann viel wichtiger als der Kaffee. Das nennt man  → Serendipität – wenn man irgendwas sucht und etwas ganz anderes, viel Kostbareres findet.

Serendipität

Kennen sie das auch? Sie suchen etwas ganz Bestimmtes – und finden stattdessen etwas völlig anderes, das viel wichtiger wird? Der Fachausdruck dafür ist Serendipität (Details finden Sie in der Wikipedia) .

Schon seit Monaten suche ich ein Gruppenbild, auf dem mein Großvater Karl Hertel als Kommandeur eines Bataillions der deutschen Wehrmacht in der von Nazi-Deutschland besetzten Ukraine inmitten seiner Offiziere abgebildet ist. Ich hatte dieses Foto aus dem Jahr 1941 im November beim Kramen zufällig in meinem Archiv gefunden. Einen der ersten Beiträge für diesen Blog (begonnen am 08. November 2020) sollte dieses Bild illustrieren. Aber ich fand es nicht mehr.

Gestern schrieb ich einen Beitrag, der sich mit meiner → Urgroßmutter Anna Naumann befasste und suchte ein Foto von ihr – in der Meinung, dass es dies gar nicht geben könne – wer hat schon private Fotos aus dem Jahr 1886? Zum ersten Mal durchforstete ich aufmerksam alles an Fotos, was ich besitze, bemerkte zum ersten Mal, wie schlecht die meisten Fotos im Familienarchiv sind:
° unscharf,
° uninteressant,
° ohne Hinweis, wer oder was zu sehen ist.

Erstaunt bemerkte ich, dass ich diese Bilder plötzlich mit ganz anderen Augen betrachtete. Nicht, wie bisher, als Kostbarkeiten, die es zu hüten gilt wie einen Familienschatz – sondern mit dem dreifachen Gedanken:
° Kann ich das in meinem Blog verwenden (um zum Beispiel, ein Familienthema zu illustrieren)?
° Ist es von der Qualität her dafür geeignet (also scharf genug, nicht vom „Zahn der Zeit“ benagt und ausgebleicht)?
° Ist das auch für fremde Betrachter interessant genug (also für die Leser dieses Blog – also für SIE, der Sie dies gerade lesen)?

Ich begann auszusortieren. Schätzungsweise 333 Fotos (naja, mindesten 200) landeten auf dem Fußboden und anschließend im Müll. Basta. Finito. Nada.
Was sollte ich mit Fotos, die mein Vater von seiner Weltreise 1929 mitgebracht hatte – und in einem eigenen Briefumschlag gesammelt und mir mit der Aufschrift „MS Columbus“ hinterlassen hatte – wenn fast keines dieser Bilder irgendeinen Wert außer für ihn selbst hatte – weil es unscharf war, das Motiv ungeschickt ausgesucht, der Inhalt nicht identifizierbar (was? wann genau? wo? wer? warum?).
Von einigen Dutzend Motiven dieser Weltreise anno 1929 bestanden nur fünf das kritische Säurebad namens „blogtauglich?“ – darunter sein Ritt auf einem Esel zur Chinesischen Mauer (davon ein andermal mehr).

Fast um Schluss dieses Aussortierens fand ich dann:

° ein Foto meiner Urgroßmutter Anna Naumann;
° das gesuchte Gruppenbild meines Großvaters als Kommandeur in der Ukraine
° und, wer hätte das gedacht: Ein Foto, auf dem mein Vater auf den Händen läuft.

Letzteres mag Leser dieses Blog amüsieren – oder überhaupt nicht interessieren. Für mich aber ist es, obwohl vom Zahn der Zeit wirklich heftig benagt und eigentlich nicht verwendbar, ein kostbarer Fund. Denn ich war stolz wie Oskar, wenn ich, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, mit meinem Vater ins Rehauer Freibad ging, dort von ihm Schwimmen und Tauchen lernte – und er sich dann auf einer der Liegewiese und auf meinen auffordernden Blick hin, inmitten der anderen Badegäste nach vorne beugte, mit den Händen abstützte, die Beine hoch warf (ich habe das nie geschafft), erst im Handstand kurz verharrte – und dann tatsächlich auf den Händen, kopfüber, einige Meter über die Wiese zu balancieren und richtig zu laufen begann.
Vow! Ich habe nie mehr jemand anderen erlebt, der dies konnte. Müßig zu sagen, dass es mir selbst, trotz seiner Anleitung und meinem wirklich ernsthaften Bemühen nie gelungen ist, ihm das nachzutun. Und hier ist der Beweis:

– – – – –

Von wegen! Ich finde dieses verdammte Foto nicht mehr! Also nochmals alle Bilder durchwühlen. Es nicht mehr finden.
Hab ich das im Eifer des Anschauens so vieler Bilder am Ende – nur halluziniert? Ist das eine Spätfolge der → Impfung gegen Covid-19 vor vier Tagen?
Hab ich dieses ganz spezielle, plötzlich so wichtige Bild am Ende aus Versehen mit all den (332) anderen vor vier Stunden in den Müll geworfen? Was würde mein Psychoanalytiker – damals, in den 60er/70er Jahren – gesagt haben, wenn ich ihm das erzählte? Wie würde er das deuten? Als Ambivalenz gegen meinen Vater – diese uralte Ambivalenz, die ich erledigt glaubte und die sich nun plötzlich wieder Bahn bricht? Aber wieso? Ich hatte doch längst meinen Frieden mit ihm gefunden!
Doch das Unbewusste kann sehr nachtragend sein. Und sehr streng.

Seltsam. Wie das Leben so spielt. Oder das Unbewusste.

Kann aber nicht sein. DARF NICHT SEIN!

