Irrgarten und Labyrinth sind grundverschiedene Strukturen. Der Irrgarten (siehe rechte Abbildung) ist tatsächlich verwirrend. Sich dort hineinzubegeben, und sei es nur auf dem Papier, bedarf großer Konzentration und manches Herumprobierens. So ist das auch mit vielen Lebenserfahrungen und Lebensgrundgefühlen (die sehr verwandt dem Urvertrauen und Urmisstrauen sind, von dem der Psychoanalytiker Erik H. Erikson so anschaulich spricht).
Wie anders ist das, wenn wir in ein Labyrinth kretischen Stils hineingehen! (Auch dies können Sie, mithilfe der linken Abbildung, einmal tun.)
Um diese völlig andere Konstruktion und Erfahrung hervorzuheben, verwende ich statt „Irrgarten“ gerne das Kunstwort „Yrrinthos“. Dieser Neologismus enthält genügend Verwandtschaft zum „Labyrinthos“ (wie es in der griechischen Urform heißt), mit dem prägnanten Ypsilon am Anfang und dem auffälligen „thos“ am Schluss, sodass jeder einigermaßen Gebildete beim Hören oder Lesen des einen (Yrrinthos) mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort das andere (Labyrinthos) assoziieren wird – und doch ist klar, dass es sich gerade nicht um dieselbe Erscheinung handelt. Die beiden „rr“ in Verbindung mit dem Ypsilon sorgen hoffentlich dafür, dass sich auch da die passende Assoziation einstellt: eben Irr(garten) – und „irr sein“.

Warum diese Neuschöpfung „Yrrinthos“?
Weil in den vermutlich meisten Fällen, in denen heutzutage (und wohl schon seit Jahrhunderten) der Begriff des „Labyrinths“ verwendet wird, etwas gemeint ist, was dem „Irr-Garten“ zwar verwandt ist (nämlich in punkto „verwirrende Vielzahl von Möglichkeiten“) – aber überhaupt nichts mit einem „Garten“ im üblichen Sinn zu tun hat. Denken Sie nur an das „Labyrinth der Großstadt“ in irgendeinem Krimi – oder das „Labyrinth der Gefühle“ in einer komplizierten Beziehung zweier Menschen.
Im Englischen ist das einfacher: Wenn dort von „maze“ die Rede ist – dann ist eine verwirrende Situation oder Anlage gemeint, in der man sich verirrt (aber es fehlt der irreführende Wortteil „Garten“). Wohingegen man bei einem „labyrinth“ an das kretische klassische Labyrinth“ anknüpft. Das dachte ich jedenfalls bis vor kurzem. Stimmt leider nur bedingt:
In Band 4 von Joanne K. Rowlings Harry Potter-Serie („H.P. and the Goblet of Fire„) heißt es zunächst auf S. 538 der englischen Ausgabe: „A twenty-foot-high hedge ran all the way around the edge [of the Quidditch pitch]. There was a gap right in front of them; the entrance to the vast maze.“
Leider beseitigt Frau Rowling schon im nächsten Band diese Klarheit des Ausdrucks. In Band 5 (H.P. and the Half-Blood Prince) schreibt sie, um eine verwirrende Örtlichkeit zu charakterisieren: „…they moved deeper in the deserted labyrinth of brick houses.“ (S. 27).
Und im Schlußband (HP and the Deathly Hallows) schließlich heißt es über einen geheimnisvollen Raum: “ . . A gigantic labyrinth compromised of centuries of hidden objects.“ (S. 324).

Zur Klarzustellung
YRRINTHOS erklärt den Zusammenhang bzw. die Unterschiede zwischen „Labyrinth“ und „Irrgarten“ (Yrrinthos) (vergl. das oben Gesagte). In der Labyrinth-Sage vermischt sich das leider von -Anfang an: Theseus wird in ein Yrrinthos geschickt, um den Minotauros zu töten (um einen „Irr-Garten“ kann es sich bei diesem unterirdischen Verlies ja kaum handeln) – der berühmte Ariadnefaden hilft ihm, wieder herauszufinden. In einem richtigen Labyrinth hätte er des Fadens nicht bedurft – der wäre mit dem Gang selbst identisch (s. Abbildung ganz oben – links und Mitte). Aber offenbar hat sich in der Überlieferung dieser Geschichte von Anfang an beides vermischt: Labyrinth und Irr(-Garten) – was für Missverständnisse sorgt und damit für große Verwirrung – die ich hiermit hoffentlich beseitigt habe.
LABYRINTHIADE ist mein Ausdruck für den Gesamtkomplex der Überlieferungen, die sich um das Labyrinth auf Kreta zur Zeit des sagenhaften Königs Minos winden. Dabei unterscheide ich, anhand der handelnden Figuren, zwischen einem
° Inneren Kreis (Theseus, Ariadne, Minotauros, Daidalos, Ikaros, König Minos) und einem
° Äußeren Kreis (Randfiguren wie Pasiphae, Naukrate, Perdix, Aegeus, Medea, Jason, Ödipus).
In meinem Sachbuch Das Drama der Hochbegabten habe ich alle diese Figuren verwendet, um leitmotivisch die verschieden Aspekte geglückter oder missglückter Hochbegabung zu veranschaulichen – und das Labyrinth-Motiv steht dabei gewissermaßen als „logo“ für HB.
LandArt
Beide Varianten – das (kretische, eingängige) Labyrinth und der Irrgarten (als Maisfeld-„Labyrinth“ etc. ein echter „Garten“) werden gegenwärtig allerorten in großzügigen Varianten so angelegt, dass man in sie hineingehen kann. Man bezeichnet dies als LandArt – also eine Kunstform, welche in der Natur künstliche Gebilde schafft, an denen man unmittelbar teilhaben kann – etwa indem man sie begeht.
Ich habe 2002 mit einer Schulklasse im Schweizer Kanton Oberwallis auf einer wunderschön gelegenen Bergwiese im Hochgebirge so ein „Begehbares Labyrinth“ angelegt – mehr dazu, mit Fotostrecke, hier im Blog: Birkenlabyrinth von Bürchen.
Leider hat man die rund tausend Steine, welche die Struktur dieses (echten) Labyrinths auf der Wiese abbildeten, im Jahr 2017 entfernt. Tempi passati.

Quellen
Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the the Goblet of Fire. London 2000 (Bloomsbury).
diess.: Harry Potter and the Half-blood Prince. London 2005 (Bloomsbury).
Diess.: Harry Potter… and the Deathly Hallows.
Scheidt, Jürgen vom: Das Drama der Hochbegabten. München 2004 (Kösel).
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