Ab und zu gebe ich, wenn es passt, hier im Blog auch Schreib-Tipps. Hier ist ein Tipp, der zuverlässig hilft, in den Flow des Schreib-Prozesses hineinzukommen. Ludwig Börnes Empfehlung aus dem Jahr 1825 hat schon Sigmund Freud als Jugendlichen angeregt und wurde (via Kryptomnesie) viele Jahre später zu einem Kernstück der Psychoanalyse, der „Freien Assoziation“.
Der ursprüngliche Aufsatz des Journalisten Börne hieß ein wenig anders und wurde von mir aufs Blogging übertragen: „Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“:
„Es gibt Menschen und Schriften, welche Anweisung geben, die lateinische, griechische, französische Sprache in drei Tagen, die Buchhalterei sogar in drei Stunden zu erlernen. Wie man aber in drei Tagen ein guter Originalschriftsteller werden könne, wurde noch nicht gezeigt. Und doch ist es so leicht! Man hat nichts dabei zu lernen, sondern nur vieles zu verlernen, nichts zu erfahren, sondern manches zu vergessen […]
Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gericht, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!“ (Börne, S. 741 f.)
Börne meinte das keineswegs ernst, sondern satirisch, wenn er solches Drauflos-Fabulieren und -Phantasieren empfahl. Aber es funktioniert bestens. Das Verfahren haben in den 1920er Jahren die Surrealisten auf vielfältige Weise angewendet, und es ist inzwischen im Umfeld es Kreativen Schreibens sehr vertraut, wird in komprimierter Form auch als Automatisches Schreiben bezeichnet. Es entstehen dabei nicht immer großartige Texte – aber auf jeden Fall werden Schreibblockaden gelöst.
Es gibt einen wunderbaren Film mit Sean „James Bond“ Connery als kauzigem alten Schriftsteller, der als Mentor einem zögernd überlegenden 16jährigen Anfänger mit Potenzial in die Puschen und in den Schreibfluss hilft, als dieser bedächtig überlegend und möglichst druckreif langsam seine Sätze in die Schreibmaschine tippt:
„Hau in die Tasten!“ (korrigieren und überarbeiten kannst du das später immer noch).
Der Film heißt Finding Forrester (deutscher Titel: Forrester gefunden) und ist auf DVD erhältlich. Ein Must have für jeden Menschen, der Freude am Schreiben hat.
Darum geht es auch beim Bloggen: Munter loslegen
Genau das ist auch das Geheimnis des Bloggens: Sobald man eine Idee hat, einfach mit dem Tippen loslegen. Liegt erst einmal ein Rohtext vor, kann man den leicht Redigieren und Korrigieren.
Diese Art des Freien Assoziierens könnte man sogar als den „Markenkern“ des Creative Writing bezeichnen, etwa in Form des Clustering nach Gabriele Rico. Im meinem Buch Kreatives Schreiben – Hyperwriting habe ich diese Methoden (die letztlich auf Freud zurückgehen – s. seinen „Traum von Irmas Injektion“) auf vielfältige Weise vorgestellt. Und in meinen Seminaren kann man das ganz praktisch selbst ausprobieren und lernen: Veranstaltungs-Kalender des IAK.
Was das Blogging angeht, so liefert einem WordPress an die tausend „Gefäße“ (themes genannt), in die man seine Ideen und Texte hineingießen kann – aber um aus Ideen und Einfällen richtige Blog-Posts zu machen, muss man lernen, loszulassen und sich mutig dem Strom des Freien Assoziierens zu überlassen.
Wer meinen Blog öfter besucht, mag sich wundern, wie ich zwischen den Themen wild hin- und herspringe – mal über meine Urgroßmutter Anna Naumann schreibe, dann über Science-Fiction oder die aktuelle Corona-Pandemie, mal sachlich, mal erzählend wie in meinen Kurzgeschichten Abschied von Utopia (phantastisch), Conga Joe (realistisch im Mainstream-Manier) und Nur ein kleiner Fehler (futuristisch in SF-Manier).
Ich folge einfach meinen Inspirationen aus dem GeiQuaFlux, lasse mich von Erinnerung zu Erinnerung treiben, philosophiere über MultiChronie, bediene mich der Erfahrungen aus vielen — beruflichen Tätigkeiten und aus meinem riesigen Archiv eigener Texte, freue mich daran, wie meine 81 Jahr bisherigen Lebens im Nachspüren und Nacherinnern allmählich zu dem zusammenwachsen, was vorher nur ein Sammelsurium von vorbeiströmenden Ereignissen war und das nun
° „im eigenen Kopf“
° wie im Internet (als Blog, den Sie jetzt gerade lesen)
° und auf dem Papier meiner Autobiographie (als work in progress)
- zu einem sinnvollen Ganzen durchgeknetet wird und zusammenwächst.
Und ich hoffe sehr, dass Ihnen, meinen Lesern, dies ebenfalls zusagt – und Sie vielleicht anregt werden, sich auf ein ähnliches Abenteuer des Blogging einzulassen.
Quelle
Börne, Ludwig: „Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“ (1825). In: Börnes Werke. Berlin 1994.
Freud, Sigmund: „Der Traum von Irmas Injektion“ (1895). In: Band II/III der Gesammelten Werke. Frankfurt am Main 1964 ff (Fischer), Kap 6.
Rico, Gabriele L.: Garantiert schreiben lernen. (1983) Reinbek 2001 / 11. Aufl. (Rowohlt).
Sant, Gus van (Regie): Forrester gefunden (Finding Forrester). USA 2000 (Columbia).
Scheidt, Jürgen vom: Kreatives Schreiben – HyperWriting. (Frankfurt am Main 1989_Fischer TB). München 2006-11 (Allitera Paperback).
aut #625 _ 2021-03-15/18:52