°Der Archivar der Zukunft 1

Seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn ich Ihnen hier nur den Anfang dieser Kurzgeschichte anbiete – gewissermaßen als Appetithappen. Aber den Rest der Geschichte finden Sie in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau (Enttäuscht? Dann schaue Sie bitte an den Schluss dieses Beitrags!). Und so fängt sie an:

Dr. Hieronymos Pigertaber betrat das Archiv, wie jeden Morgen. Es war sein Archiv. Für sich hatte er es eingerichtet, vor vielen Jahren. Nur für sich, ganz seinen Neigungen und Interessen folgend. Eine Zeit lang war er verheiratet gewesen, hatte drei oder vier Kinder gehabt (er wußte das nicht mehr so genau, es war schon einige Jahrgänge der Süddeutschen Zeitung und anderer Journale her, die er auswertete). Aber Frau und Kinder hatten ihn irgendwann verlassen, und er war – nach anfänglicher Bestürzung über das plötzliche Alleinsein – mehr und mehr froh darüber, sich ganz der Fütterung und Dressur seines Archivs widmen zu können. 

Ja, so nannte er es bei sich: Fütterung und Dressur. Das Archiv war in den Jahrzehnten zu einer Art Zoo geworden. Jedes der Themen, für die er Material, nein: Nahrung sammelte, war einer Tiergattung zugeordnet. Da gab es zum Beispiel die gefährlichen Themen: Unfallgefahren, Aids und andere schreckliche Krankheiten, Erdbeben, Terrorismus, Krieg und Revolution. All das eben, wovor er Angst hatte.

Die Hängemappen, in denen er solches säuberlich signiert, datiert und auf weiße DIN A 4-Blätter aufgeklebt verwahrtee, trugen nicht nur kleine weiße Schildchen in durchsichtigen Plastikreitern, auf denen „Atombombe” und „Tsunami” und „Amoklauf” und „Kriminalität” stand – nein: Sie trugen auch noch eine heimliche Bezeichnung, die nirgends notiert war, eine Bezeichnung, die nur sein Gehirn kannte.

Terrorismus zum Beispiel, das war der Tiger. Und wenn er eine schreckliche Meldung über die weitere Eskalation des Kokainmissbrauchs in den USA oder in der Bundesrepublik fand, dann fütterte er damit den Weißen Hai. Berichte über die Mafia landeten bei den Kobras, eine bewaffnete Invasion von PLO-Freischärlern in Israel oder von israelischen Soldaten im Libanon war Leibspeise der Elefanten

Machten die Sowjets etwas Schreckliches in Afghanistan oder die Briten auf den Falkland-Inseln oder die Amerikaner im Irak, so warteten bereits die Wale auf ihr Futter. Noch größere Tiere gab es nicht in seinem Zoo. (Die gab es nur in seiner Phantasie – und wie es sie dort gab!)

Dafür gab es jede Menge kleinere Tiere. Zum Beispiel die Piranhas! Das waren zum Beispiel Autofahrer, die betrunken kleine Kinder oder alte Leute an Zebrastreifen und in 30-Kilometer-Zonen überfuhren. Eines seiner Lieblingstiere, unablässig mit Kohlblättern gefüttert, war die Napfschnecke. In der mit ihrem Namen versehenen Hängemappe wurde alles archiviert, was Politiker Bemerkenswertes von sich gaben und entschieden, vor allem aber die Fettnäpfchen-Akrobatik eines ehemaligen Bundeskanzlers. 

An dem Morgen, als Dr. Hieronymos Pigertaber zum tausendsten Mal die „Papierwüsten“ betrat (wie er das Archiv in einem Anflug von sarkastischer Selbstkritik auch schon mal nannte), da war etwas anders geworden. Er hatte einen Auftrag bekommen. Ein „Institut für Zukunftsberatung“, von dem er noch nie zuvor etwas gehört hatte, machte ihm ein Angebot. Er wußte nicht, wie sie ausgerechnet auf ihn gestoßen waren unter all den vielen möglichen Archivaren. 

„Institut für Zukunftsberatung“, murmelte er selbstvergessen, „noch nie davon gehört.”

(Neugierig geworden, wie es weitergeht? Die Fortsetzung finden Sie meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau – München 2005, Allitera-Verlag. Als Paperback und als E-Book jederzeit lieferbar.

Aber ich will nicht gemein sein und Sie in Kosten stürzen. Weil sie so brav meiner Erzählung bis hierher gefolgt sind, finden Sie den zweiten Teil der Geschichte auch gleich hier im Blog: Archivar der Zukunft (Forts.)

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