Der Glanz im Auge der Mutter

(Nachdruck eines Nachrufs, den die FAZ von mir haben wollte, als Heinz Kohut starb, der Psychoanalytikers und Begründer der Selbst-Psychologie .
Man wusste von meinen Kontakten zu Kohut, weil meine erste Frau Elke einige seiner Bücher für den Suhrkamp-Verlag aus dem amerikanischen Englisch übersetzt hatte. Zur Tragik seines Lebens gehört, dass er im Schatten Freuds bleiben musste – und dass er zu akademisch schrieb, als dass seine wichtigen Erkenntnisse die nötige Breitenwirkung erzielt hätten; das besorgte dann u.a. Alice Miller.
Ich habe ihn auch persönlich kennengelernt, als freundlichen und klugen älteren Herrn; er schrieb mir ein sehr lobendes Vorwort für die Dissertation. )

Abb. 1 und 2: Die deutschen Ausgaben zweier wichtiger Werken von Heinz Kohut (Suhrkamp 1973, 1977)

(In Folgenden übernehme ich die Rechtschreibung des FAZ-Originals:)

Zum Tod von Heinz Kohut (* 3. Mai 1913 in Wien; † 8. Oktober 1981 in Chicago)

Sigmund Freud, der große geistige und seelische Beweger des zwanzigsten Jahrhunderts, hat viele große „Söhne“ und einige große „Töchter“ hervorgebracht. Die meisten von ihnen bewiesen ihre Größe, indem sie sich irgendwann von ihrem Vater abwandten und eigene psychologische Schulen gründeten: C. G. Jung etwa, Alfred Adler, Wilhelm Reich und Ruth C. Cohn.
Einige wenige entfalteten ihre Größe, indem sie Freud treu blieben, indem sie ihre eigenen Gedanken nicht in der Auflehnung, sondern in der geistigen Zusammenarbeit mit ihm weiterentwickelten. Zu ihnen gehört Heinz Kohut, der am 8. Oktober, achtundsechzigjährig, in Chikago nach längerer Krankheit starb.
Will man eines der gängigen Klischees benützen, mit denen heute versucht wird, die Vielfalt der psychologischen und therapeutischen Richtungen zu ordnen, so bietet sich für Kohut die paradoxe Bezeichnung „unorthodoxer orthodoxer Psychoanalytiker“ an. Orthodox im Sinne der Freudschen Tradition war Kohut insofern, als er mit seinen eigenen Forschungen und Theorien ganz eng an die Trieblehre des Begründers der Psychoanalyse anknüpfte. Seine Weiterentwicklungen – nachzulesen vor allem in den Hauptwerken „ Narzißmus“ und „Die Heilung des Selbst“ (Suhrkamp) – sind keine leichte Lektüre, verlangen intensives Studium und fundiertes psychoanalytisches Vorwissen. Aber sie belohnen, weil sie eben dadurch, daß sie, auf Freud aufbauend, nicht in der Rebellion gegen ihn die eigene-Brillanz beweisen müssen.,
Aber Kohut bietet noch mehr. Im Gegensatz zu Freuds Pessimismus strahlt überall zwischen den nüchternen theoretischen Exkursionen etwas hervor, was man eigentlich nur mit so unmodernen Worten wie „Sich verstanden fühlen“ und „Getröstet werden“ bezeichnen kann. Kohut führt den, der sich führen läßt, zum Kern der Persönlichkeit, den er das „Selbst“ nennt.
Es steht außer, Frage, daß Kohut und seine Schüler in Chikago eine der ganz wenigen nennenswerten Neuentwicklungen der Psychoanalyse nach Freud bieten. Im deutschen Sprachraum hat diese Gedanken vor allem Alice Miller mit ihrem „Drama des begabten Kindes“ wohl am verständlichsten ausgedrückt – es ist kein Zufall, daß dieses Buch ein Riesenerfolg war. Handelt es doch von der Sehnsucht des Menschen nach Ganzheit und Identität, nach Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen. So könnte man den Narzißmus definieren, dem Kohuts Lebenswerk galt. Störungen der narzißtischen Anteile der Persönlichkeit machen heute bereits den überwiegenden Teil der seelischen Krankheiten aus. Der Erfolg von Alice Miller ist das Ergebnis einer – durchaus notwendigen – Plünderung der Kohutschen Goldmine.
