Dreißig Tage auf einem fremden Planeten

(Diesen Artikel schrieb ich 1976 nach meiner Indienreise für Westermanns Monatshefte. Er ist eine der vielen Veranschaulichungen für das, was ich in meinem Beitrag Multikulti in meinem Leben umschreibe. Die alte Rechtschreibung wurde beibehalten.)

Eine der 800 Fotos meiner Indienreise 1975/76, welches die Jahre überlebt hat: Felsentempel auf der Elefanten-Insel vor Bombay (Archiv JvS)

Indien bereisen, das ist ein wenig so wie das Kinderspiel, bei dem man einen flachen Stein übers Wasser hüpfen läßt. Wenn man Glück hat, berührt der Stein bis zu siebenmal die Oberfläche und geht dann erst unter. Die nationale indische Fluggesellschaft „Indian Airlines“ macht es für zweihundert Dollar möglich, vierzehn Tag lang quer durch und rund ums Land zu hüpfen. Man muß nur höllisch aufpassen, um an Ende nicht ebenfalls so zu versinken wie der Stein im Wasser.

Aber warum gerade Indien?

Mit Indern habe ich seit vielen Jahren in München Kontakt.

Indische Musik und indischer Tanz sind mir längst vertraut.

Irgendwo in mir sind auch Phantasien von großer Armut, von Bettlern und Leprakranken. Aber die Konfrontation mit der anderen  Kultur ist dennoch ein großer Schock.

Früher hatte ich ab und zu so Wünsche, einmal zu einem fremden Planeten zu fliegen. Mit jeder Stunde, die ich mich in diesem Land aufhalte, weiß ich: Hier bin ich auf einem fremden Planeten. Als ich am Abend zum erstenmal durch das nachtdunkle Delhi schlenderte, erfüllte mich zunächst Unbehagen angesichts dieser ungreifbaren Fremdartigkeit, die auf der einen Seite Angst  macht und zugleich fasziniert.

Dich neben dem Hoteleingang sitzen einige Männer um einen blakenden Kerosinbrenner versammelt und halten ein Schwätzchen; es ist Ende Dezember, und auch hier in südlichen Gefilden hat es abends nur zwölf bis vierzehn Grad Celsius; dieses Öfchen spendet nicht nur Licht, sondern auch Wärme. Zehntausende solcher kleiner Öfen brennen in dieser Stadt und verbreiten Qualm und Ruß und einen charakteristischen Geruch, der nicht mehr aus der Nase geht.

Seltsamer Anblick, nur die erste von vielen weiteren Seltsamkeiten: Da reitet einer auf einem mächtigen Elefanten durch die Stadt.

Ein wenig später: Ein reich geschmückter Hochzeitszug bewegt sich singend und tanzend durch das Herz Neu-Delhis, voran eine Marschkapelle in dunkelroter Phantasieuniform, die eine Mischung aus englischer Marschmusik und New-Orleans-Jazz spielt und doch unverwechselbar indisch klingt. Der Bräutigam vollgefressen und hochmütig auf einem Schimmel, herausgeputzt im neuen Smoking. Am  Wegrand eine abgemagerte Frau in unbeschreiblichen Lumpen, links und rechts von ihre zwei kleine, genauso zerlumpte Kinder, die mit großaufgerissenen Augen diesen reichen Spuk anstaunen. Verblüffende Beobachtung: Ich spürte bei diesen Ärmsten der Armen keinen Neid auf das zur Schau gestellte Protzentum. Das ist wohl wie kostenloses Kino für sie.

Ein Bettler kommt auf mich zu, hält mir flehend sein offenbar krankes Baby entgegen. Automatisch lange ich in die Tasche und gebe ihm ein paar Paise. Ich werde ihn jeden Abend treffen, wenn ich hier vorbeikomme. Und am letzten Tag vor meiner Abreise aus Delhi werde ich merken, daß er da kein Kind mit sich herumschleppt, sondern eine Holzpuppe.

Ich ging einen ganzen Tag spazieren, bis zum Qutab-Minar, diesem einundsiebzig Meter hohen Turm aus leuchtend orange-rotem Sandstein. Unten an der Basis ist er mit wunderschönen arabischen Schriftzeichen verziert, Suren aus dem Koran. Ein paar Schritt weiter die berühmte eiserne Säule, die nicht rostet; schon im vierten Jahrhundert n. Chr. wußte irgend jemand um das Geheimnis des nicht oxydierenden Stahls, lange ehe man es bei uns (wieder) entdeckte.

Auf dem Rückweg in die Stadt sehe ich am Straßenrand auf einer Wiese eine Brahmanenfamilie, die dort, versammelt um ein üppig gedecktes Tischtuch, picknickt. Sie schwatzen und fressen mit fetttropfenden Fingern und nehmen nicht die geringste Notiz von der ausgemergelten Gestalt, die verhungernd nur wenige Meter neben ihnen im Straßengraben liegt – was geht einen Brahmanen schon ein  Kastenloser an? Die Grenzen der Kaste sind die Grenzen der sozialen Welt – und ich sehe mich außerstande zu helfen.

Am nächsten Morgen will ich mit dem Zug nach Agra fahren, zum Tadsch Mahal. In der Nähe des Bahnhofes fallen mir auf der Straße  kleine graue Pakete auf. Sie sehen aus wie in durchscheinende Plastik gehüllte. Was ich zunächst nicht wahrhaben will, wird dann doch zur Gewißheit: Es sind Leichen. So als habe sie jemand bewußt dort aufgereiht, liegen sie in regelmäßigen Abständen mitten auf der Fahrbahn. Sie sind von einem Lastwagen gefallen, der mindestens noch fünfzig weitere dieser schauerlichen `Güter‘ befördert. Andere Möglichkeit. Vielleicht hat man dort wirklich die Toten der Nacht „aufgebahrt“ und nun werden sie eingesammelt.

Im Zug lese ich eine englischsprachige einheimische Tageszeitung.  Auf der dritten Seite diese Geschichte: Ein Straßenkehrer, offensichtlich gut bezahlt, hat seinen Besen einem  weniger glücklichen Bewerber um diese Stellung weitervermietet, welcher Teilhaber nichts Besseres zu tun wußte, als – offenbar ebenfalls noch reichlich besoldet – den Besen an einen Dritten zu  verpachten; der fegte schließlich die Straße. Leben und leben lassen… Man jagt nicht hinter großen Reichtümern her, sondern ist froh, wenn man gerade von einem Tag in den nächsten kommt.

Reich kann hier ohnehin kaum jemand werden – ein gelernter Maurer, der Tag für Tag auf diesen lebensgefährlichen Bambusgerüsten herumturnt (mit denen sogar Hochhäuser gebaut werden), verdient, wenn es hoch kommt, zwei bis drei Rupien am Tag, das sind umgerechnet sechzig bis neunzig Pfennige.

Aber es gibt noch eine andere riesengroße Gruppe Menschen, die auch ihren `Beruf´ haben und dennoch schon zu den sogenannten Randexistenzen zählen. Sie sind noch keine Bettler, sondern sie leben wirklich von ihrer eigenen Hände Arbeit. Aber wie die steinzeitlichen Jäger und Sammler leben sie von der Hand in den Mund: das winzige `Kapital‘ von ein oder zwei Rupien, das sie haben, reicht gerade aus, ein wenig Kerosin für ihr Öfchen und die allernötigsten Rohstoffe für ihr Gewerbe einzukaufen. Wovon sie eigentlich leben, ist rätselhaft. Ich denke da an eine uralte Frau, die vor dem YMCA-Hotel Tag für Tag vor ihrer Schale mit gerösteten Erdnüssen kauerte, die sie in kleinen Papiertütchen für zehn oder fünfzehn Paise (drei bis vier Pfennige) feilbot. Wie viele dieser kleinen Tütchen mußte sie wohl loswerden, um am Ende dieses Arbeitstages neue Erdnüsse einkaufen zu können, die sie dann am nächsten Morgen wieder rösten, einpacken und mit ihrer krächzenden, kaum verständlichen Stimme anpreisen würde?

Auch die immer freundlichen Schuhputzer-Jungen, die Wasserverkäufer und viele andere muß man zu diesen Mini-Existenzen zählen, die in unseren Augen erbärmlich sein mögen, die aber für viele Millionen Inder dem Leben einen Sinn und Zweck geben. Wie die Regierung jemals auch nur die primitivsten Bedürfnisse dieser ständig weiterwachsenden Menschenflut befriedigen will, entzieht sich jeder Kenntnis. Die makabre inoffizielle Regierungsdoktrin hat mir ein Angehöriger der Deutschen Botschaft in einem Satz formuliert: „Indien kann den Anschluß an die westliche Zivilisation mit 300 Millionen Menschen schaffen -„

Was mit der anderen Hälfte der Bevölkerung geschehen würde (was er nicht aussprach), das läßt sich mit ein wenig Phantasie unschwer ausmalen. Sie werden fast alle auf der Strecke bleiben, durch Hunger oder Krankheit oder auch durch einen der gelegentlich aufflackernden religiösen oder politischen Konflikte.

Einhundertfünfundreißig Kilometer südlich von Delhi liegt Agra – nein, man muß wohl sagen. Agra liegt am Tadsch Mahal.
Dieses Grabmal aus weißem Marmor, geschmückt mit unzähligen Halbedelsteinen, ist der Touristenmagnet Indiens schlechthin, der dem Land die dringend benötigten Devisen bringt. Eine schöne Frau, Favoritin des Harems, stirbt bei der Geburt ihres achtzehnten Kindes. Shah Jahan, ihr Ehemann und Gebieter, ist so untröstlich über ihren Verlust, daß er ihr diesen Totenpalast baut – war sie ihm doch nicht nur Liebesgespielin und `Gebärmaschine‘, sondern zugleich erste Ratgeberin.

Wie Nofretete von Ägypten ist sie ein frühes Beispiel weiblicher Emanzipation. Vor allem die Moslem-Frauen verehren sie wie eine Heilige und pilgern in einer endlosen Kette an ihrem schlichten Sarkophag in diesem engen, stickigen Kellergewölbe des Grabmals vorbei. Als ich auf die hintere Terrasse des Gebäudes trete und hinunter zum Jumna-Fluß schaue, sehe ich dort auf einer kleinen Insel eine männliche Leiche liegen, an der eine Hyäne herumzerrt, dahinter in gebührendem Abstand zwei Geier.

Kontraste? Vielleicht sind sie nicht immer so kraß wie der kostbare Tadsch Mahal mit der namenlosen Leiche im Fluß dahinter.  Aber es gibt unzählige andere Gegensätze, die dieses Land so faszinierend und abstoßend zugleich machen.

Wie aus einem Fellini-Film

Benares, von den Indern Varanasi genannt. Morgens früh um fünf hinunter zum Ganges, auf dem schwerer Nebel liegt. Platz nehmen in einem Ruderbott. Szenen wie aus einem Fellini-Film: ein einsamer stummer Stier auf den leeren Treppen der Ghats in der Morgendämmerung; japanische Touristen, behängt mit Kameras und Mullbinden vor Mund und Nase, beobachten eine Leichenverbrennung;  ich mache die Augen auf und die Seele zu und werde doch ein halbes Jahr später von dieser Szene träumen.

In Bhubaneshwar soll es in den Jahren zwischen 750 und 125 n. Chr.  ungefähr siebentausend Tempel gegeben haben; über hundert sind noch heute intakt, und von vierhundert weiteren kann man die Überreste studieren. Diese Tempel sind wie Stein gewordene überdimensionale fremdartige Pflanzen, übersät mit phantastischen Steinschnitzereien. Das Innere ist eine winzige Zelle, vielleicht so groß wie ein Badezimmer, die schier erdrückt  wird von den darauf lastenden Gesteinsmassen. Im Halbdunkel eine bezaubernde Skulptur Shivas mit seiner Gemahlin Shakti, einander mit inniger Zärtlichkeit zugewandt; etwas verwittert schon der Sandstein, aber immer noch magische Kräfte aussendend. Jetzt wäre Zeit und Ruhe, ein wenig zu meditieren.

Doch da treten einige weißgekleidete Männer auf mich zu, die sich als Diener des Heiligtums ausgeben und die Hand aufhalten, „for the temple, Sir, some Rupies, please -„.

Kopfschüttelnd gehe ich ins Freie und unterdrücke eine böse Bemerkung. (Aber wer ist hier „böse“?)

Auf der Rückseite des Tempels sitzt in einer kleinen Nische, gut zwei Meter über dem Boden, ein kleines Mädchen mit Zöpfen und einem rasofarbenen Kleidchen. Sie ruht da im Lotus-Sitz, die Finger beider Hände in der typischen Meditationshaltung auf die Knie gelegt. Vielleicht spielt sie nur, aber in diesem Augenblick  verstehe ich ein wenig, warum man soviel von der indischen Geistigkeit spricht.

Einige Hunder Kilometer weiter südlich, in Madras, habe ich dann wieder so ein Stück Geistigkeit gefunden, bei einer Tanzveranstaltung: „Die zehn Inkarnationen Vishnus“. Die neunzehnjährige Tänzerin, unbestreitbar eine Spitzenkönnerin,  stellt sich nach der Vorstellung zu den begleitenden Musikern und läßt sich vom Priester segnen.

Fragezeichen zu Auroville

Ich war auch in Pondicherrry und Auroville. Ich weiß nicht, ob es wirklich sehr sinnvoll ist, in diesem verhungernden Land einem goldverkleideten Tempel zu bauen, die riesige Kugel der Matri Mandir in Auroville zu Ehren der `Mutter‘, der geistigen Gefährtin Sri Aurobindos. Ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist, inmitten eines Dschungels eine künstliche Stadt für 50.000  Menschen aus dem Boden zu stampfen, deren Gebäude den brutalen westlichen Betonstil der 50er Jahre nachahmen…
Imponiert haben mir die Milchfarm und die üppig wuchernde Plantage, aus der sich der Ashram im acht Kilometer entfernten Pondicherry weitgehend selbst versorgt. Und sehr beeindruckt war ich auch von der Lebensgemeinschaft der Aurobindo-Jünger, von denen etwa 2000 hier in fünfzig über die ehemalige französische Kolonie verteilten Gebäuden an den Grundlagen einer neuen Weltkultur arbeiten.

Was mir in diesem sehr weltlichen `Kloster‘ (so wird Ashram gerne  übersetzt) am besten gefallen hat, war die enge Verbundenheit der Mitglieder. Der oberste Manager, der seit Aurobindos Tod die Gemeinschaft leitet, reiht sich in dieselbe, Hunderte von Menschen lange Schlange ein wie der ausgeflippte Hippie und ißt dieselbe schlichte Mahlzeit für drei Rupien: Ein `Thali‘ mit Reis, scharf gewürztem Gemüse und köstlichen Joghurt. Aber am „Samadhi“, dem wunderschönen Grabmal Aurobindos aus weißem Marmor, scheiden sich dann doch deutlich die Geister: Die Verehrung der Inder ist sichtbar echt, kommt aus dem Herzen – die  der Europäer und Amerikaner wirkt unecht, aufgesetzt, vom Kopf kommend, löst ein peinliches Gefühl in mir aus, treibt mich weg von dieser Weihestätte.

Ganz anders die Erfahrung in den letzten Tagen, kurz vor dem Rückflug. Wieder in Delhi angelangt, gerate ich durch Zufall in eine Gruppe indischer Pilger und Touristen (die Trennung ist kaum  vollziehbar), die nach Rishikesh und Hardwar am Oberlauf des Ganges fahren. Es ist bitterkalt im Bus, der durch die stockfinstere Nacht rast, und ich bin froh, daß ich in meinem Schlafsack sitzen und ein wenig dösen kann. Nur zwei Mitreisende sprechen englisch, ein Ehepaar aus Assam, zu dem ich näheren Kontakt bekomme. Sie erklären mir ein wenig, was wir am folgenden Tag besichtigen: Tempel, Tempel, Tempel, für tausendundeine Gottheit. Es geht sehr geschäftsmäßig zu, aus dem Morgennebel taucht immer noch ein verschlafener, kahlrasierter Priester auf, schlägt die Tempelglocke an, murmelt Gebete.

Ich trotte mit. Und merke, wie mich allmählich eine Ruhe überkommt, die ich während der ganzen Reise insgeheim gesucht habe. Jetzt, wo ich das Suchen aufgegeben habe, kommt die Gelassenheit endlich. Und ich beginne ein wenig zu verstehen, warum soviel das Wort Spiritualität benutzt wird, wenn von Indien die Rede ist. In den – meist scheußlichen – Tempeln konnte ich sie nicht entdecken, auch nicht in den hastig zelebrierten Ritualen. Aber diese Menschen sind einfach entspannt, gesammelt, bei sich, „leben aus der Mitte“. Natürlich gibt es in den Großstädten denselben Typ gehetzter, gestreßter Technokraten wie bei uns und überall heute in der Welt. Aber das Gros der Menschen, denen ich in diesem Land begegnete, hat sich davon noch  nicht anstecken lassen.

Mein beeindruckendstes Erlebnis? Da dreht sich ein Sadhu im Kreis, tanzt wild und ausgelassen, schreit irgend etwas – offenbar ein Verrückter. Er sieht malerisch aus, in diesem leuchtend roten Gewand, mit diesem wirren langen Haar. Ich will ihn fotografieren – da bedeutet mir einer der umstehenden Inder unmißverständlich: Bitte nicht knipsen. Der Sadhu mag verrückt sein – aber er wird beschützt. Bei uns hätte man ihn wahrscheinlich längst in eine Nervenheilanstalt gesteckt und mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Hier darf er mitten unter den anderen Menschen leben.

Beschämt packe ich meine Kamera weg. Spiritualität findet sich in der wunderbaren indischen Musik, im Tanz, in der „Bhagavad gita“,  im Meeres-Tempel von Mahabilipuram; aber dort ist es immer eine sehr raffinierte, hochgezüchtete, kultivierte Geistigkeit, die unserer westlichen eng verwandt ist, mögen auch die Formen und Inhalte unterschiedlich sein. Aber hier in Indien haben die Menschen das Geistige noch lebendig, und zwar deutlich spürbar, in sich selbst.

Der Sog wurde zum Anstoß

Als ich im Flugzeug sitze, rasen noch einmal die Erlebnisse durch  meinen Kopf, und ich fühle hinter dem bunten Wirbel meine Zerrissenheit. Einerseits bin ich froh, diesem unsäglichen Elend, diesen Leichen auf den Straßen, diesen leprösen Bettlern entronnen zu sein. Andrerseits wird da eine große Sehnsucht nach dieser Zufriedenheit, auch und gerade bei den – für unsere Begriffe – so entsetzlich Benachteiligten wach. Ich möchte um nichts in der Welt mit ihnen tauschen, und ich wünsche ihnen ein menschenwürdigeres Dasein. Und doch: Als der Jumbo-Jet brüllend von der Piste abhebt, dringt über meine Kopfhörer eine Raga, und ein mächtiger Sog erfaßt mich.

Noch ein paar Monate länger – ob ich dann noch zurückgekommen wäre – nach München?

Ich weiß, daß meine Sehnsucht völlig irrational ist. Ich kann kann kein Inder werden, will es auch nicht. Ich muß mich damit begnügen, daß da etwas in mir angerührt wurde, was ich vorher nicht kannte.

Vorletzte Erinnerung: In der Nähe von Bombay, den unglaublichen Gestank der Slums noch in der Nase, gehe ich zu Fuß durch menschenleere Dörfer. Ein alter Mann, mit malerischen Turban, begegnet mir. Er bittet mich, ein Foto von ihm zu machen. Als ich ihm dann nicht gleich das fertige Portrait präsentieren kann (er weiß wohl, was eine Polaroid ist), reagiert  er bitter enttäuscht und geht böse weiter. Keine Verständigung ist möglich, nicht nur weil wir keine gemeinsame Sprache sprechen, sondern weil er auf einem anderen Planeten lebt als ich.

Ich bin froh, daß es in Indien auch solche Begegnungen gab, die dem Sog entgegenwirkten, die einen Stachel ins Gedächtnis drückten.

Das Erlebnis, bei dem ich mich am meisten geschämt habe? Ein Schuster flickte in Bombay meine Schuhe. Seine `Werkstatt‘ ist ein Stück Zeitung, auf dem er einige Nägel, etwas Schusterzwirn, zwei Cremedosen, zwei Bürsten, eine Ahle und noch ein paar andere  kostbare Untensilien säuberlich geordnet ausgebreitet hat. Er macht seine Arbeit ausgezeichnet. Was ich schuldig sei? Ein Student aus der gegenüberliegenden Universität dolmetscht: eine Rupie – viel zu viel! Ich bezahle etwas unwillig, will nicht als „reicher Onkel aus Deutschland“ ausgenützt werden. Er nimmt das Geldstück zögernd entgegen, dann bittet er um ein Trinkgeld. Ich schüttle nur stirnrunzelnd meinen Kopf; er habe ja bekommen, was ihm zustehe. Dreißig Pfennige, umgerechnet, für zwanzig Minuten Arbeit, ein fürstlicher Lohn für indische Verhältnisse. Er sieht mich so seltsam an, als ich weitergehe, nicht traurig, nicht enttäuscht – von beidem etwas und doch freundlich. Ich gehe weiter, vergesse ihn. Zwei Bettelkinder springen mit strahlendem Lachen auf mich zu, ein kleiner Junge und ein bildschönes Mädchen, vielleicht acht Jahre alt. Ich knipse sie und schenke ihnen zum Dank für ihr lachen eine Rupie.

Ich gehe noch ein paar hundert Meter weiter, ins weltberühmte Hotel „Tadsch Mahal“. Ich genieße die gepflegte, luxuriöse Atmosphäre, lasse mich von den Dienern verwöhnen, bestelle ein `Thali‘ mit zehn Schüsselchen voller orientalischer Köstlichkeiten, hinterher Safran-Eis, das allein eine Reise nach Indien wert ist.

Als ich die Rechnung, fast fünfzig Rupien, bezahle, langsam die Banknoten auf den Tisch blättere, treibt still das Bild des Schusters durch mein Bewußtsein. Und ich schäme mich.

ENDE

 Indien – ein Nachtrag 1985

Ich sitze auf dem Sofa im Wohnzimmer und lese meinen Beitrag über die Reise nach Indien. Ziemlich am Schluß den Absatz schreibe ich von dem „verrückten“ Sadhu, den ich nicht fotografierte, weil man mir bedeutete, daß das nicht richtig wäre.

Ich lese, die Szene ersteht wieder vor meinem Inneren Auge. Und plötzlich schüttelt es mich und Tränen brechen hervor. Da ist mir wirklich etwas ganz Wesentliches widerfahren, damals, 1975/76 in Indien: das geduldige Ertragen des Unerträglichen und zugleich Unerklärlichen. Die Ver-rücktheit des anderen Menschen gleich neben mir. Das Nichtverstehen.

Dann sehe ich den Stuhl aus der Küche. Er steht, vor meiner Nase, in der Badewanne, wurde wenige Minuten zuvor von Ruth und mir abgeduscht, weil Jonas das Glas mit dem Honig auf ihn gekippt hatte. Ich sehe den Stuhl in der Badewanne und der absurde Anblick schüttelt mich vor Lachen.

Dann trete ich gewissermaßen aus mir heraus. Sehe mich da auf dem dem Rand der Badewanne sitzen. Sehe mich weinen, weil mich ein Artikel und ein Erlebnis von vor fast einem Jahrzehnt so aufgewühlt haben. Und sehe mich gleich darauf angesichts eines frischgeduschten Küchenstuhls in der Badewanne vor Erheiterung ausschütten.

Ich sehe einen Verrückten. Ich sehe mich.

Und ich werde mir bewußt, daß ich Jonas eben nicht ausgeschimpft habe, als er den Honig auf den Stuhl kippte. Und ich begreife, daß das eine mit dem anderen zu tun hat: die Duldsamkeit der Inder damals gegenüber dem tanzenden und schreienden Sadhu und meine eigene Duldsamkeit gegenüber Jonas. Das habe ich nicht im Elternhaus gelernt. Sondern damals in Indien.

Quelle
Scheidt: Jürgen vom: „Dreißig Tage auf einem fremden Planeten“. In: Westermanns Monatshefte Mai 1977

181_ aut #172 _ 2021-04-21/19:39

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