Also nochmals ran an die Fotos, die noch im Archiv sind. Alle Tütchen nochmals öffnen und Foto für Foto anschauen. Kostet Zeit, kostet Nerven (meine Ungeduld, mein ADHS).

Nein. Nicht dabei. Niente Foto. Nada „Auf den Händen laufen“. Als wäre es nie passiert. Nur eine Erinnerung – und vielleicht sogar eine „false memory“? Wunschdenken von einem „tollen Vater“? Sowas kommt vor.

Also runter in den Hinterhof, zur Abfalltonne. Es hilft nichts. Ich muss da irgendwie ran, muss rein – muss diese verdammte Mülltüte wieder rausholen – Aber mir ekelt schon bei dem Gedanken an den Gestank dieses „Restmüll-Containers“. Doch als ich gerade in die Diele gehe, um meine Schuhe anzuziehen und –

– da liegen einige Fotos und Notizen auf der Rückenlehne des Sofas, gleich neben der Wohnzimmertür. Vielleicht…

Aufatmen. Ausatmen, Einatmen – und hier ist es, zusammen mit dem Foto, an das ich immer denke, wenn ich mir meine Oma Hertel vorstelle, die Mutter meiner Mutter, und mit dem einzigen Foto von Else, meinem Kindermädchen.

Uuups – da stimmt was nicht (Archiv JvS)

Oh je – da stimmt was nicht. Die Oma in der Mitte ist okay. Links die Else steht auf dem Kopf – und mein Vater eben nicht. Also Korrektur – und gleich auf drei Einzelbilder verteilt:

Erst die Else, die gerade mich (zwei Jahre alt) spazierenführt und ein anderes Kind (vermutlich ein Nachbarskind) vom Wangerooger Weg 6 in Leipzig – der Hintergrund sieht nämlich nicht nach Rehau aus, wohin wir bald darauf evakuiert wurden; das war 1941 oder 1942, als der Krieg so richtig heftig nach Deutschland zurückkam. Meine Mutter war damals sehr im Stress – ihr Mann (mein Vater also) fernab im Krieg – die Wohnung in Leipzig ebenfalls in ständiger Gefahr, ausgebombt zu werden. Else Köster war damals sechzehn Jahre alt und für mich so etwas wie eine „zweite Mutter“ in dieser schwierigen Zeit. Wenn ich das Bild betrachte, wird mir ganz warm ums Herz. Und ich höre ihre rauchige Stimme, die immer ein wenig belegt war, so als sei sie heißer. Das war bis zum Ende ihres Lebens so. Dieses liebevolle Lächeln – was braucht ein Kind mehr, als so einen Menschen, der einen an der Hand führt. Die Liebe war gegenseitig – wir hatten Zeit ihres Lebens Kontakt. Sie benannte ihren Sohn nach mir, ebenfalls „Jürgen“. Und als sie starb, war ich bei ihrer Beerdigung dabei. Sie ist es wert, demnächst ein eigenes Kapitel in diesem Blog zu bekommen: → Begegnung mit Else (wip)

Else Köster mit JvS (links) und einem Nachbarskind (Archiv JvS)

Das zweite Bild zeigt meine Oma Babette „Betty“ Hertel am Fenster des Treppenhauses der Bahnhofstraße 15, mit Blick in den kleinen Hinterhof nach Westen. Sie muss damals schon sehr krank gewesen sein, starb bald darauf (1942) an Krebs. Sie wurde rund um die Uhr gepflegt von meiner Mutter, ihrer Schwester Elisabeth (meine Tante Lis) und Else Köster.

Oma Betty Hertel, geb. Kropf. Etwa 1941 in Rehau (Archiv JvS)

Das nächste Bild (Zeitsprung ins Jahr 1948 oder so) zeigt meinen Vater – wie er tatsächlich auf den Händen läuft. Das ist nicht nur ein Handstand, sondern er läuft richtig, ich hab es mit eigenen Augen gesehen, und nicht nur einmal. Er war kein Akrobat, wie man meinen könnte, sondern nur sehr sportlich und schon als junger Mann im Turnverein der Spitzenmann ganz oben, wenn eine Pyramide „gebaut“ wurde. Weil er der Kleinste und Jüngste (und Leichteste) war, aber wohl auch der Mutigste. Ich habe leider kein besseres Foto – Bildbearbeitung nützt da nichts. Aber manchmal muss man eben Abstriche an der Ästhetik machen und seinem Publikum (in diesem Fall den Lesern dieses Blog) etwas künstlerisch Fragwürdiges zumuten, wenn es sich um das einzige verfügbare, authentische Zeitzeugnis handelt. Und das ist es:

Helmut vom Scheidt, vermutlich etwa 1948 im Freibad von Rehau (Archiv JvS)

Jetzt wird´s philosophisch

Vielleicht verleiht gerade das verwischte, vom Zeitzahn angenagte Aussehen dem Foto etwas Geheimnisvolles – was es wiederum irgendwie künstlerisch interessant und wertvoll macht. Gibt es nicht sehr bekannte Künstler, die ihre Werke bewusst zerstören – um sie noch wertvoller zu machen? Wer kann schon von sich sagen, ein Foto zu haben, das von der „Zeit“ benagt und damit kreativ gestaltet wurde?
Wie ausgebleicht und verschwommen werden irgendwann die Fotos sein – und die Erinnerungen an uns – bei unseren Nachkommen?

Um jetzt richtig philosophisch und zugleich naturwissenschaftlich zu werden: Ist die Zeit (Gott Chronos nannten das die Griechen früher) nicht die stärkste Kraft im Universum, die sogar das Leben und uns Menschen entstehen ließ – die Evolution?

Wie im Titel dieses Beitrags bereits angekündigt: Heute mal was ganz Verrücktes im Blog: Die Realität.

114 _ aut #804 _ 2021-03-12/21:55

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: