Bürger erfahren sich selbst

(Diesen Beitrag schrieb ich 1978 für Westermanns Monatshefte. Ich skizzierte darin, ohne dass ich das damals wissen konnte, so etwas wie die Ursuppe, aus der zwei Jahre später die Partei Die Grünen entstand.
1967 war so etwas wie ein Urknall die „Aktion Roter Punkt“ in Hannover, veranstaltet von der Außerparlamentarischen Opposition (APO) – zwei Jahre später tauchte der Begriff „Bürgerinitiative“ auf. Wenn man so will, hat also der aktuelle Erfolg der Partei Die Grünen eine Vorlauf zeit von 54 Jahren – das entspricht ungefähr zwei Generationen.
Ich habe die damalige Version der Rechtschreibung nicht modernisiert – es handelt sich um ein Zeitdokument.)

Aus der Bürgerinitiativ-Bewegung der 1970er Jahre entstanden: Die Partei der Grünen (Archiv JvS)

Zur psychosozialen Seite der Bürgerinitiativen

(Vorspann der Redaktion:)

Bürgerinitiativen sind nicht immer militant, sondern viel häufiger Aktionsgruppen, die sich ein Ziel gesetzt haben und entsprechende Gruppenerfahrungen durchmachen. Das kann für den einzelnen positive Folgen haben, Selbstwertgefühl und Kontaktsicherheit steigern, doch Differenzen innerhalb der Gruppe bleiben ebenfalls selten aus. Über einen psychosozialen Verstärkungseffekt berichtet nun … Jürgen vom Scheidt, der mit solchen Gruppen Selbsterfahrungskurse gemacht hat. Sein Fazit: Bürgerinitiativen können echte seelische Stabilisierung leisten.

Am Vorabend hatten wir uns mit einer kleinen Meditationsübung schon ein wenig kennengelernt: die 15 Männer und Frauen der Bürgerinitiative und ich, der Gruppenleiter. Bei diesem warming up war es darum gegangen, in Gedanken, bei geschlossenen Augen, noch einmal zurückzugehen zu dem Moment, wo jeder sich entschlossen hatte, an diesem Wochenende teilzunehmen. Es zeigen sich unbestimmte Erwartungen an dieses Selbsterfahrungs- und Kontakt-Training. Unerledigte Probleme persönlicher Art, aber auch Schwierigkeiten beim Umgang mit den anderen in der Initiativgruppe, die zu rasch gewachsen ist. Reibereien und Mißverständnisse, Ehrgeiz, Neid; Kontaktschwierigkeiten zwischen dem selbstbewußten Vorstand und einigen der Mitglieder, zwischen der alten Kerngruppe und den im Laufe der Jahre neu Hinzugestoßenen, die ihren Platz noch nicht so recht gefunden haben. Dies alles wird bereits sichtbar, wenngleich nur angedeutet in den wenigen Sätzen, die jeder von sich gibt, aber immerhin:

Bürger erfahren sich selbst

Da liegt schon ein dickes Bündel von Problemen auf dem Teppich, auf dem wir im Kreis hocken. Nur ein Thema wird von allen hartnäckig vermieden: dieser ominöse Ort, an dem alle in ihrer Freizeit viele Stunden verbringen: das Nervenkrankenhaus am Rand der Großstadt mit seinen Patienten, die der eigentliche Grund dafür sind, daß sie sich überhaupt zusammengeschlossen haben und jetzt hierher kamen, um sich und ihre Motive für diese Arbeit als Laientherapeuten etwas besser verstehen zu lernen.

Am nächsten Morgen beginnen wir mit einer nichtverbalen Übung, immer zwei und zwei. Einer ist passiv und steht locker da, der Partner massiert mit kräftigen Schlägen der flachen Hände den Rücken des Passiven. Einige Minuten ist nur das rhythmische Geräusch zu hören; dann kurzer Austausch des Erlebten und Wechsel: der vorher Passive wird nun aktiv. Wir führen die Übung in zwei Schritten durch: „Sucht euch zunächst jemanden, der euch im Augenblick sehr sympathisch ist, und versucht, ihm mit euren Händen eure Sympathie mitzuteilen, mit Nachdruck, aber auch einfühlsam.“ Dann Wechsel der Partner mit der Anweisung: „Sucht euch jetzt jemanden, mit dem ihr zur Zeit nicht so gut könnt, mit dem ihr vielleicht ein Hühnchen zu rupfen habt.. .“

Die Rücken werden jetzt entsprechend kräftiger bearbeitet. Wie sich im anschließenden Gruppengespräch zeigt, sind eine Menge wichtiger Kontakte in Gang gekommen, die vorher eher vermieden worden waren. Vor allem kann eine Diskussion wieder belebt werden, die am Vorabend begann und dann abbrach: Zwei Angehörige der Gruppe möchten für ihre Diplomarbeiten ein Soziogramm der Initiative anfertigen, aber man hat keine Lust zu solcher „wissenschaftlichen Arbeit“.

Wie sich im späteren Verlauf des Wochenendes noch zeigen sollte, steckte dahinter ein tiefergehender Konflikt zwischen verschiedenen Gruppeninteressen, die man als „eher theoretisch-wissenschaftlich“ und als „eher praktisch-arbeitsorientiert“ kennzeichnen könnte.

Per, ein besonders engagiertes Mitglied, hat in der Nacht geträumt. Da für mein Empfinden ein zentraler Konflikt der ganzen Gruppe, aber auch bestimmte Ängste der einzelnen, in dem Traum deutlich zutage treten, schlage ich vor, daß alle zusammen den Traum spielen. Zunächst erzählt Per seinen Traum noch einmal, in der Gegenwartsform, damit die Situation möglichst aktuell ist:
„Ich bin in einem Haus, in dem ich mich gut beschützt fühle. Dann verlasse ich das Haus; draußen begegne ich einem überlebensgroßen Reh. Es ist überraschend freundlich – aber dann wird es plötzlich aggressiv, ich bekomme Angst, das Reh stößt mich zu Boden, verletzt mich. Ich suche Hilfe bei den Leuten im Haus, aber die kommen nicht, irgendwie gelange ich dann doch noch ins Haus… Später gehe ich noch einmal hinaus, aber da verfolgen mich jetzt drei sehr aggressive Rehe, eines rennt im Hundertkilometertempo hinter mir her, irgendwie erreiche ich wieder das Haus…“

Die meisten machen mit, suchen sich ein Detail des Traumes aus: ein Reh, einen Busch; mehrere zusammen formen das schützende Haus; zwei spielen seine Bewohner, die nicht zur Hilfe kommen.

Jeder erlebt ein Stück von sich selbst, während das Traumspiel sich entfaltet. Per selbst wird auf sehr dramatische Weise ein alter Konflikt bewußt, etwas sehr Persönliches. Bei der anschließenden Besprechung zeigt sich wieder, daß nur mir, dem Außenstehenden, sich in dem Geschehen noch etwas ganz anderes offenbart hat. Es ist sonst nicht meine Art, auf psychoanalytische Weise Deutungen zu geben, aber hier, habe ich das Gefühl, ist es einmal am Platz:
Dieses überdimensionale Reh, das erst so friedlich ist und dann feindselig wird, verhält sich genauso, wie wenn es tollwütig wäre – oder verrückt. Und mit Verrückten haben es diese Laientherapeuten ja dauernd im Nervenkrankenhaus zu tun. Ob sich in diesem Traum nicht auch etwas von den unbewußten Ängsten gegenüber diesen Geisteskranken ausdrückt, die Per gewissermaßen stellvertretend für die ganze Gruppe geträumt hat, über seinen ganz privaten Anteil hinaus?

Meine Deutung stößt zunächst auf wenig Verständnis; nur der Mann, der dieses tollwütige Reh dargestellt hat, kann etwas damit anfangen.

Jeder ist sich selbst der nächste

Diese Reaktion der Gruppe ist, glaube ich, typisch für das, was passiert, wenn eine Bürgerinitiative, die schon längere Zeit an einem Projekt zusammenarbeitet, wie im geschilderten Fall in Selbsterfahrung einsteigt. Es sind dann wohl auch, und zwar sehr massiv, die gruppeninternen Konflikte zu erkennen, aber im Vordergrund steht zunächst das Interesse daran, etwas über sich selbst zu erfahren, an sich selbst zu arbeiten.

An jenem Wochenende konnte beides natürlich nur in winzigen Schritten vorangebracht werden, wie stets bei solchen Unternehmungen – aber immerhin passierten diese Schritte. Bei der Nachbesprechung vierzehn Tage später zeigte sich dann, daß neue Probleme sichtbar wurden, weil nur die Hälfte des Teams an dem Wochenende teilnehmen konnte und die übrigen Initiativmitglieder sich schwer taten, jenen Gruppenprozeß der anderen Hälfte auch nur annähernd nachzuvollziehen. Vor allem war ihnen suspekt, daß einzelne da „nur an sich selbst gearbeitet“ haben könnten und die Interessen der Gesamtgruppe hintanstellten.

Eine Beobachtung von Annedore Schultze, die im Rahmen des „Westfälischen Kooperations Modells (WKM)“ im Herforder Gebiet seit Jahren mit einer großen Zahl solcher Bürgerinitiativen mit Eltern-orientierten Projekten gearbeitet hat, unterstreicht dieses Problem „Eigeninteresse versus Gruppeninteresse“ noch:
„Wer da wirklich in Selbsterfahrung einsteigt, der fällt für die Initiativarbeit zunächst einmal aus.“
Aber, und dies ist ebenso wichtig:
„Wenn er (oder sie) nach vielleicht drei Jahren wieder in die Initiativarbeit zurückkehrt, dann tut er dies mit besseren persönlichen Voraussetzungen.“

Es würde zu weit führen, diese Thematik näher auszuloten. Ich habe sie deshalb an den Anfang gestellt, weil sie für mich das zentrale Problem – und vor allem die Hauptchance -wahrscheinlich jeder Bürgerinitiative veranschaulicht: Die Männer und Frauen, die sich da für oder gegen ein bestimmtes Projekt zusammenschließen, haben neben diesem rationalen Interesse und einem bewundernswerten sozialen Engagement unterschwellig (und meist sehr tief im Unbewußten versteckt) höchst persönliche Bedürfnisse, deren Befriedigung sie von der Teilnahme an und der Arbeit in der Gruppe erhoffen: Kontakte und Gespräche mit anderen Menschen führen, frische Beziehungen anknüpfen, auf lebendige und anschauliche Weise etwas Neues lernen, etwas sozial Sinnvolles tun und die Erfolge unmittelbar miterleben.

In diesem Sinne sind Bürgerinitiativen, neben und hinter all ihren anderen Zielsetzungen, in hohem Maße auch Orte, wo gruppendynamische Prozesse und persönliche Bedürfnisspannung wichtige emotionale und rationale Reifungsprozesse in Gang setzen können. So verstanden, ist das geradezu buschfeuerartige Entstehen dieser Initiativgruppen überall in der Bundesrepublik in den letzten Jahren ein Beweis dafür, daß der Verdruß des Staatsbürgers an der erstarrten Mechanik der Bürokratien und Verbände, der Parteien und Kirchen umgeschlagen ist in psychosoziale Selbsthilfe. Die Tausende von Bürgergruppen sind keineswegs nur – wie es von parteipolitischen Kreisen gerne hingestellt wird – politische Unmutsäußerungen, sondern höchst natürliche Reaktionen einer lebensfähigen, gesunden Gesellschaft gegen die lebensfeindliche Verkrustung durch die mächtigen Apparate dieser anonymen, im günstigsten Falle menschenindifferenten Institutionen.

Es sei an dieser Stelle ganz nachdrücklich angemerkt, daß ich Bürgerinitiativen – wie bisher der Eindruck entstehen könnte – keineswegs als Sammelplätze für Leute mit besonderen seelischen Schwierigkeiten betrachte, die dort eine Art Therapie-Ersatz suchen. Ganz im Gegenteil: Ich habe selten Menschen getroffen, die – im Sinne sozialer Verantwortung und altruistischem Engagement – weniger neurotisch waren als der Durchschnittsbürger. Ich sehe es darüber hinaus als ein Zeichen besonderer seelischer Gesundheit an, daß sie an jenen psychosozialen Schwierigkeiten, die wohl jeder Mensch hat, arbeiten, um dann ihre Tätigkeit in der Initiativgruppe um so erfolgreicher gestalten zu können. Daß dabei auch für die eigene Persönlichkeit etwas herausspringt, im Sinne psychischer und sozialer Reifung, ist keineswegs ein Nachteil.

Eltern, Kinder und Lehrer

Ganz anders war eine Veranstaltung mit Teilnehmern, die sich die Verbesserung bzw. Veränderung der Schule zum Ziel gesetzt hatten: Eltern samt Kindern und Lehrern arbeiteten ein Wochenende lang über Projektunterricht u. a. streng themenorientiert, also mit wenig Selbsterfahrong. Wieder anders verlaufen die Gesprächsrunden von Angehörigen der unterschiedlichsten Bürgerinitiativen aus dem Münchner Raum: Die einen arbeiten mit behinderten Kindern, die anderen an der Abschaffung des Numerus clausus an der Universität, wieder andere mit Ausländerkindern. Sie alle sprechen über ihre Erfahrungen und Schwierigkeiten und geben sich gegenseitig Anregungen.

Es begann mit einem „Roten Punkt“

Begonnen hat wohl alles mit der APO, der Außenparlamentarischen Opposition zu Beginn der sechziger Jahre, die „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“ rufend in den Straßen der Universitätsstädte gegen den Vietnam-Krieg demonstrierte, dann aber sehr rasch erkannte, daß es näherliegende Ziele gab. So formierte sich aus Kreisen der APO die „Aktion Roter Punkt“, mit der 1967 in Hannover gegen die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel demonstriert wurde. Diese spontan entstandenen Protestgruppen erregten (nicht zuletzt durch ihren zeitweiligen Erfolg in Sachen Fahrpreis-Stop) bundesweit Aufmerksamkeit. Zwei Jahre später tauchte auch die Bezeichnung „Bürgerinitiative“ auf. Das Wort ist also noch keine zehn Jahre alt. Aber was hat sich in diesem Zeitraum nicht alles getan an „Initiativen der Bürger“!

Alles in allem sind, nach einer Schätzung des Infas-Institutes, seit 1969 im Bundesgebiet zwischen 15.000 und 30.000 Bürgerinitiativen tätig gewesen [Stand: Jahr 1978], sowohl lauthals gegen Kernkraftwerke protestierende als auch weniger auffällige. Derzeit dürften gleichzeitig etwa 3.000 oder 4.000 von ihnen arbeiten, wobei man die Zahl der aktiven Mitarbeiter auf 120.000 schätzt und ihre Sympathisanten auf eineinhalb Millionen. Über solche Zahlen kann und wird man streiten. Gewiß ist jedoch eines: Daß sich da nahezu über Nacht im ehemals politisch so abstinenten Deutschland eine beachtliche politisch aktive Kraft formiert hat. Es ist ganz sicher keine Kraft, die in eine einzige Richtung zielt – deshalb sind Warnungen von Parteileuten und Sozialwissenschaftlern vor einer drohenden „Vierten Gewalt“ (nach Legislative, Exekutive und Judikative, den drei im Grundgesetz festgelegten Staatsgewalten) zur Zeit verfrüht.

Ganz anders als mit den lautstarken Kraftwerksgegnern verhält es sich mit jenen Initiativ-Gruppen, die ihre Arbeit weniger sichtbar und hörbar für die breitere Öffentlichkeit verrichten. Diemuth Schnetz von der Stiftung „Die Mitarbeit“ (die sich die Unterstützung von Initiativgruppen dieser „stillen“ Art zur Aufgabe gemacht hat) schätzt, daß nur etwa jede zweite Gruppe den Protest-Initiativen im Bereich des Umweltschutzes zuzurechnen ist. Gut die Hälfte hingegen widmet sich Aufgaben im psychosozialen Bereich, wo zum Teil gewaltige Versorgungslücken vorliegen.
Ein Beispiel: 1968 entschloß sich in Fürstenfeldbruck bei München eine Hausfrau (Mutter einer gesunden Tochter), Familien mit behinderten Kindern zu helfen. Die Behörden gaben ihr die Auskunft, daß es im Landkreis kaum solche Familien gäbe. Aber sie stöberte in einem halben Jahr etwa hundert (!) betroffene Familien auf, die bis dahin untereinander weder Kontakt hatten noch von anderer Seite therapeutische Förderung erfuhren.

Mit einigen anderen Eltern gründete diese Frau die „Kinderhilfe Fürstenfeldbruck“, die inzwischen 65 behinderte Kinder teilstationär behandelt und weitere 200 fördert; vier Kleinbusse transportieren die Kinder, die Eltern werden regelmäßig psychologisch beraten.

Obwohl sie „keine Voraussetzungen“ für eine solche Tätigkeit mitbrachte und keine der offiziellen Organisationen ihr aufgrund dieses Mangels eine leitende Stelle, wahrscheinlich nicht einmal eine untergeordnete Position anvertraut hätte, leitet die heute 46jährige Frau hauptverantwortlich dieses Behandlungszentrum mit 29 festen Mitarbeitern und einem Jahreshaushalt von anderthalb Millionen Mark. All dies hat sie in acht Jahren in ehrenamtlicher Tätigkeit aufgebaut.

Mehrarbeit, die allen dient

Ein Einzelfall? Keineswegs. Eine Initiatorenbefragung der Stiftung „Die Mitarbeit“ hat ergeben, daß einzelne Personen bis zu 10.000 Arbeitsstunden und mehr und Gruppen bis über 35.000 Arbeitsstunden in ihre Initiativarbeit investieren, und zwar kostenlos, in der Regel zusätzlich zu normaler beruflicher und häuslicher Tätigkeit.

Multipliziert man dies mit den vorher genannten Zahlen, so läßt sich leicht errechnen, daß hier von engagierten Bürgern Leistungen erbracht werden, die Beträge in Milliardenhöhe ausmachen.

In ihrer Studie „Bürgerinitiativen im sozialen Raum“ nennt Frau Schnetz vier Merkmale solcher Initiativen:

1. Hohe persönliche Motivation der Mitglieder, die eine wahrscheinlich angeborene soziale Begabung und brach liegende Fähigkeiten und Kenntnisse angesichts greifbarer Mißstände in zielgerichtete Aktivität umformt; meist beginnt die Tätigkeit im kleinen Kreis infolge persönlichen Betroffenseins, und der theoretische Hintergrund wird erst im Laufe der Arbeit nachgeholt (also genau umgekehrt, wie beispielsweise an den Universitäten wo man erst großes theoretisches Wissen erwirbt, das dann in einem zweiten Prozeß praktisch erprobt wird).

2. Soziotherapeutische Wirkung der Initiativarbeit. Darunter ist zu verstehen, daß das Engagement für soziale Mißstände in Zusammenarbeit mit anderen (Teamwork) nicht nur bei der Beseitigung dieser Mißstände hilft, sondern auch persönliche Probleme der Initiatoren löst, zum Beispiel Kontaktschwäche und andere „neurotische“ Defizite.

3. Soziale Mängel werden thematisiert, das heißt, daß die unmittelbar Betroffenen nicht länger warten, bis irgend jemand anders „von oben her“ eingreift, sondern sie fühlen sich in zunehmendem Maße selbst verantwortlich. Solches ,Flüggewerden‘ des einstmals eher passiven ,Stimmvolks´ bereitet gerade bedrängten Behörden (die um Auskunft oder Abstellen von Mängeln ersucht werden) nicht wenig Kopfzerbrechen – aber es ist zugleich ein Signal dafür, daß diese Bürger wirklich mündig werden und ein reiferes Verständnis von Demokratie zu entwickeln beginnen.

4. Die Beteiligten erzielen einen hohen Lerngewinn: „Wer sich persönlich in einer Bürgerinitiative einsetzt, bleibt nicht, der er war. Er durchläuft einen Lernprozeß, der wirksamer ist als mancher sozialpädagogische oder politische Unterricht.“

Bisher hat es in der westlichen Zivilisation drei breitenwirksame Versuche gegeben, dem einzelnen zu Selbstverwirklichung und seelischer (was immer auch heißt: sozialer) Gesundheit zu verhelfen.
° Der erste und bis vor kurzem erfolgreichste Versuch war das Angebot der Religion. Es hat inzwischen für viele Menschen seine umfassende Verbindlichkeit, damit aber auch seine Schutzfunktion und Heilkraft verloren.
° An seine Stelle trat um die Jahrhundertwende die Psychoanalyse, die freilich nicht nur für die meisten unerschwinglich teuer und zudem enorm zeitraubend ist, sondern auch die neurotische Abspaltung von sozialen Beziehungen – und damit von sozialer Verantwortlichkeit – manchmal eher noch fördert als heilt.
° Der dritte Versuch sind, in unseren Tagen gerade erst entstanden, die Selbsterfahrungs-Gruppen, hervorgegangen aus der Gruppentherapie und insofern ein direkter Ableger der Psychoanalyse.

Aber während es sich bei diesen Gruppen, ungeachtet ihrer großen Verdienste, immer noch um ,Oasen´ im Getriebe des Alltags mit seiner sinkenden Lebensqualität handelt, haben die Bürgerinitiativen von vorneherein einen unschätzbaren Vorteil: Sie entstehen mitten in diesem Alltag und sind von Anfang an auf ein ganz konkretes Ziel ausgerichtet, das die Initiatoren gemeinschaftlich angehen: eben den jeweiligen sozialen Mißstand.

Eine Lösung für psychische Störungen?

Gewiß, die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative ist kein Patentrezept für seelisch Gestörte und Gehemmte, sie ist auch ganz sicher kein Ersatz für Psychotherapie und Selbsterfahrung in einer Gruppe unter kompetenter Leitung. Aber die jeder kleinen Gruppe innewohnende Tendenz zur Heilung gerade sozialer Schäden sollte nicht vernachlässigt werden. Neue Erfahrungen zeigen, daß es viel fruchtbarer sein könnte, mit Menschen zu arbeiten, die ohnehin seit geraumer Zeit „am selben Strang ziehen“ und von daher positiv motiviert werden, als mit einer nur kurze Zeit versammelten Gruppe, die nach der Selbsterfahrung in alle Winde zerstreut wird. Sicher eignet sich nicht jede Bürgerinitiative für solche zusätzliche tiefenpsychologische und gruppendynamische Trainingsarbeit. Unverzichtbar ist sie allerdings in jenen Fällen, wo eine Initiative von Stagnation oder gar Zerfall bedroht ist, weil ihre Mitglieder zum Beispiel übersehen, daß ganz typische Gruppeneffekte das ganze soziale Engagement zunichte machen können. Die bereits erwähnte Stiftung „Die Mitarbeit“ hat sich hier schon große Verdienste erworben, indem sie Initiatoren Seminare und Kommunikations-Trainings vermittelten, wo solche Mißhelligkeiten und unter der Oberfläche schwelende Kompetenzkonflikte durchgearbeitet werden können. Freilich müßte der Jahresetat der Stiftung und ihr Mitarbeiterbestand wahrscheinlich mindestens hundertmal so groß sei wie derzeit, um wirklich in größerem Umfang Hilfe leisten zu können.

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: „Bürger erfahren sich selbst. Zur psychosozialen Seite der Bürgerinitiativen“. Braunschweig Juni 1978 – Westermanns Monatshefte S. 100-106.

182_ aut #612 _ 2021-04-22/09:34

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