Zur Tragik Kohuts gehört ebendies: daß er seine Goldmine nicht selbst in einer Weise ausbeuten konnte, daß mehr Menschen seinen Überlegungen zu folgen vermochten, ohne sich erst mit dem psychoanalytischen Überbau und internen Theoriediskussionen abquälen zu müssen. Man ahnt die Ursachen dieser Tragik in der Herkunft. 1913 wurde er als Jude in Wien geboren, wo er Neurologie und Medizin studierte. 1938 beobachtete er, hinter einer Säule des Bahnhofs versteckt, die unfreiwillige Abreise Freuds, dessen Schüler er längst war, aus Wien. Ein Jahr später emigrierte er selbst in die Vereinigten Staaten, wo er seine Ausbildung beendete und Professor wurde für Psychiatrie (was in den USA lange fast identisch war mit Psychoanalyse). Innerhalb der Gemeinde der Analytiker wurden ihm höchste Ehren zuteil bis hin zum Präsidium der amerikanischen Vereinigung und zum Vizepräsidium der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Hinter diesen trockenen Daten verbirgt sich weit mehr Leben, als in den Schriften sichtbar wird: Denn Kohuts Interessen und Talente waren äußerst vielseitig. Musikpsychologie, Fragen der Therapeuten-Ausbildung, das Rätsel der Empathie (unbewußte Einfühlung), das komplexe Problem der Introspektion als eigentliches Beobachtungsinstrument der Psychologie und speziell der Psychoanalyse, Psychohistorik als völlig neuer Wissenschaftszweig, Kreativität, Charisma von Führerpersönlichkeiten – das sind Grabungsschächte, die er in seine Goldmine selbst vortrieb und an denen noch viele seiner Schüler und Kollegen mit Gewinn schürfen werden.
Über dieser Mine ist der Name „Narzißmus“ angebracht : – aber nicht als Diffamierung, sondern als stolzer Hinweis auf eine Triebfeder, die unser aller Persönlichkeit noch machtvoller bestimmt als Sexualität und Aggression. Erst jener Narzißmus, der nicht durch die Auseinandersetzung mit wohl dosierten Frustrationen gezähmt wird, kann zur Gefahr für einen selbst wie für andere werden. Er entgleist dann, wenn wir als Kinder nicht die Chance hatten, uns genügend im „Glanz des Auges der Mutter“ zu spiegeln, wie Kohut es in einer seiner großartigsten Formulierungen so anschaulich beschreibt. Wer Kohut persönlich kannte, spürte diesen Glanz auch hinter seiner freundlich-sachlichen Analytiker-Person deutlich. In seinen Schriften wird der Glanz präsent in den exzellenten und lebendigen Fallstudien, die das wahre Gold seiner Mine sind.

Quellen
Kohut, Heinz: Narzißmus: Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer
Persönlichkeitsstörungen. (USA 1971) Frankfurt am Main (Suhrkamp).
ders.: Die Zukunft der Psychoanalyse. Aufsätze. Frankfurt am Main 1975 (Suhrkamp).
ders.: Vorwort zu: Scheidt, Jürgen vom 1976.
ders.: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Aufsätze. Frankfurt am Main 1977 (Suhrkamp).
ders.: Die Heilung des Selbst. (USA 1977) Frankfurt am Main 1979 (Suhrkamp).
Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt a.M. 1974 (Suhrkamp).
Scheidt, Jürgen vom: Der falsche Weg zum Selbst (Dissertation). München 1976 (Kindler – Geist u Psyche).
ders.: „Der Glanz im Auge der Mutter“. (Zum Tod von Heinz Kohut) In: FAZ vom 10. Okt 1981.

119 _ aut #437 _ 2021-03-14/20:41

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