Vorsicht! Haikuritis wirkt ansteckend…

... und kann dein Leben verändern. Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal ein eigenes Haiku geschrieben habe. Vorformen finden sich in meinen ersten Gehversuchen im geheimnisvollen Land der Lyrik – der manchmal eher einem Dschungel ohne klare Wege ähnelt – oder einem Labyrinth? Einem Irrgarten?

Meine erste Bekanntschaft mit diesen dreizeiligen Mikro-Gedichten, die so typisch sind für die japanische Kultur, machte ich 1958 in einem Insel-Büchlein mit dem schönen geheimnisvollen Titel: Vollmond und Zikadenklänge. Es war ein Geschenk zu meinem 18. Geburtstag (von wem? vielleicht von Inge Sallaba?) Ich war von diesem minimalistischen Versen sofort verzaubert. Das Buch, das ich daneben abbilde, ist eine kluge Einführung einer japanischen Kennerin dieser Lyrikform.

Eine der ersten deutschen Anthologien mit Haiku – rechts die Einführung in diese Kunst von Teiko Inahata (Archiv JvS)

Erste eigene Versuche beachteten noch nicht das strenge Silbenmaß „5 – 7 – 5“, sondern hielten sich nur an die dreizeilige Struktur und die konzentrierte Aussage. Ich gebe die Originalfassung als Faksimile wieder:

Drei Haiku vom 30. Juni 1963 (Archiv: JvS)

Als ich 1979 mit Schreib-Seminaren begann, kam mir irgendwann die Idee, auch mal Gedichte schreiben zu lassen. Die strenge und zugleich so einfache Form bot sich an. (Einfach sehen sie nur aus – leicht sind sie nicht zu schreiben!)
Ich schickte die TeilnehmerInnen ins Freie und ließ sie Eindrücke sammeln, die sie zu Dreizeilern montierten und immer weiter zurechtstutzten, bis nicht nur die Silbenzahl stimmte, sondern auch der Inhalt gut rüberkam.
In einem der Seminare, die ich im „Haus Buchenried“ in Leoni jedes Jahr für die Volkshochschule München durchführte, passierte nun im Sommer 1989 etwas mit eindrucksvollen Spätfolgen. Das Thema des fünftägigen Kurses lautete „Traum-Theater“. Es ging tatsächlich darum, aus Träumen der TeilnehmerInnen einen gemeinsamen Traum als Theaterszene zu entwickeln. Wir fertigten dazu Gipsmasken an, bemalten sie und übten diese Szene auch ein (wer nicht mitspielen wollte, konnte am Rand als „Publikum“ mitmachen).
Im Rahmen dieser fünf Tage schickte ich alle auch mal zum Sammeln von Eindrücken in die Umgebung am Starnberger See, um daraus Haiku zu entwickeln, gewissermaßen als „Beifang“ zu Träumen und Theaterszene. Eine Apothekerin war von dieser japanischen Kunstform so angetan, dass sie nicht nur weiter Haiku schrieb und Mitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft wurde, sondern Japanisch lernte (um in der Originalsprache zu dichten, die ja als Silbenschrift viel geeigneter für Haiku ist) und zu Veranstaltungen nach Japan fuhr, wo Haiku in den Tageszeitung so normal sind wie bei uns Kreuzworträtsel und Sudoku. Sie erzählte mir das einmal anlässlich eines Vortrags, den – von ihr eingeladen – ihr japanischer Haiku-Meister in München hielt: „Das hast du damals in Leoni bei mir ausgelöst.“

Ist das nicht eine schöne Geschichte? Ich will versuchen, sie in einem Haiku zu fassen:

Zauber der Silben
Fünf – sieben – fünf – drei Zeilen
Fasse es, wer kann

Aller Anfang ist leicht – wenn man ihn erreicht

„Wo ist die Party?“ James Dean hätte diese Pose auch nicht besser hinbekommen – das Rauchen war nur Übergangsritual (Archiv JvS 1959)

Mein allererstes Gedicht schrieb ich am 04. Januar 1959 (vermutlich unglücklich verliebt) und das ging so, deutlich inspiriert vom Blues:

Der Spätzug fuhr mit Gehämmer
In die große Ebene ein.
Er schreckte das erste Dämmer
Und wieder brach Nacht herein.


Eine Nacht, die schon lange dauert,
Keinen Mond hat und keine Sterne,
Eine Nacht, die voll Tücke lauert
Ohne Grenzen, in alle Ferne ..
.

Das ist doch für einen jungen Anfänger nicht schlecht, und deshalb habe ich es aufbewahrt und bringe es hier zu Ehren – schon als Ermutigung aus der Zukunft an Mich-damals-1959: Mach weiter. Es lohnt sich. Und wirf niemals etwas weg, was einigermaßen Qualität hat. Du könntest es nämlich irgendwann brauchen – vielleicht wie hier in einem Blog – 62 Jahre später.
Zugleich ein Tipp für Schreiber, die dies lesen: Baut euch ein Archiv auf und organisiert es so gut, dass er etwas wirklich darin wiederfindet, wenn ihr es später mal sucht – wie ein „allererstes eigenes Gedicht aus dem Jahr 1959“. Das dazu passende Foto s. oben.

Wer bei diesem düsteren Gedicht an „Mystery Train“ von Elvis Presley denkt, liegt vermutlich richtig; es ist einer der wenigen frühen Songs dieses SchnulzenSchmalzDackels, die ich als Teenager wirklich gern gehört habe (obwohl ich seine Musik ansonsten grauenvoll fand – aber die Mädchen mochten ihn bei den Partys – was kann man da schon machen).

(— Forts. folgt)

Quellen
Coudenhove, Gerolf (Hrsg. und Übersetzer): Vollmond und Zikadenklänge. Gütersloh 1955 (C. Bertelsmann).
Inahata, Teiko: Erste Haiku-Schritte – eine Fibel. (Tokio, ca. 1985). München 1956 (Haiku-Verlag Günther Klinge).

aut #550 _ 01. März 2021 / 19:21

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